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Mit dem Wasser kommt die Hilfsbereitschaft

Von Kathleen Oehlke

Disclaimer: Ich gönne allen Betroffenen jegliche Art von Unterstützung und wünsche jedem und jeder Betroffenen, diese Zeiten nicht allein durchstehen zu müssen. Und natürlich fühle ich mit den Opfern des Hochwassers, die vor dem Trümmerhaufen stehen, der letzte Woche noch ihre Wohnhaus und ihre Altersvorsorge war. Ganz zu schweigen von der Tragödie, dass so viele Menschen ihr Leben verloren haben. Doch zu der Erschütterung kommt noch ein anderes Gefühlsdurcheinander, das mich seit dem Elbhochwasser 2002 immer wieder einholt und auch diesmal pünktlich eingetroffen ist.

Die Erlebnisse des Tages und die Angst um Haus und Hof werden beim gemeinsamen Abendessen geteilt. Ob die Deiche halten werden, weiß hier niemand. (Bild: Kathleen Oehlke)

Wieder ist Hochwasser, wieder fördert es eine überwältigende Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft zutage. In Fernsehinterviews und Zeitungsberichten werden immer wieder Opfer der Flutkatastrophe gezeigt, die wahlweise gerührt, froh, erstaunt und/oder überrascht sind darüber, dass Wildfremde Geld oder Essen spenden, mit dem Bagger anrücken oder auf sonst irgendeine Art helfen. In Gruppen von Anwohner:innen bestätigt man sich darin, dass „wir hier zusammenhalten“, uns „in diesen schweren Stunden zur Seite stehen“, „man sich doch noch aufeinander verlassen kann, wenn es drauf ankommt“. Parallelen finden sich auch in Medienberichten und Gesprächen aus den ersten Monaten der Coronapandemie: Was waren die Leute erstaunt, wie toll die Nachbarschaftshilfe funktioniert und dass da „doch noch ein gewisser Zusammenhalt“ war.

A propos Zusammenhalt. Früher, heißt es oft in verklärendem Tonfall, war da ja mehr Zusammenhalt (in der DDR z.B.), oder auch „da wurde noch richtig zusammengehalten“. Zusammenhalt als Substantiv oder wenn als Verb, dann im Passiv. Als wäre vielen gar nicht klar, dass zusammenhalten ein Verb ist, das auch aktiv gebraucht werden kann. Etwas, das man tut. Etwas, wofür sich jede und jeder entscheiden kann, auch abseits von Hochwassern und anderen Katastrophen. „Wir halten zusammen!“

Auch beim Sprichwort „Wahre Freunde erkennt man in der Not.“ meldet sich bei mir ein innerer Protest. Dass in Notsituationen geholfen wird, sollte in einer Gesellschaft doch das absolute Minimum sein. Abgesehen davon ist Hilfsbereitschaft so ganz uneigennützig auch nicht unbedingt immer. Helfen fühlt sich ja gut an. Aber ich schweife ab. Ich meine, wahre Freund:Innen erkennt man daran, dass sie im Alltag da sind und auch die guten Momente teilen. Oder dafür sorgen, dass die guten Momente möglich sind. Oder dass durch eine nachhaltige und sozial verträgliche Lebensweise Notsituationen soweit wie möglich rechtzeitig vermieden werden. Das macht sich allerdings nicht so gut für ein Sprichwort.

Aber was ist das bitte für eine Gesellschaft, in der erst in Notsituationen ein Gefühl der Verbundenheit entsteht? Und was ist da an den ganzen anderen Tagen? (Mir ist bewusst, dass es viele Menschen gibt, die sich aus dem Staub machen, wenn es schwierig wird, oft genaug auch schon rechtzeitig vorher. Um die geht es hier aber nicht.) Es muss ja einen Grund haben, dass es so schleppend vorangeht mit Ansätzen wie der Gemeinwohlökonomie, dem Bedingungslosen Grundeinkommen der Care-Revolution oder einer Stadtentwicklung, die Inklusion mitdenkt, kurz: mit dem ‚guten Leben für alle‘. Wie stark gerade politische Akteur:innen oder auch Stadtentwickler:innen das Angewiesensein auf andere teilweise noch immer ausblenden, ist häufig am eigenen Leib zu spüren. Ich denke an zu wenige Toiletten im öffentlichen Raum, noch immer viel zu viele Barrieren und Behinderungen für Menschen mit körperlichen Einschränkungen, Krankenhäuser, die Gewinne erwirtschaften müssen usw. Ich denke auch an die Menschen, die in ständiger Existenzangst, unzumutbaren Arbeitsverhältnissen und krankmachenden Beziehungen leben. Wo ist da der Zusammenhalt? Zu körperlichen und seelischen Krankheiten kommen bei vielen existenzielle Nöte. Menschen, die für andere sorgen, haben in vielen Fällen nicht nur kein ausreichendes Einkommen, sondern auch noch schlechte Arbeitsbedingungen. Jeden. Einzelnen. Tag. Und dann kommt plötzlich ein Hochwasser, gemeinsam werden Sandsäcke gefüllt und aufgeschichtet, es wird gehofft und gebangt und später zusammen aufgeräumt und wieder aufgebaut. Und sich darüber gefreut, dass „man“ ja eben doch noch zusammenhält, wenn es hart auf hart kommt. Heißt das im Umkehrschluss, „wir“ brauchen solche Katastrophen, um zumindest alle paar Jahre eine Art von Zusammenhalt zu spüren, auf den Menschen psychisch ja auch irgendwie angewiesen sind? Dass ein solidarisches Miteinander im Alltag nicht reicht und deshalb gar nicht erst gelebt wird?

Und was macht es mit den Betroffenen, dass in der Not Fremde Geld für neue Möbel spenden? Oder dass möglicherweise zurückgenommene Soforthilfeprogramme (dem Wahlkampf sei Dank?) dann doch wieder aufgenommen werden? Ich würde hoffen, dass Menschen, die durch eine Überschwemmung auf brutale Weise an ihre Verletzlichkeit erinnert werden, eine bessere, sicherere Zukunft gestalten wollen. Das könnte sich theoretisch im Wahlverhalten widerspiegeln. Parteien, die zumindest an Daseinsvorsorge denken oder den Klimaschutz im Programm haben, gibt es ja. Und wie wurde in den letzten 25 Jahren gewählt? Im Oderbruch war 1997 Land unter. Das Elbhochwasser von 2002 hat Teile Sachsens verwüstet, 2013 nochmal…. Hochburgen der Grünen, der Linken, oder meinetwegen der SPD, sind diese Regionen auch danach nicht gerade geworden, vorsichtig ausgedrückt. Und jetzt kommt mein Ärger. Mir geht durch den Kopf: „Immer schön SUV fahren und rückwärtsgewandte Parteien wählen. Aber wenn das Kind dann buchstäblich in den Brunnen gefallen ist, die gegenseitige Hilfsbereitschaft preisen.“ Zynismus hilft nur leider auch nicht weiter.

Beim Elbhochwasser 2002 war ich als Feuerwehrfrau mit den anderen Feuerwehrleuten im ansonsten evakuierten Dorf geblieben. Wie füllten Sandsäcke, warteten und hofften, saßen abends noch beim Essen zusammen und tauschten uns über die Geschehnisse des Tages aus, die wir zusammen erlebt hatten. Es ist nochmal gutgegangen damals. Für uns. Für viele andere nicht. Die Einnahmen des Dorffestes spendeten wir an Flutopfer in Sachsen. Wir hatten das volle Programm: Glück, Zusammenhalt, Erleichterung, ein gutes Gefühl ob des gespendeten Geldes. Geblieben ist die Erinnerung an diese Zeit, in der wir zusammengestanden haben. Ich habe das Dorf später aus anderen Gründen verlassen. Meine Ehrenurkunde habe ich nicht mitgenommen. Ich will jeden Tag Zusammenhalt und ein gutes Leben und zwar für alle. Das Unbehagen, das ich damals und seither bei jedem Bericht über eine weitere Katastrophe tief in mir spüre, kann ich erst jetzt richtig fassen.

Spätsommer 2002: Was bleibt, wenn die Sandsäcke wieder trocken sind? (Foto: Kathleen Oehlke)

Autorin: Kathleen Oehlke
Eingestellt am: 22.07.2021
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Gesa Ebert sagt:

    Liebe Kathleen Oelke,

    ich sehe das ganz genauso. Danke fürs Aussprechen!

  • Barbara Ritter sagt:

    Liebe Kathrin
    Danke für deine Gedanken deinen Beitrag.
    Ich frage mich ähnlich was hält unsere Gesellschaft zusammen bzw. was formt uns zu einer Gemeinschaft. Ich habe den Eindruck , dass uns irgendwas gemeinsames verloren gegangen ist oder dass ich es früher nicht vermisst habe.
    Corona hat als letzte Einheit, die zusammen hält , die Familie benannt. Aber was ist mit denen für die Familie kein positiver Begriff ist, sondern Angst und Gewalt bedeutet.
    Die kapitalistische Ideologie hat uns eingeredet, dass wir uns allein durchkämpfen müssen.
    Aber in Katastrophen wird überdeutlich ,dass das Blödsinn ist. Wir sind als soziale Wesen aufeinander angewiesen, nicht nur dann, sondern lebenslang.
    Liebe Grüße Bari

  • Dorothee Markert sagt:

    Liebe Kathleen, dank deinem Artikel kann ich mir jetzt mein Unbehagen ein- und zugestehen, wenn gebetsmühlenartig bei Katastrophen die Hilfsbereitschaft und Solidarität gelobt und beschworen wird. Und dann noch die Politiker:innen, von denen es sich ja angesichts des Wahlkampfs keine(r) leisten kann, dort nicht aufzumarschieren!

  • Antje Schrupp sagt:

    Vielen Dank, Kathleen! Mir kam beim Lesen noch ein anderer, vielleicht verwandter Gedanke, nämlich das leicht „Völkische“ dabei. Es leiden ja überall auf der Welt Menschen ständig auf diese Weise, das ist ja nicht „neu“, neu ist, dass es „uns“ betrifft, und das gehört sich irgendwo nicht. In Brasilien gibt es jedes Jahr genau solche Bilder, aber dass dort die Menschen ihr Hab und Gut in den Fluten verlieren ist irgendwie normal und kein großer Skandal. Klar verstehe ich, dass die Emotionen höher schlagen, wenn das vor der eigenen Haustür passiert, aber trotzdem ist es irgendwie schräg und ich kann gar nicht genau ausdrücken, wie.

  • Madelaine sagt:

    Danke Kathleen für das formulieren Deiner Gefühle.
    Mir geht es ähnlich. Ich sehe heute (auf einem Dorf im Südschwarzwald) vor allem Zusammenhalt im familiären Kreis – wir sind eins. In Notsituationen breitet sich dieses wir-sind-eins-Gefühl auf grössere Gebiete aus. Ist zwar schön, doch eben mir fehlt auch das lebendige wir-sind-eins im Alltag. Corona hat uns noch mehr voneinander getrennt, finde ich.
    Vor paar Jahren ist die alleinstehende Mieterin meines Lebenspartners (eine Ausländerin) in eine desaströse Situation geraten, schwer krank, kein Einkommen. Teils selbstverschuldet durch Unwissen aber trotzdem, eine Katastrophe für sie. Für uns war klar, dass wir alles tun damit sie irgendwie heil durch diese Situation kommt und ich habe ohne zu überlegen ihre antehenden Rechnungen bezahlt. Ich wusste das Geld wird eines Tages zurückkommen wenn sie wieder gesund ist und sonst – ja nun, auch wenn ich nicht viel habe- einfach selbstverständlich. Erschreckt hat mich die Frage einer langjährigen Feundin “warum tust du das?” öööh? umso fragwürdiger wenn ich daran denke, dass diese Freundin selber dieser Krankheit unterworfen war mit massiven Einschränkungen im Leben. Sie war recht gut situiert und abgesichert, geborgen, hat Familien und Mann vor Ort……
    Das hat in mir auch ein sehr starkes Unwohlsein ausgelöst.
    Ich vermute unsere Gesellschaft hat zuwenig gemeinsame Werte, zuwenig gelebte Kultur. Vielleicht weil wir zu global geworden sind und schlimme Dinge passieren weit weg.

  • Anne Newball Duke sagt:

    Liebe Kathleen,
    ich habe mir mein unpassendes Unbehagen bei den Bildern der glücklich-fassungslosen Menschen ob der Hilfsbereitschaft folgendermaßen erklärt: wenn mensch insgesamt noch nicht viel nachgedacht hat über das gute Leben für alle, dann merkt mensch eben erst in der Katastrophe, wie gut sich Hilfsbereitschaft “von Fremden” anfühlt. Ich meine, gerade da, wo du sagst, du schweifst ab, finde ich, gibt es einen spannenden Punkt. Es klingt mittlerweile so banal und ich denke immer, sags doch nicht wieder, Anne, du nervst die Leute, und außerdem wissens doch hier auch schon alle, aber ein Gesellschaftssystem, das sich derartig beim Misswirtschaftssystem untergehakt hat – und schon lange, vielleicht schon immer, gar nicht mehr alleine laufen kann – ein System also, das Individualisierung und Freiheit in angeblicher Unabhängigkeit immer noch als positiven und maximal zu erreichenden Wert feiert (weil ganz oben angekommen ist mensch dann in in der Maslow’schen Bedürfnispyramide) , da ist doch klar, dass sich die Menschen da verwundert die Augen reiben, wenn ihnen plötzlich “aus dem Off” AKTIV geholfen wird, wenn AKTIV zusammengehalten wird. Ich stelle mir eine von der Flut betroffene Pflegerin vor, die bereits jahrelang beklagt, dass die Hilfe und Pflege im Krankenhaus nicht genug ist, dass ihre harte körperliche und emotionale Arbeit so wenig (monetär) anerkannt wird usw. usf., wie alleingelassen sie sich täglich auf ihrer Arbeit fühlt (neben vielen positiven Erlebnissen natürlich auch). Und nun steht sie da im Schlamm und plötzlich helfen alle mit. Das ist dann schon… bestimmt sehr berührend für sie zu erleben, und da gelingt es ihr wahrlich noch schwer, vom Passiv der bisherigen jahrelangen Erfahrungen ins Aktiv der letzten Stunden und Tage zu wechseln. Weil DAS war ihre bisherige Erfahrung: dass das Passiv in einer solchen Gesellschaft das Aktiv aktiv verdrängt.
    Und wenns dann doch ins Aktiv kippt, dann muss mensch – und zwar nicht unbegründet, sichtbar an der Querdenkernaziunterwanderung – aufpassen, nicht ins Völkische – Antje sagts – abzurutschen und aus Versehen mit einem Nazi abends gefühlsduselig mit Bier anzustoßen. (Auch eine interessante Frage by the way: wenn der Nazi so toll mithilft, dürfte mensch dann sagen, “Nein, dem reiche ich den Schlammeimer nicht weiter?” So viele anstrengende tricky Fragen in so einer Notsituation, und da haben wir die Klimakrise, die gleich und sofort angesprochen gehört, und zwar laut und deutlich und unmissverständlich, noch gar nicht angesprochen.)
    Ich sehe die Bilder einerseits mit Unbehagen, aber ich sehe andererseits auch den Moment des Erkennens, und der stimmt mich ein bisschen hoffnungsfroh. Wie Menschen, die vor der Kamera Worte für diese Hilfsbereitschaft und den Zusammenhalt finden sollen, nach passenden Worten SUCHEN. Kaum ein Satz ist vollständig, wird von Weinen vor Freude und Dankbarkeit unterbrochen. Diese Gefühle sind notwendig, um Dinge überhaupt neu denken zu können und in Sprache zu bringen. Nur dürfen sie später nicht in unproduktive Nostalgie kippen, sondern müssen ab sofort fürs Aktivsein genutzt werden im Sinne des guten Lebens für alle.

  • Anne Newball Duke sagt:

    Liebe Dorothee, was die Politiker*innen im Wahlkampf in den Katastrophengebieten angeht: mir kam da ein ganz anderer Impuls: wäre es nicht toll gewesen, wenn da mal eine/r richtig angepackt hätte und dabei ins Gespräch mit den Menschen auf Augenhöhe gekommen wäre? Ich erwische mich dabei, dass ich das toll gefunden hätte. Warum hat z.B. Annalena Baerbock diese Chance nicht genutzt? Es rumort, sie hätte es abseits der Presse son bisschen getan, aber ich finde, genau das hätte doch in die Presse gehört! Im gemeinsamen Tun (und danach) hätten ehrliche und wichtige Gespräche stattfinden können. Aber das ist nur so ein intuitiver Wunsch von mir gewesen… keine Ahnung.

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