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Unsere Gegenwartsinsel finden – Marlen Haushofers “Die Wand” – neu gelesen

Von Malaz Naileh

Zum 101. Geburtstag von Marlen Haushofer – * 11. April 1920

Im vergangenen Jahr –  2020 – hätten gleich zwei Jubiläen Anlass geboten, das Werk Marlen Haushofers zu feiern: Ihr 100. Geburtstag und ihr 50. Todestag. Doch die deutschen und österreichischen Verlage von Marlen Haushofer ließen die Gelegenheit verstreichen. Keine einzige Veranstaltung organisierten sie. Auch eine Werkausgabe der großen österreichischen Schriftstellerin steht noch immer aus. In einem Manifest forderten namhafte Schriftstellerinnen Marlen Haushofer und ihr Werk endlich gebührend zu würdigen: https://stifterhaus.at/fileadmin/user_upload/Downloads/Steyrer_Manifest.pdf  Vor diesem Hintergrund hat mich dieser Artikel von Malaz Naileh (Jahrgang 2001, geboren in Damaskus) besonders gefreut, der zeigt, dass Haushofers Werk auch einer neuen Generation noch viel zu sagen hat.

Jutta Pivecka 

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Malaz Naileh liest Marlen Haushofers „Die Wand“

Im Roman „Die Wand“ von Marlen Haushofer geht es um eine Frau, die mit Bekannten in Urlaub nach Österreich gefahren ist. Sie wollen die Auszeit in einem Jagdhaus in den Bergen verbringen. Eines Morgens wacht die Frau in der Jagdhütte auf und findet sich von einer unsichtbaren, durchsichtigen Wand eingeschlossen, hinter der kein Leben mehr existiert. Die Frau ist am Anfang allein mit dem Hund Luchs, aber im Laufe der Zeit kommen weitere Tiere hinzu. Sie hat eine Katze (die „alte Katze“ genannt wird) und die Kuh Bella. Die alte Katze bringt weitere kleine Katzen auf die Welt und Bella gebiert ein Kalb. Die Lieblingskatzen der Ich-Erzählerin werden Perle und Tiger. Perle ist eine weiße Katze mit blauen Augen und Tiger ist dunkelgrau-schwarz auf rötlichem Untergrund. Doch Perle und Tiger sterben ein paar Monate nach der Geburt. Die Ich-Erzählerin beschreibt im Roman ihren Alltag und ihre Gefühle in der Art eines Berichts. Sie hält den Wunsch fest, dass eines Tages ihr Bericht von einem Menschen gelesen wird. Am Anfang der Isolation fühlt sie starke Angst und ist verwirrt, im Laufe der Zeit gewöhnt sie sich jedoch zunehmend an die Situation. Der Roman hat ein offenes Ende und wir erfahren nicht, was mit der Wand passiert oder wie sie entstanden ist.

Collage von Malaz Naileh

Ich habe Marlen Haushofers 1963 erschienenen Roman zum ersten Mal im Winter 2020 gelesen. Für mich enthält dieser Roman drei wesentliche Botschaften, die mich beschäftigt haben und die meiner Meinung nach auch heute noch Gültigkeit besitzen. Erstens: Das Verhalten eines Menschen ist von seinem Denken abhängig. Dies spiegelt sich im Verhalten der Frau. Am Anfang ist sie pessimistisch und verliert daher die Kontrolle, kann ihre Lage nicht überblicken und reagiert konfus. Erst als sie sich mental beruhigt und beginnt, sich um die Tiere Sorgen zu machen, kann sie ihre Gedanken ordnen und einen Plan fassen. Eine weitere Botschaft des Romans ist, dass jeder Mensch in sich sehr gegensätzliche Eigenschaften vereinen kann, die je nach Lebenssituationen aktiviert werden. Drittens hat der Roman auch gezeigt, dass der Mensch sich verantwortlich für jemand fühlen muss, um zusätzliche Kräften zu mobilisieren. Im Roman ist erkennbar, dass die Tiere das Motiv der Frau waren, um zu arbeiten und einen Überlebensweg zu suchen und zu finden. Die Sorge um andere erweist sich daher in diesem Roman auch als Selbstfürsorge. Denn indem die Frau Verantwortung für die Tiere übernimmt, kann sie auch sich selbst stabilisieren.

An einem Satz aus dem Roman bin ich hängen geblieben: „Ich bedaure die Tiere, und ich bedaure die Menschen, weil sie ungefragt in dieses Leben geworfen werden.“ Ich habe lange überlegt, ob ich uns bedauern muss, aber ich habe mich dagegen entschieden. Ich bedaure uns Menschen nicht, auch wenn wir ungefragt geboren sind. Die meisten von uns leben gern, auch wenn dieses Leben oft schwer ist. Wir freuen uns auf morgen, auch wenn wir heute verletzt werden. Ich denke, dass auch in Marlen Haushofers Roman sich dieser Lebenswille gegen alle Widerstände und allen Schmerz zeigt. Ein anderer Satz, der mich bewegt hat, ist: „Nun, da ich fast nichts mehr besaß, durfte ich in Frieden auf der Bank sitzen und den Sternen zusehen, wie sie auf dem schwarzen Firmament tanzten.“ Mein erster Gedanke, nachdem ich diesen Satz gelesen habe, war: Je mehr wir besitzen, desto mehr beschäftigen wir uns mit unserem Besitz. Der Satz stimmt auch, wenn man sich „viel besitzen/viel haben“ nicht nur auf der materiellen Ebene anschaut, „viel besitzen/viel haben“ kann viel Arbeit, viel Geld, viele Gefühle und Sorgen oder viele Kinder bedeuten. Viel von etwas zu haben, bedeutet viel nachdenken, viel Energie verwenden und Zeit verbringen, um uns um unseren Besitz zu kümmern. Viel von etwas zu haben, bedeutet immer viele Sorgen. Indem die Frau in Haushofers Roman unfreiwillig damit konfrontiert wird, nichts mehr zu besitzen, erfährt sie auch „sorgenfrei“ zu sein. Doch es zeigt sich, dass sie nach kurzer Zeit wieder beginnt, von Dingen und Tieren „Besitz zu ergreifen“, weil das sorgenfreie Leben ganz offenbar unmenschlich ist.

Auf derselben Seite des Romans findet sich der Satz: „Ich begriff, dass alles, was ich bis dahin gedacht und getan hatte, oder fast alles, nur ein Abklatsch gewesen war. Andere Menschen hatten mir vorgedacht und vorgetan.“ Die Aussage umfasst unser ganzes Leben, unsere Gedanken, unsere Gewohnheiten und wie wir die Welt empfinden. Als Beispiel nehme ich die Zeit: Warum zählen wir die Minuten und Stunden des Tages? Warum hat die Woche sieben Tage, nicht acht? Warum hat ein Monat 30 oder 31 Tage, nicht 15? Diese Zahlen, die die Zeit einteilen, werden uns vorgegeben und es wird uns beigebracht, dass sie sehr wichtig sind und wir uns an sie halten müssen. Wir schaffen als Menschen eine eigene Ordnung, die derjenigen der Natur nicht unbedingt entgegensteht, aber doch ganz andere, unsre eigenen Regeln setzt. Das nennen wir Kultur. Kultur entsteht, indem die Menschen einer Gruppe, die zusammen leben, sich gegenseitig nachmachen. Am Anfang ist es ein unkritisches Nachmachen und mit der Zeit passen wir uns auch dann an, wenn wir bestimmte Verhaltensweisen weder verstehen, noch gutheißen. Wir sagen einfach: „Ja, jeder tut es.“. In verschiedenen Kulturen sind manche Verhaltensweisen ohne erkennbaren Grund verboten. Die einzige Antwort, die man in solchen Situationen bekommt, ist: „Es ist eine Tradition bei uns.“. Eine Begründung fehlt. Auch aus solchen Zusammenhängen ist die namenlose Ich-Erzählerin in Haushofers Roman herauskatapultiert.

Der letzte Satz, der mich zum Überlegen gebracht hat, war: „Vergangenheit und Zukunft umspülten eine kleine warme Insel des Jetzt und Hier.“ Ich verstehe das so, dass wir uns auf unsere Gegenwartsinsel fokussieren müssen, um uns nicht in den umgebenden Wassern der Vergangenheit und Zukunft verlieren. Auch dies ist etwas, das die Frau in Marlen Haushofers Roman erst erlernen muss – oder umgekehrt: Sie muss verlernen, die Gegenwart immer wieder zu verlieren, weil sie sich zuviel mit Vergangenheit und Zukunft beschäftigt. So ist es nämlich in ihrem früheren Leben in der Stadt  offenbar gewesen.

Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ versucht meiner Meinung nach eine Antwort auf die Frage zu geben, was ein Mensch ist. Oft sind die Antworten, die man findet, wenn man eine Definition hierfür sucht, rein biologisch: Der Mensch ist ein Säugetier aus der Ordnung der Primaten. Auch in Haushofers Roman wird deutlich, dass der Mensch ein Tier ist: Er besteht aus einem Körper, der Nahrung braucht, um gesund zu bleiben. Aber es zeigt sich gerade in der Einsamkeit, in die die Frau geworfen wird, dass ein Mensch noch mehr ist, nämlich ein Wesen, dass Liebe und Gefühle braucht, dass zur Selbsterhaltung auch die Fürsorge um andere braucht und dass ein Mensch Kultur schafft, selbst in der Einsamkeit, denn die Frau schreibt ihre Gedanken auf und hofft, dass sie einmal gelesen werden.

Ich glaube, dass es kein Zufall ist, dass der Mensch, dem Marlen Haushofer in „Die Wand“ eine Stimme verleiht, eine Frau ist. Die Frau in Haushofers Roman erfährt, dass ihr Leben nur sinnvoll ist, wenn sie sich um die Tiere kümmert. Sie begreift dies im Laufe der Zeit, obwohl sie als eine Frau dargestellt wird, die weiß, dass ein Leben, in dem man sich immer nur um andere kümmert, ein Leben als Hausfrau und Mutter, wie sie es vorher geführt hat, eine Frau auch von sich selbst entfremden kann. Die Trennung von der Familie, die Einsamkeit erfährt die Frau im Roman auch als Befreiung. Trotzdem begreift sie in einem Lernprozess, dass ihre Selbsterhaltung keinen Wert hat, wenn sie ohne Bezug zu anderen bleibt. Sie erhält die Tiere und sie schreibt auf, was sie erlebt. Sie erfährt sich selbst, indem sie Beziehungen eingeht. Fast am Ende des Romans erscheint ein Mann und bringt diese Tiere um, ohne darüber nachzudenken, wieviel Geduld und Arbeit es gekostet hat, diese Tiere am Leben zu erhalten. Der Mann ist bereit, alle und alles zu opfern, um sich selbst zu retten und am Leben zu bleiben. Die Frau jedoch hat verstanden, dass Leben bedeutet, zu lieben und Fürsorge zu übernehmen. Ihr Bestreben geht dabei eben auch über die bloße Selbsterhaltung hinaus: Sie sucht auch nach Schönheit und Glück in den kleinen Erlebnissen und im Schauen der Natur. 

Das Gedankenexperiment,  unser Leben und unsere Gedanken hinter einer durchsichtigen Wand, abgetrennt von allen anderen, einzuschließen, das Marlen Haushofer angestellt hat, ist auch für eine gegenwärtige Leserin ungeheuer lehrreich. Dieser Roman hilft seiner Leserin die Welt und sich selbst neu zu sehen.

Autorin: Malaz Naileh
Redakteurin: Jutta Pivečka
Eingestellt am: 11.04.2021
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Juliane Brumberg sagt:

    Danke für diese gute und systematische Interpretation, die neugierig macht, dieses Buch von Marlen Haushofer, vor dem es mich immer etwa segruselt hat, nun doch endlich zu lesen.

  • Sammelmappe sagt:

    Für mich ist “Die Wand” der Roman. Da ist alles drin. Das Leben. Das Überleben. Das Menschsein. Die Natur. Die Krise. Die Angst. Das Weiterleben.

    Einfach alles.

    Und dazu noch diese wunderbare Sprache. Die Poesie.

    Und der Showdown.

    Danke. Danke. Danke. Für neue Einblicke.
    Ich werde sie noch sehr oft lesen.

  • Regina sagt:

    Ich habe das Buch in den 1990er dreimal gelesen, mit so zwei Kahren Abstand jeweils. Beim ersten Mal habe ich die Wand wortwörtlich genommen, irgendwie als Schicksal von Außen, eine unerklärliche kosmische Begebenheit. Und dann kommt am Schluss noch so ein Mann, der ihre weibliche lebensfähige Ordnung zerstört. Das hat mich fasziniert, was sie insgesamt daraus macht. Beim zweiten Mal hatte ich aufeimmal die Welt einer Frau vor mir, die im Innern in sich selbst gefangen ist und eine psychische Wand durchmacht. Das hat mich depressiv gemacht. Dann habe ich es noch ein drittes Mal gelesen und empfand diese Wand noch mehr als Gefängnis. Hab es dann nicht fertig gelesen. Eine Sache hat mich so mitgenommen, dass ich heute jedes Mal dran denke, wenn ich es tue: einen Zündholz anzünden und an die lebenswichtige Bedeutung des Feuers von denen ja auch ihr Leben abhängt. Seit dem sammle ich Streichholzschachteln wo immer sie in Kneipen so als Werbung rumliegen. Gut gemacht auch der Film mit Martina Gedeck als diese Frau.

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