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Rubrik unterwegs

Unterwegs auf Berliner Friedhöfen

Von Margot Papenheim

Wo immer ich zuhause oder im Urlaub war – Friedhöfe hab ich gern angeschaut. Wenn auch nicht so ausdauernd wie in den letzten Monaten, bei meinen coronakonformen sonntäglichen Spaziergängen mit meiner Tochter. Da waren Friedhöfe ein perfektes Ziel, zumal für uns als Zugezogene, Berlin noch Lernende. Manchmal gibt’s da sogar was zu lachen, über den stattlichen Schneemann zum Beispiel. Hübsch mittig platziert auf dem breiten Weg zwischen zwei Gräberfeldern, wo ihm die Sonne stundenlang auf den Bauch scheint. Als wir ihn nachmittags treffen, ist er schon deutlich vornüber in sich zusammengesackt – ein Sinnbild der Vergänglichkeit allen Seins der etwas anderen Art.

Foto: Margot Papenheim

Aber auch ohne Schneemänner haben die Berliner Friedhöfe viel zu erzählen. Wer sie besucht, durchläuft buchstäblich Geschichte und Gegenwart dieser Stadt.

Auf dem Parkfriedhof Marzahn: die Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Entlang der Gräber der 3000 Soldaten der Roten Armee, die beim Kampf um Berlin gefallen sind. Vor den Gräbern der zwanzig polnischen Mädchen und Frauen, die beim Luftangriff der Alliierten 1943 im Wedding ums Leben kamen. Zwischen 14 und 21 Jahre als waren sie da. Am Gedenkstein für hunderte Sinti und Roma, die ab Mai 1936 im Zwangslager Marzahn eingesperrt und „rassehygienischen Untersuchungen“ ausgesetzt waren. Im Frühjahr 1943 wurden die meisten von ihnen nach Auschwitz deportiert, nur wenige überlebten.

Große Kapitel Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung – und auch Selbstverständnis der DDR. Wir lesen darin im Vorbeigehen und gelegentlichen Innehalten auf dem Sozialistenfriedhof in Friedrichsfelde. An der 1952 errichteten Gedenkstätte der Sozialisten gleich am Eingang, bis heute Ziel der jährlichen Januar-Demonstrationen mit Tausenden von Teilnehmer:innen, die an die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Januar 1919 erinnern. An dem 2006 eingeweihten „Gedenkstein für die Opfer des Stalinismus“ gleich nebenan, kleiner als ein Kopfkissen mit seinen 40 mal 60 Zentimetern. An dem Einzelgrab, auf dessen Stein neben dem Namen des Toten und seinem Geburts- und Sterbedatum, da, wo „bei uns“ ein Kreuz stünde, ein rotes Dreieck mit vier blauen Streifen ist. Es erzählt uns davon, dass hier ein Verfolgter des Nationalsozialismus ruht, der im „Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“ zuhause war. An der Gedenkstele für das von Mies van der Rohe entworfene, 1926 eingeweihte Revolutionsmonument, das das NS-Regime 1935 niederreißen ließ. An dem Bereich mit den Gräbern zahlreicher Künstler:innen, darunter Käthe Kollwitz.

Sozialgeschichte, ebenfalls auf Schritt und Tritt gegenwärtig. „Im Tod sind alle gleich“? Von wegen. Auf der einen Seite, entlang der Mauer des Friedhofs I der Georgen-Parochialgemeinde im Prenzlauer Berg die imposanten Gruften reicher Familien, meist Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts angelegt. Auf der anderen drei Begräbnisfelder aus den vergangenen vier, fünf Jahren, ungefähr in der Größe der Familiengruften. Auf jedem der Felder in fünf Reihen 35 Urnen bestattet, sieben in einer Reihe. Am Kopf des Feldes eine große Platte, darauf, angeordnet wie auf den Feldern eines Schachbretts, Name und Sterbejahr der Bestatteten. Für mehr reichte der Platz auch nicht. Das Geld der Verstorbenen und ihrer Angehörigen auch nicht?

Mich, aufgewachsen in einem 2000-Seelen-Dorf mit seinen, nun ja, übersichtlichen sozialen und familiären Strukturen irritiert zunächst, dass manche sich innerhalb ihrer Communities bestatten lassen. So finden wir auf dem Georgenfriedhof ein eigenes Begräbnisfeld nur für lesbische Frauen. Und Gräber, die nicht von den Hinterbliebenen, sondern von den Communities der Verstorbenen gestaltet werden. Staunend stehen wir vor einer unscheinbaren, nicht fest umgrenzten kleinen Begräbnisstätte auf einer Wiese. Fotos und Zettel offenbaren: Hier ruht einer, der in seinem Motorradclub zuhause war. An einen Zweig des Baums, der über das kleine Feld ragt, haben seine Freund:innen eine lange Reihe bunter Bänder gehängt, in deren Enden sie jeweils einen kleinen Stein gebunden haben. Über die Jahre mitgebracht von ihren Touren – und dann hier hingehängt, um (sich) an ihren Toten zu erinnern? Wir wissen es nicht, spüren aber das Liebevolle in der Geste. Ein zartes Zeichen, das so gar nicht zu dem hier erinnerten „harten Kerl“ zu passen scheint. Nachdenkend wird mir klar, welche Vorurteile den ersten Blick trübten. Und: Was wäre daran verwunderlich, dass Menschen sich noch im Tod in ihre Lebensgemeinschaften „einkuscheln“, um nicht auf immer und ewig in diesem Moloch von einer Stadt verloren zu gehen? Gerade im Tod, wenn die Frage – wieder – wichtig wird: Wo, bei wem bin ich zuhause?

Das Kapitel Migrationsgeschichte öffnet sich uns auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee. Fast überall sieht er so aus, wie alle anderen jüdischen Friedhöfe, die ich in Deutschland und anderen europäischen Ländern besucht habe, auch. Große, repräsentative Familiengruften, aufwendig im künstlerischen Stil und Geschmack ihrer Entstehungszeit gestaltet. Doppelgräber von Ehepaaren, Einzelgräber, deren Inschriften und Gestaltungselemente auffallend oft an den erfolgreich ausgeübten Beruf der oder, öfter, des Verstorbenen erinnern. Etwa die in einer Nische des weißen Granitsteins sich windende Bronzeschlange, die an den 1911 zu Berlin verstorbenen Max Jaffe erinnert, DR MED PROFESSOR ORD AN DER UNIVERSITAET KOENIGSBERG GEH MEDIZINRAT. Neue Grabsteine und, schier zahllos, alte, vollständig verwitterte, umgefallene, von Efeu überwucherte. Stein gewordenes Zeugnis des jüdischen Glaubens, dass die Toten auf ewig in ihren Gräber ruhen dürfen, dass ihre Grabstätten nicht nach 20, 30 Jahren „Liegezeit“ abgeräumt und neu genutzt werden.

Auf einer Lichtung des Friedhofswaldes ändert sich schlagartig das Bild. Ein großes Rasenfeld mit einer noch kleinen Gruppe frischer Gräber. Auf den Gräbern Blumen, echt oder aus Plastik, sehr bunt jedenfalls, Grabkerzen. Und Grabsteine, auf denen wir, außer dem eingravierten Davidstern und den Geburts- und Sterbedaten, nichts lesen können. Die Inschriften sind in kyrillischer Schrift. Natürlich! Hier sind Jüdinnen und Juden bestattet, die in den 1990er Jahren als „Kontingentflüchtlinge“ aus der Sowjetunion nach Deutschland kamen.

Auch hier ist die Frage unüberhörbar: Wo bin ich wirklich zuhause? Oft verborgen in der anderen Frage: Wo – und wie – möchte ich am Ende bestattet werden? Mir geht durch den Kopf, was muslimische Freund:innen mir erzählt haben. Wie ungeheuer wichtig es ihren Eltern und Großeltern war, „in der Heimat“ bestattet zu werden, auch wenn sie schon seit Jahrzehnten und über zwei, drei Generationen in Deutschland zuhause waren. Der Traum, nach einigen Jahren harter Arbeit mit genug verdientem Geld zurückzugehen, um sich dort eine Existenz aufzubauen, war längst ausgeträumt. Die Sehnsucht, im Tod nach Hause zu kommen, lebendig. Angesichts der jüdischen Gräber mit den kyrillischen Inschriften fragen wir uns: Wo und wie in dieser Stadt bestatten eigentlich all die anderen Gruppen von Migrant:innen ihre Toten? Dieser Frage müssen wir unbedingt bald auch noch nachgehen.

Bestattungs- und Friedhofskultur im Wandel der Zeit: Vor 150 Jahren wurden neue Friedhöfe außerhalb der damaligen Stadtgrenzen Berlins angelegt, weil bei den wachsenden Bevölkerungszahlen auf den alten der Platz knapp wurde. Längst geht der Trend in die andere Richtung, auch wegen der sich ändernden Bestattungskultur. Immer mehr Menschen wünschen Urnenbestattung, zunehmend auch nicht in individuellen Urnengräbern, sondern in Urnenfeldern. Immer mehr Menschen leben als Singles. Kinder und die Enkelkinder ziehen mehrfach in ihrem Leben um, da wird Grabpflege zum Problem. Das Folge-Problem haben Friedhofsbetreiber:innen. Was tun mit den freiwerdenden, nicht mehr benötigten Flächen? In Friedrichsfelde haben sie Urnen rund um einige Bäume herum bestattet. Die Kreisform haben die Friedhofsgärtner:innen auf das freie Feld gleich nebenan übertragen. Große Steinkreise liegen dort, großzügig auf der Rasenfläche verteilt – ein irritierender Anblick, denken wir doch bei „Friedhof“ automatisch in Rechtecken. Im Inneren der Kreise sind reihum je zwölf Menschen bestattet, die Namen stehen auf einem großen Stein in der Mitte. Eine Mischform aus anonym und individuell.

Und auch das sehen wir, ausgerechnet auf einem kirchlichen Friedhof: das Überschreiten der Grenze zwischen Kultur und Nicht-Kultur. Während wir uns noch über das Problem mit den zu groß gewordenen Friedhofsflächen unterhalten, landen wir auf dem Georgenfriedhof bei einem niedrigen Zäunchen aus Weidengeflecht, das eine der Friedhofsecken abtrennt. Eine überschaubare Fläche, 50 x 50 Meter vielleicht. Eine kleine Tafel informiert uns, dass dieser Friedhofsbereich von der Grünen Liga betrieben wird, dem Netzwerk Ökologischer Bewegungen Landesverband Berlin. Und dass wir hier etwas über naturnahe Pflege von Grabstätten lernen können – und über die Tiere, die da heimisch sind. Gegenüber, in den Gruften an der alten Friedhofsmauer, eine Reihe leuchtend bunt gestrichener Bienenkästen. Ein Naturlehrpfad auf einem nicht mehr benötigten Friedhofsgelände? Warum auch nicht? Und Bienen haben schließlich in allen Religionen eine große symbolische Bedeutung. Wir Christ:innen etwa singen in jeder Osternacht ihr Lob.

Foto: Margot Papenheim

Unser Verständnis endet schlagartig an der nächsten Ecke des Zäunchens. „Tomate sucht Gießkanne“, informiert uns eine weitere Tafel. Hat sich hier jemand einen geschmacklosen Scherz erlaubt? Der erste Gedanke verfliegt, sobald der Blick an den in Gräberreih und Glied gesetzten Hochbeeten entlang geht. Kappes und Rosenkohl, Tomaten und Küchenkräuter auf Gräbern? Wir versuchen, das Unbehagen wegzulästern. Das ist eben Berlin, sagt meine Tochter, Gentrifizierung ohne Grenzen. Optimale Lösung, wenn eine:r sich die Radieschen erstmal von oben anschauen will. Freier Blick vom Wohnzimmer in den eigenen Schrebergarten, fällt mir als passender Werbeslogan ein. Allemal komfortabler, zeit- und umweltsparender, als ständig zwischen Prenzlauer Berg und Tempelhofer Feld zu pendeln. Aber es funktioniert nicht, das Lachen bleibt uns im Hals stecken. Schau mal, da drüben: eine Jurte, recht stabil aus einigen Bohnenstangen und einer wetterfesten blauen Plastikplane gebaut! Mitten zwischen deutlich erkennbaren Grabumrandungen, umgeben von umgefallenen oder schräg hängenden Grabsteinen, die einfach stehen und liegen gelassen wurden. Nun ja, die aufgeweckten Kleinen müssen ja auch sinnvoll und naturnah beschäftigt werden, während die Großen schrebergärtnern. Leichter Gruseleffekt erwünscht inbegriffen?

Foto: Margot Papenheim

Endgültig zieht es mir die Schuhe aus, als wir, an die Ecke der alten Friedhofsmauer, vor der Familiengruft stehen, die die Gräberreihe mit den Bienenkästen abschließt. Sie ist gut erhalten, bis 1970 hat die Familie hier ihre Toten begraben. „Wer treu geschafft / Bis ihm die Kraft gebricht / Und liebend stirbt / Ach! den vergisst man nicht“, verspricht ihnen die Inschrift ehren- und liebevolles Gedenken. Tja, dumm gelaufen, geliebte Tante, Nichte, Mutter. Nicht zu groß, gut genug gebaut, dass keine herabfallenden Mörtel- oder Marmorteile drohen, schön authentisch dekoriert mit originalen Inschriften, Säulen und Mäuerchen, und idealerweise im Windschatten der hohen Mauern – was läge näher, als es sich hier gemütlich zu machen? Ein kleiner runder Gartentisch, darauf zusammengeknüllte Kuchentüten, Butterbrotpapiere und eine leere Bio-Apfelsafttüte, und drei abgemackelte, aber offenbar noch tragfähige Gartenstühle und die leere Bierflasche auf dem Mäuerchen der Gruft zeugen davon, dass die eine oder der andere sich das auch gedacht haben muss. Noch ein Grill, eine frische Kiste Bier und ein paar Grad plus, dann kann die nächste Party steigen.

Langsam finde ich, alte Wörter probierend, die Sprache wieder. Pietätlos? Schamlos? Einfach ungehörig? Ja, aber das allein ist es nicht. Ich denke, fühle eher, dass hier eine Grenze überschritten wurde. Eine Grenze, die ausnahmslos alle Kulturen und Religionen dieser Welt respektieren und – mittels unterschiedlichster Rituale – ziehen: die Trennung der Welt der Lebenden von der Welt der Toten. Warum nicht hier? Aus Dummheit? Aus Gefühllosigkeit? Aus Verrohung? Ich verstehe es nicht. Aber der Anblick trifft mich ins Mark, umso mehr, als dies der bislang einzige Friedhof Berlins ist, auf dem ich, mit den Angehörigen trauernd, vor einem offenen Grab gestanden habe. Es wühlt und regt mich auf, treibt mich auch jetzt, Wochen später, immer noch zwischen hellem Zorn und tiefer Traurigkeit hin und her.

Ich weiß nicht, wer dafür „zuständig“ wäre. Die Kirchengemeinde, die den Friedhof betreibt? Die Grüne Liga, die das Feld gepachtet hat? Es ist mir auch herzlich egal, viel mehr beschäftigt mich ein anderer Gedanke. Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass es in Japan heißen soll: „Den kulturellen Stand eines Volkes kannst du daran erkennen, wie sie mit ihren Toten umgehen.“ Oder so ähnlich, ich finde das Zitat nicht mehr wieder. Aber es ist auch nicht wichtig, wo und wie genau die Erkenntnis formuliert wurde. Wichtig ist, dass sie stimmt. Und was dieses Friedhof-Bild über uns, über unsere Gesellschaft und ja, unsere Kultur, verrät.

Trotzdem. Auch wenn Berlin uns hier unerwartet eine Seite gezeigt hat, auf deren Kennenlernen wir gerne verzichtet hätten: Es ist bereichernd, sich der eigenen Stadt oder anderen Städten, Regionen, Ländern, Religionen und Weltanschauungen über Besuche auf ihren Friedhöfen zu nähern. Neben etwas festerem Schuhwerk braucht es dazu nur Neugier auf Fremdes, manchmal dazu Offenheit für Befremdliches. Und Freude daran, im Fremden Vertrautes zu entdecken. Manchmal gerade in dem, was einer zunächst besonders fremd erscheint.

Autorin: Margot Papenheim
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 03.03.2021
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Dr. Gisela Forster sagt:

    Ein sehr ansprechender Artikel: Friedhöfe sind so wichtig im Leben. Gräber sind eine wunderbare Erinnerung. Lasst uns diese Kultur erhalten. Lasst die Menschen, so wie sie gestorben sind, im ihrem Lieblingsbaumwollgewand in ein Grab legen, also nicht verbrennen, nicht anonym irgendwo hinlegen oder -streuen, nicht irgendwo ablegen, wo sich niemand mehr erinnern kann oder darf.

    Das Verbrennen und Verstreuen ist zwar billiger, aber das Bewahren und Hinlegen ist inniger, zärtlicher und über Jahrhunderte verbindender.

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