beziehungsweise – weiterdenken

Forum für Philosophie und Politik

Rubrik lesen

Kapitel 10: Reichtum und Armut als Beziehungsfragen

Von Antje Schrupp, Dorothee Markert, Andrea Günter

Zum 20. Jubiläum der Flugschrift „Liebe zur Freiheit, Hunger nach Sinn. Flugschrift über Weiberwirtschaft und den Anfang der Politik“ wurde das Büchlein im Christel Göttert Verlag neu aufgelegt und wird hier im Forum auch erstmals online veröffentlicht (hier der Link zum Anfang). Dies ist das 10. Kapitel: Reichtum und Armut

Die Armut, so heißt es, ist immer noch weiblich. Dies ist richtig, insofern Frauen weltweit weniger Verfügung über Geld und Eigentum haben als Männer. Aber: Frauen sind reich an Fähigkeiten und Dingen zur Bereicherung des Lebens, reich an Freiheit, an Lebensweisheit und Überlebensstrategien, reich an Beziehungen. Wir weisen deshalb einen Reichtumsbegriff zurück, der sich auf das Materielle und Zählbare beschränkt. Vielmehr ist Reichtum das, was zur Bereicherung des Lebens beiträgt.

Flugschrift
Flugschrift “Liebe zur Freiheit, Hunger nach Sinn”

Weiblicher Reichtum bedeutet Fülle und Lebensqualität, die aus der Mitte der Wirtschaft erwächst – und mit diesen Reichtümern wollen Frauen verschwenderisch umgehen. Geld allein macht nicht reich, es ist jedoch ein Mittel, um schöne Dinge zu erwerben – und die Bindung an schöne Dinge, die mir wertvoll und kostbar sind, stellt ein Stück Reichtum und Lebensqualität dar. Dass Reichtum nicht mit Geld und der Quantität des Besitzes gleichzusetzen ist, zeigt interessanterweise die Werbung, die bevorzugt Bilder von gelingenden Beziehungen präsentiert.

Armut entsteht durch Vereinzelung, indem die Verfügung über gesellschaftlichen Reichtum individualisiert wird. Armut in den „reichen“ Ländern steht häufig in Zusammenhang mit dem Scheitern von Beziehungen: So berichten Obdachlose, dass am Anfang ihres Abstiegs meist das Ende einer wichtigen Beziehung stand.

Nicht Reichtum stellt ein Problem für das Zusammenleben dar, sondern Habgier, die in vielen Gestalten und unter vielerlei Namen Motor einer neoliberal-kapitalistischen Marktwirtschaft ist und die gleichfalls beinhaltet, aus dem gegenseitigen Tausch auszusteigen. Der gegenwärtige Stand der Entwicklung des Kapitalismus entzieht den Reichtum den menschlichen Tauschbeziehungen, indem das Geld vom Tauschmittel zum Selbstzweck wird: In der globalen Kapitalspekulation dient Geld nicht mehr zum Erwerb sinnvoller Dinge, sondern stattdessen zum Gewinn von mehr Geld. Das Geld wird selbst zum Ding – dies ist die Seite, in der sich Habgier strukturell zeigt.

Die Bindung an Dinge wird von der kapitalistischen Wirtschaft zerstört, da sie ihren Interessen entgegensteht. Die Bindung an Lebensorte wie auch Arbeitsplätze widerspricht den kapitalistischen Imperativen der Mobilität und Flexibilität; die Bindung an konkrete Dinge wird aufgebrochen, um das unermüdliche Kaufen, Konsumieren und Wegwerfen in Gang zu halten.

Damit bringt die kapitalistische Wirtschaftsweise eine neue Art von Armut hervor, die nichts mehr zu tun hat mit der Armut, die beispielsweise an mehrfach geflickter Kleidung zu erkennen war. Ihr wesentliches Kennzeichen ist die zerstörte oder nicht erlernte Bindung an Dinge. Dieser Armut ist mit (mehr) Geld allein nicht abzuhelfen. Wer selbst keine Bindung an Dinge entwickeln konnte, hat auch keinen Respekt vor der Bindung der anderen an Dinge, die ihnen lieb sind.

Wir erleben, wie Kinder und Jugendliche häufig untereinander vereiteln, dass bei einem von ihnen Bindung an Dinge entstehen oder erhalten bleiben kann, indem sie durch Spott bis hin zur absichtlichen Zerstörung von Gegenständen bei andern unmöglich machen, was ihnen selbst vorenthalten wurde. Oder sie hierarchisieren die Wertigkeit der verschiedenen Dinge — entlang von Markennamen, gehorchen also der patriarchal-kapitalistischen Logik des Hierarchisierens und Trennens.

Aus: Ulrike Wagener, Dorothee Markert, Antje Schrupp, Andrea Günter: Liebe zur Freiheit, Hunger nach Sinn. Flugschrift über Weiberwirtschaft und den Anfang der Politik. Christel Göttert Verlag, Rüsselsheim 1999, Neuauflage 2019

Weiter zum Kapitel 11: Notwendigkeit und Wertschätzung der Familien- und Hausarbeit

Autorin: Antje Schrupp, Dorothee Markert, Andrea Günter
Eingestellt am: 18.05.2021

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Anne Lehnert sagt:

    Das sind für mich sehr bereichernde Gedanken.
    Einerseits erlebe ich öfter, dass Spielsachen meiner Kinder mitgenommen werden von Kindern, die selbst vielleicht weniger haben. Da überlege ich, wie ich die Erkenntnis, dass dahinter die vereitelte Bindung an Dinge stehen könnte, nutzen kann. Hat eine einen guten Tipp, wie ich oder wie meine Kinder damit umgehen können?
    Andererseits ist es auch nicht ganz leicht, bei meinen eigenen Kindern Konsumieren und Markenfetischimus zu vermeiden und trotzdem eine positive Bindung an Dinge und Freude an schönen Dingen zu ermöglichen. Auch mir selbst fällt das manchmal schwer.

  • Elfriede Harth sagt:

    Wie schön, diese Gedanken nach so langer Zeit wieder zu lesen! Wie schön, dass das jetzt digital veröffentlicht wird und daher vielen Menschen leichter zugänglich ist. Gerade jetzt, finde ich, tut es gut, so etwas zu lesen!

  • Ich habe mich sehr auf den Artikel gefreut, und dass das Thema überhaupt angesprochen wurde. Auch, dass man sich nicht immer als Frau die Opferrolle akzeptiert, auch wenn die Umstände nicht besonders ermutigend sind. Das bedeutet sicher nicht, dass man nicht für Gerechtigkeit und Veränderungen aktiv sorgt. Seine Rechte selbstbewusst einfordert.
    Die gesunde Bindung an Dingen, aber anderseits auch “die Hierarchisierung der Wertigkeit der verschiedenen Dinge — entlang von Markennamen, gehorchen also der patriarchal-kapitalistischen Logik des Hierarchisierens und Trennens” sind extrem wichtige Themen, die für die Bildung der Persönlichkeit von Individuen und von einer gerechten Gesellschaft unentbehrlich sind. Ich wollte mich schon längst zum Thema äußern. Vielleicht werde ich dies zum Anlass nehmen und es wirklich tun. Danke für die Anregung.

    Ich finde, das selbstverständliche Mitnehmen von Dingen nicht in Ordnung. Die Kinder können sich etwas ausleihen.
    Vielleicht könnt ihr eine Regel etablieren. Wenn jemand etwas mag, darf er fragen, ob er es mitnehmen oder ausleihen kann. Muss aber auch akzeptieren können, wenn das nicht geht. Auch Kinder müssen Respekt für die anderen haben. Ich habe bei meinen Kindern immer wieder das Empathie-Prinzip vorgeschlagen. Möchtest du, dass Jemand dir das antut? Möchtest du so behandelt werden? Was das Konsummieren und Marken Fetischismus betrifft, habe ich versucht meine Kinder in ihrer Einzigkeit zu stärken und auf ihre Talente hingewiesen. Im Großen und Ganzen ist es mir gelungen. Ich stärkte sie darin, selbst Trendsetter zu sein und nicht Trends nachzueilen. Z. B.: Mein Sohn hat heute u.a. einen Brand für Sonnenbrillen aus nachhaltigen Materialien Made in Berlin.
    PS: Wir haben als Migranten uns vieles nicht leisten können. Ich habe aber nie mit Geldmangel argumentiert und den Kindern das Gefühl gegeben, wir können das nicht. Und habe immer gesorgt, dass für wirklich wichtige Dinge, die aus Erziehungsgründen oder Gesundheitsgründen wichtig waren, auf einer Weise das Geld zustande kam. Wir haben früh definiert, was essenziell ist. Das mussten wir auch haben. Z. B.: Ferien im Sommer. Denn wie wir Ferien gemacht haben im Sommer für 6 Wochen war günstiger für mich als alleinerziehende, freie Autorin mit drei Kindern, als 6 Wochen mit den Kindern in Berlin rumzuhängen in völlig überfüllten Schwimmbädern oder anderen Einrichtungen.

  • P.P.S.
    Aus Verantwortung nicht nur zu unserem eigenen Geldbeutel, aber auch zum Planeten, habe ich meinen Kindern auch Respekt für Qualität und Nachhaltigkeit beigebracht. Wir haben gespart und wenn notwendig, das Beste gekauft. Denn es musste mindestens 10 Jahre halten. Kinder sind offen dafür, wenn man ihnen das so erklärt.

  • Anne Lehnert sagt:

    Liebe Carmen-Francesca, vielen Dank für deine Anregungen und vor allem deinen Bericht über deinen eigenen Umgang mit dem Thema. Mich würde das sehr interessieren, wenn du, wie angekündigt, mehr zum Thema schreiben würdest.
    Wir sind noch einen Schritt davor bei den mitgenommenen Sachen – bisher scheuten meine Kinder und auch ich die Konfrontation. Was die Erziehung angeht, gehe ich einen ähnlichen Weg wie du. Es gibt nicht immer alles, was “alle” anderen haben, aber es gibt immer wieder mal schöne Dinge. Eine meiner Töchter macht auch Vieles selbst, das fördert natürlich auch die Bindung an Dinge. Oder wir erben, und das kann auch eine schöne Verknüpfung der Kleider oder Spielsachen mit den anderen Personen sein.

Verweise auf diesen Beitrag

Weiterdenken