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Rubrik anschauen

NEU SEHEN

Von Heike Brunner

Ein Tanz-Bilderalbum – Ausstellungsstück

Die aktuelle Fotoausstellung im Städel, Frankfurt am Main, steht unter diesem Motto.

Neu Sehen ist tatsächlich eigentlich eine alter Hut. Genau genommen entstand “NEU SEHEN” als Begriff mit der Entwicklung der Kleinbildkamera vor gut 100 Jahren. Der Ausstellungsuntertitel “Die Fotografie der 20er und 30er Jahre” lässt es uns erahnen.

Neue Perspektiven, neues Experimentieren, neue Verwendungen wurden in dieser Zeit entdeckt. Das Studienfach Fotografie wurde an den Kunsthochschulen eingeführt und Fotografie in den Medien publik gemacht, die Öffentlichkeit wurde angehalten, mitzugehen: Neu zu sehen! All dies wird in der Ausstellung gezeigt, z.B. mit Zeitschriften, Plakaten, historischen Lehrbüchern und jeder Menge Bild- und Fotomaterial. Mit dabei sind viele Fotograf*innen, Künstler*innen wie Gertrud Arndt, Lotte Jacobi, Madam d Òra, YVA um nur einige der weiblichen der insgesamt über 100 Fotografen und Fotografinnen zu nennen. Makroaufnahmen, Froschperspektiven, Schattenfotografie, all dies wurde in dieser Zeit entwickelt. Neue Formate wie Bildbände zu Landschaftsfotografie eroberten den Markt, industrielle Fotografie, Aktionsfotos von Künstlerinnen, um ihr Talent zu zeigen, Porträts als Medium, um Gefühle zu transportieren, entstanden in diesem neuen Licht.

Wie die Fotografie Einzug in die Zeitungen hielt, wie der Beruf der Pressefotografie entstand und wie Fotografie dann in den 30ern zunächst für Werbung, dann für Propaganda herhalten musste. Der Missbrauch durch die Nationalsozialisten und die Inszenierung des Militärs wird thematisiert.

Neu Sehen, dass können die Menschen auch heute noch lernen. Im Städel hat mit dieser ersten Ausstellung die noch recht neue Sammlungsleiterin für Fotografie Dr. des. Kristina Lemke einen der spannendsten fotografiehistorischen Momente ins Visier genommen.

Die Ausstellung unterteilt sich in verschiedene Themenbereiche: Ausbildung, Nutzung des Mediums für Werbe- und Pressearbeit bis zur politischen Funktionalisierung ist Bekanntes und weniger Bekanntes hier sorgsam aufbereitet vorgestellt. Interessant und etwas gruselig anmutend die Röntgenfotografie und besonders intensiv die Porträts der Künstler*innen der Zeit. So ist dort auch “neu” zu sehen ein Porträt von Tatjana Barbakoff, einer jüdischen Tänzerin und Berühmtheit ihrer Zeit, neben dem Tänzer Harald Kreutzberg, Käthe Kollwitz oder dem Malerehepaar Dix. Das Schicksal der Fotograf*innen und Künstler*innen nimmt nicht selten durch den Nationalsozialmus eine brutale Wende. Doch zeigt sich hier so deutlich eine Aufbruchstimmung, Schaffenslust und Kraft, gepaart mit Kreativität, die dem freien Zeitgeist (Weimarer Republik) entsprach und vielen, insbesondere den jungen Frauen, neue Möglichkeiten eröffnete. NEU SEHEN – eine spannende Empfehlung.

NEU SEHEN

Die Fotografie der 20er und 30er Jahre

Ausstellung ist noch bis zum 24.10.21 geöffnet oder sonntags als digitales Erlebnis buchbar.

Städel Museum

Schaumainkai 63

60596 Frankfurt

Autorin: Heike Brunner
Eingestellt am: 08.09.2021
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