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Die Politik der Frauen ist Politik

Von Lia Cigarini

Diesen Text schrieb Lia Cigarini als Einführung für eine Redaktionskonferenz der Online-Zeitung „Via Dogana“ des Mailänder Frauenbuchladens im April 2021. Mit ihrer Erlaubnis stellen wir ihre Gedanken auch in diesem Forum zur Diskussion. Übersetzung: Antje Schrupp

Ich will mit drei Zitaten beginnen, die meiner Meinung nach für die Geschichte der Politik der Differenz von grundlegender Bedeutung sind.

Das erste stammt von Carla Lonzi in „Wir pfeifen auf Hegel“ (1970): „Die weibliche Differenz besteht in der jahrtausendelangen Abwesenheit der Frau aus der Geschichte. Machen wir uns diesen Unterschied zunutze: Wenn die Integration der Frau erst einmal erreicht ist, wer weiß, wie viele Jahrtausende nötig sein werden, um dieses neue Joch abzuschütteln?“

Das zweite ist eine Erklärung der Dienstagsgruppe der Arbeitskammer von Brescia aus einem Text, den sie im goldenen Sottosopra „Ein Faden vom Glück“ von 1989 veröffentlicht haben. Ich zitiere: „Es fällt uns schwer zu analysieren, woher unsere Stärke letztendlich kommt. Ihre Quelle ist weiblich, das ist sicher, aber diese Einsicht ist oberflächlich und mittlerweile längst bekannt. Wir stellen keine Ansprüche oder Forderungen an die Gewerkschaft. Sondern wir wollen eine Gewerkschaft von Frauen und Männern sein, eine Gewerkschaft, die die sexuelle Differenz auf allen Ebenen berücksichtigt. Wenn wir zulassen, dass die sexuelle Differenz auf eine bloße mathematische Formel reduziert wird, auf eine gleichmäßige Präsenz der Geschlechter, vergeben wir die Möglichkeit, einen Konflikt auszutragen, der politisch ist.“

Das dritte Zitat schließlich findet sich in der ersten Ausgabe der zweiten Serie der Printzeitung Via Dogana (1991) mit dem Titel „Politik ist die Politik der Frauen“. Ich zitiere: „Jetzt stehen wir vor einer neuen Herausforderung, und zwar der, den Dualismus zu beenden, wonach Frauenpolitik eine Politik sei, die neben jene andere angeblich männliche oder neutrale tritt, und stattdessen eine echte Politik der sexuellen Differenz hervorzubringen.”

Es gibt noch mehr Möglichkeiten, das zu verstehen. Das vorhandene Gebäude aufzuteilen und sich neben den Männern zu deren Bedingungen einzurichten, ist, wie Carla Lonzi geschrieben hat, sicherlich der falsche Weg.

Aber wo liegt der Fehler? Wir haben selbst gesagt: Die Geschlechter sind zwei, die Welt ist eine. Vielleicht lag der Fehler in der Theorie der Partialität. Es war richtig, die Idee der Partialität vorzubringen, um den männlichen Universalismus zu kritisieren, der nicht nur die sexuelle Differenz, sondern auch die Existenz von Frauen als solche auslöschte. Doch dann wurde dieses Konzept der Parteilichkeit auf das Frausein selbst und auf die Frauenpolitik angewendet und diese als etwas Partikulares (im Sinne von Teilbereich der Politik”) dargestellt. Und das ist falsch.

Um es zusammenzufassen: Die Politik der sexuellen Differenz tritt nicht dafür ein, dass Frauen und Männern sich gegenseitig begrenzen. Sondern sie will eine Realität denken und freiheitlich gestalten, in der es sowohl Frauen als auch Männer gibt.

In den vergangenen Jahren, und ich würde sagen verstärkt seit der Krise von 2008, ist viel über den Tod und das Sterben der Politik gesprochen worden.

Ich möchte nachdrücklich betonen, dass es die männliche Politik ist, die sich in einer Krise befindet. Dies auszusprechen, gibt nicht nur den Blick frei auf die Politik der Frauen, sondern auch darauf, wie unzulänglich die Antwort ist, die die Männer bislang auf die Krise gegeben haben. Sie haben es nicht vermocht, sich mit der notwendigen Klarsicht am Konflikt zwischen den Geschlechtern zu beteiligen. Die überwiegende Mehrheit der Männer hat sich stattdessen einem zunehmend ungezügelten Narzissmus verschrieben. Schon seit den 1970er Jahren hat die männliche Politik angefangen, sich aufzulösen, und die ehemals reiche politische Sprache zu verlieren, die Kultur hervorbringt und auf diese Weise auch die Teilnehmer am politischen Diskurs kultiviert. Demgegenüber verweise ich auf den sprachlichen Reichtum der Politik der Differenz, die seit den frühen 1970er Jahren weibliche Narrative geprägt hat. Aus ihr sind Vorschläge und Früchte erwachsen, genauso wie aus den Beziehungen mit Künstlerinnen, Historikerinnen, Wissenschaftlerinnen, kurz gesagt, es fand eine gegenseitige Befruchtung statt.

Mit der politischen Praxis, die wir nach und nach geschaffen haben – zum Beispiel Frauenorte und so weiter – haben wir auch theoretische Einsichten gewonnen. Drei Beispiele: Das erste betrifft die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt. Wir haben verstanden, dass ihre Trennung künstlich ist und dass es trügerisch ist, sich Ziele zu setzen, bevor man sie selbst erprobt hat. Zweitens haben wir verstanden, dass das Begehren im Grunde kein Objekt hat, auf das es gerichtet ist. Das Begehren ist die wichtigste Essenz des Menschen. Das dritte Beispiel betrifft die Gesetze. Es wird oft fälschlicherweise angenommen, Probleme des persönlichen Lebens und der Geschlechterverhältnisse könnten per Gesetz gelöst werden. Aber bei diesen Dingen setzt sich das Gesetz nicht durch. Das Gesetz stiftet keine Wahrheit, im Gegenteil, es stiftet Verwirrung. Dieses Wissen hat eine Grundidee nahegelegt: Man kann Menschen nicht gleichstellen, indem man Gesetze macht, die für alle gleich sind. Das klingt paradox, ist in Wahrheit aber nur die Einsicht in die persönliche Einzigartigkeit aller Menschen.

Nur sehr wenige Männer haben sich mit dem politischen Denken und Handeln von Frauen auseinandergesetzt. Ich nenne nur ein aktuelles Beispiel aus der italienischen Tagespolitik, das deutlich macht, wie taub manche Männer gegenüber einer Politik der Differenz sind: Weil seine Partei keine Frauen für die Ministerämter vorgeschlagen hatte, hat Enrico Letta, Sekretär der PD (Sozialdemokraten), angekündigt, er wolle nun jeweils eine Frau für das Amt des Fraktionspräsidenten und als Unterstaatssekretärin vorschlagen, damit man in Europa nicht wieder mal einen schlechten Eindruck hinterlässt. Auf das Elend dieser Argumentation von Letta hat eine politische Klasse, die offenbar nichts über die Kämpfe der Frauen und den Feminismus weiß (außer Quoten, wenn Posten zu verteilen sind) keinerlei nennenswerte Reaktion gezeigt. Die Frauen der Partei haben sich nur untereinander gestritten.

Während der Pandemie haben viele davon gesprochen, dass ein zivilisatorischer Wandel notwendig sei (auch wenn sie dabei nicht an die Freiheit der Frauen gedacht haben und den Konflikt zwischen den Geschlechtern beiseiteschieben), und zwar aus zwei Gründen: wegen der ökologischen Zerstörung des Planeten Erde und wegen der Ungerechtigkeit bei der Verteilung des Reichtums. Im Wesentlichen kann man sagen, dass der Kapitalismus in technologischer Hinsicht gesiegt hat, dabei jedoch unerträgliche Ungleichheiten geschaffen hat. Ich bin der Ansicht, dass es möglich ist, erste Schritte eines Weges aufzuzeigen, den nur die Politik der Differenz mit ihrer Praxis des Von-sich selbst-Ausgehens und der Beziehungen gehen kann, der aber diejenigen Männer mit einbezieht, die wissen, dass die Männerpolitik und deren Parteien und Institutionen auf der Vorstellung von Identität Beruhen und mit der heutigen Realität nicht in Einklang zu bringen sind.

Schon seit den 1990er Jahren hat sich die Politik der Differenz zu Wort gemeldet und einen zivilisatorischen Wandel gefordert. 1997 schrieb ich in einem Text mit dem Titel „Ein expliziter Konflikt“: „Dieser Zivilisations-Übergang wird von einem Geschlecht vorangetrieben, das unerkannt ist, weil die weibliche Differenz außerhalb der gängigen Interpretationskategorien steht. … Die Gleichheit definiert ein Feld von Werten und Zielen, die erreicht werden sollen: Gleichheit in Bezug auf Gehalt, Karriere, Rechte usw. Die Differenz hingegen nicht. Sie gibt nur Hebel an die Hand, mit deren Hilfe sich die symbolische Ordnung verstehen und brechen lässt: das Von-sich-selbst-Ausgehen und die Politik der Beziehungen anstelle von Organisation und Repräsentation. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Differenz, obwohl sie eine tiefgreifende Erfahrung jeder Frau ist, sich ihrer Erfassung und Interpretation entzieht. Ich glaube, das liegt an einer Zurückhaltung, sie anzunehmen und in der Welt zum Zirkulieren zu bringen, aus ihr eine politische und nicht nur innerliche Tatsache zu machen.“

Das haben wir uns damals gedacht. Jetzt füge ich hinzu, dass die Aussage von Carla Lonzi zu einer Prophezeiung geworden ist: Wir haben als Frauen von der Differenz profitiert.

Eine Untersuchung der Zeitschrift Internazionale Nr. 1399 vom 11. März 2021 berichtet, dass Mädchen Kraft schöpfen aus der Gruppe ihrer Freundinnen, mit denen sie Erfahrungen, Emotionen und Urteile darüber teilen, was in der Welt geschieht. Das heißt, sie sind sich ihrer selbst bewusst. Und vor allem nennen sie ihre Mütter als Vorbilder. Sie sind frei.

Auch eine kürzlich vom Corriere della Sera veröffentlichte Umfrage zeigt, dass die Beziehungen zwischen Töchtern und Müttern gut sind. Andererseits erinnere ich mich daran, dass sich mein Gefühl in Bezug auf meine Mutter veränderte, nachdem wir in meiner Consciousness-Raising-Gruppe über unsere Erfahrungen, auch die intimsten, gesprochen hatten und so das Patriarchat dekonstruierten.

Wir haben also ein weibliches Symbolisches geschaffen: ein „Unter Frauen“, das zur symbolischen Struktur geworden ist, aus der wir Kraft schöpfen, so wie die weibliche Genealogie, also das Vertrauensverhältnis zu einer Frau, die vor dir zur Welt gekommen ist, und die dein Begehren unterstützen kann.

Schließlich: die Beziehung zur Mutter als Figur der Vermittlung unter Frauen. Und ich füge hinzu: auch als Vermittlung mit den Männern. Und eine mögliche Vermittlung zwischen Männern und Frauen.

Während ich über diese Dinge nachdachte, erinnerte ich mich an einen Briefwechsel mit einem Freund, Dino Leon, einem geschätzten Juristen, über die Politik der Differenz. In einem Brief schrieb er: „Ich denke, dass etwas (ich weiß nicht wie viel) auch an das männliche Kind weitergegeben werden kann. Seine Mutter bringt auch ihm das Sprechen bei.“

Fast alle Männer, die sich der Politik der Differenz zugewandt haben, weisen darauf hin, dass die Beziehung zur Mutter eine Vermittlung für die Beziehungen zwischen Frauen und Männern sein kann. Während der Metoo-Debatten sagte etwas Ähnliches sogar ein bekannter italienischer Sänger, an dessen Namen ich mich nicht erinnere, in einem Interview mit dem Corriere: „Wenn Sie eine gute Beziehung zu Ihrer Mutter haben, respektieren Sie Frauen.“

Ich sehe in diesen einfachen Worten ein Prinzip der Vermittlung für eine Politik von Frauen und Männern, das der demütigenden, irreführenden und obsessiven Forderung von Berufspolitiker:innen nach Gleichheit ein Ende setzt. Aber ich sehe ein noch ehrgeizigeres Ziel darin. Nämlich dass die Politik der Differenz von Frauen und Männern erste Schritte zur Bekämpfung der ökologischen Zerstörung des Planeten Erde weisen und das ständige Wachsen sozialer Ungerechtigkeiten beenden kann.

Autorin: Lia Cigarini
Eingestellt am: 24.05.2021
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Dieser Artikel bringt wieder einen Schritt weiter! Seine Hauptgedanken verstehe ich so: Die Politik der Frauen bezieht sich nicht auf Frauen, sondern auf alle Menschen. Es kommt also darauf an, dies Männern, die das in großer Mehrheit nicht erkennen, zu vermitteln.
    Das ist für mich nicht neu. Aber der Ansatzpunkt, der jetzt genannt wird: es geht darum, das Werk der Mutter zu vermitteln – darum, dass Männer das Werk ihrer Mutter anerkennen.
    Das war für mich selbst eine tiefgreifende Erfahrung: nicht nur allgemein das Werk der Mütter anzuerkennen, sondern wirklich meiner Mutter. Ich verstand mich damals, noch vor 30 Jahren als Generation der ’68iger nicht gut mit ihr, ich konnte nichts von ihr anerkennen. Dass ich in Zusammenhang mit der Philosophie der “Italienerinnen” meiner Mutter zeigte UND auch sagte, dass ich ihr dankbar bin, dass sie mich geboren hat, änderte viel. Ich erkannte nicht nur sie an, sondern auch mein eigenes Leben als Gabe. Und dass ich ihr Autorität zusprach UND sie um Rat fragte, bedeutete, dass ich all das, was ich an ihr abwehrte und abwertete nun überdenken musste, um mich bewusst dafür oder dagegen zu entscheiden. Ich hatte einen innerlichen weiblichen Bezugspunkt und damit einen Maßstab.
    Ich erlebe, dass auch viele Männer konkret ein widersprüchliches Verhältnis zu ihrer Mutter haben, ebenso wie zu Frauen. Auch wenn dies meist nicht direkt Thema ist, aber das lässt sich ja ändern! Und es geht natürlich um die Übersetzung auf das Werk der Frauen als geistige, praktische oder sonstwie geartete Mütter.
    Da taucht mir erneut die Frage auf: wer ist eine Mutter? Eine Frau, ein Mann, ein non-binärer Mensch? Ich denke, auf jeden Fall ist Mutter sein eine Kulturleistung, ein notwendiges kulturelles Werk der Frauen.
    Und irgendwo im Untergrund schlummert noch die Frage, was Vatersein bedeuten könnte.

  • Sehr interessant finde ich auch, wie Lia Cigarini die Entwicklung der Politik der Frauen über die letzten 50 Jahre betrachtet. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Arbeit an den Beziehungen unter Frauen und zur eigenen Mutter Früchte getragen hat. Das erlebe ich auch so unter jüngeren Frauen.
    Zu den Erkenntnissen dieser Arbeit schreibt sie im Artikel:
    “Das erste betrifft die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt. Wir haben verstanden, dass ihre Trennung künstlich ist und dass es trügerisch ist, sich Ziele zu setzen, bevor man sie selbst erprobt hat”.
    “Die Differenz hingegen … gibt … Hebel an die Hand, mit deren Hilfe sich die symbolische Ordnung verstehen und brechen lässt: das Von-sich-selbst-Ausgehen und die Politik der Beziehungen anstelle von Organisation und Repräsentation.”
    Genau diese Art der Arbeit finde ich in den Bewegungen zur Transformation unserer Gesellschaft wieder – und sie sind oft initiiert oder getragen von Frauen: in den Bewegungen für eine andere Landwirtschaft, Stadt, Mobilität, Umgang mit Ressourcen, zum Erhalt von Wäldern usw.: nämlich ausgehend von sich selbst, den eigenen Erfahrungen und angetrieben vom eigenen Begehren mit Anderen etwas zu beginnen, etwas zu erproben, und gleichzeitig das Begonnene zu reflektieren wie das Spinnen von Fäden, die sich verdichten.

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