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Rubrik anschauen

„Alleine ist man schneller, aber zusammen sind wir stärker und kommen weiter.“

Von Anne Lehnert

  • Der Film Der Schwarm – die Compagnie XY im Höhenflug, von Ilka Franzmann


Möbius heißt das Stück der Compagnie XY, dessen Probenarbeit dieser Film begleitet. Er will die Kraft des Kollektivs zeigen, im Alltag – und eine Dimension, die darüber hinausweist. Im letzten Jahr, als es kaum Zirkusvorstellungen gab, konnte Ilka Franzmann die französische Compagnie XY bei Proben zu einem kurzfristig möglich gewordenen Auftritt in Barcelona filmen und diesen Film daraus machen. Ihn anzusehen ist zwar kein Ersatz für ein Zirkuserlebnis in Präsenz. Dafür bietet das Porträt von Ilka Franzmann etwas anderes. Ganz ohne Kommentar lässt sie die Artist:innen so zu Wort kommen, dass das Besondere ihrer Arbeit im Kollektiv sichtbar wird, das sonst eher verborgen bleibt: Wie die Compagnie ihre Entscheidungen im Plenum so aushandelt, dass alle damit zufrieden sind. Welche Ängste die Artist:innen haben und wie sie mit ihnen umgehen, sie ernst nehmen, ohne sich von ihnen lähmen zu lassen. 

© Susanne Diesner – Möbius

Der Umgang mit dem eigenen Körper und seinen Möglichkeiten und Grenzen, der Umgang mit den eigenen Gefühlen und ihrem Einfluss auf die Arbeit mit dem Körper, der Umgang miteinander, das sind für mich spannende Themen, über die die Artist:innen sehr offen sprechen.
Mich interessiert diese Art von Zirkus und ich liebe Akrobatik. Das Dynamische und Fließende des Stücks Möbius ist wunderschön, und das Anschauen eines Zirkusprogramms hat für mich durch diesen Film eine neue Dimension dazugewonnen. Ich lege euch den Film und das Stück selbst ans Herz. 

Darüber hinaus interessiert mich, wie sich die Art der Compagnie, miteinander umzugehen, übertragen lässt auf andere Kontexte. Ich finde die Aussagen der Artist:innen sehr kraftvoll und poetisch, dabei immer rückgekoppelt an das unmittelbare, körperliche Erleben.

  • Umgang mit dem eigenen Körper und mit Gefühlen

Der Einsatz als Voleurin (Flyer) und als Porteur (Base) stellt ganz unterschiedliche Anforderungen an die Artist:innen. Besonders berührend finde ich, wie der Porteur Mikis Minier-Matsakis seine Rolle beschreibt. Er hat früh seinen Vater verloren und Verantwortung für die Familie übernommen und sagt über sich: „Mehr noch als ein Künstler bin ich ein Träger. Ich trage Projekte, Akrobaten. Es gibt die, die wie ein Traktor andere ziehen. Und andere folgen wie Waggons. Ich bin einer, der zieht. Dabei spüre ich nicht das Gewicht oder die Verantwortung. Für mich geht es eher darum, etwas in Bewegung zu bringen.“

© Markus Winterbauer – Florian Sontowski

Der stämmige, kräftige Porteur schildert auch, wie schwierig es für ihn war, tänzerisch und elegant sein zu wollen in den Läufen – und dabei auf sein von Kind an verinnerlichtes Selbstbild als hässlich und plump gestoßen zu werden: „Ich suche immer Bodenkontakt, etwas Festes. Aber manchmal, als wir tanzen sollten, fühlte ich mich wie ein Elefant. Ich war immer ein bisschen rund und dick. Ich fühlte mich nicht schön. Eine Art Kindheitsblockade. Ich versuche, nicht auf diese innere Stimme zu hören, und so viel Spaß zu haben wie möglich.“

Die Voleurin Maélie Palomo ist nach einer Verletzung erst unsicher, ob sie sich den Einsatz oben auf der Pyramide zutraut, und wird von den anderen dabei ermutigt und unterstützt, eine andere Artistin zu ersetzen, die ausgefallen ist. Ihr Körper sei es, der sie immer wieder zurückhole, der Lust habe zu experimentieren. „Die Angst verschwindet nur mit viel Geduld. Das ist das Schwierigste für mich: die Geduld mit mir selbst. Nicht nur die Figur schaffen wollen, sondern alles zu genießen, was auf dem Weg dahin passiert. Und wenn ich falle, dann falle ich, egal.“ Sie betont auch, dass es eben nicht nur um Kraft gehe, sondern um Zerbrechlichkeit: „Es gibt auch die Schwächen, die Stürze. Da muss man sich wieder aufrichten und neu beginnen.“ Auch Airelle Caen sagt: „Verletzungen gehören zu unserer Arbeit. Dieser Sturz ist einmal zufällig passiert. Für mich war es ganz normal, hinzugehen und ihm aufzuhelfen. In diesen kleinen Momenten bricht die Realität in unsere Welt ein, die oft ästhetisiert ist. Das ist etwas sehr Persönliches.“ Mikis Minier-Matsakis ergänzt: „Das ist das Kollektiv: sich umeinander kümmern, einander helfen.“

Abdeliazide Senhadji sieht im Sturz die pure Menschlichkeit: „Er konfrontiert mit etwas, das nicht geplant war. Scheitern ist ganz menschlich. Es gehört einfach zum Leben dazu.“ Ein wesentliches Element der Arbeit ist der Umgang mit der Angst, so Maélie Palomo: „Diese Disziplin verlangt extreme Strenge, aber mit all dem muss man spielen, sonst wird es zur Panik.“ Airelle Caen versucht, die Angst als Motor zu nutzen. Gerade wenn es um das Tragen und Fangen geht, sagt Antoine Thirion, sei es wichtig, die eigene Angst zwar nicht zu verleugnen, aber zu versuchen, weiter Vertrauen zu geben.

Letztlich ist die Angst gerade für Artist:innen unabdingbar: „Wenn ein Akrobat keine Angst mehr hat, wird es gefährlich.“ Paula Wittib betont, dass es gut ist, dass die Angst immer da ist, weil man sich dadurch allem viel bewusster ist. Allerdings wahrt sie eine Distanz zu ihr, um zu verhindern, dass sie in den Körper eindringt: „Wenn sie in dich eindringt, blockiert sie dich, und du kannst nicht arbeiten. Du musst mit ihr klarkommen.“ Sie macht einen Unterschied zwischen dem Kopf und dem Körper: „Mein Körper denkt nicht viel nach. Er stellt nichts in Frage, er legt einfach los. Es ist der Kopf, der sagt: ‚Das ist hoch, Paula.‛ Du musst wissen, wann du darauf hörst, und wann du sagst, lass mal. Wenn der Kopf einmal loslegt, geht es ziemlich rund.“

Caen sieht das Vertrauen als grundlegende Voraussetzung: „Vertrauen ist der Kern unserer Arbeit, ein absolutes Vertrauen untereinander und vor allem zu sich selbst. Eine innere Ruhe, mit der man sich in die Luft werfen lässt. Wir arbeiten mit der Schwerkraft, es gibt immer das Risiko zu fallen.“ In der Luft gelte es, das Gleichgewicht zwischen Anspannung und Loslassen zu finden: „Im unbehaglichsten Moment muss man das größte Vertrauen finden.“

Dieser Umgang mit Schwächen und Angst und diese Suche nach Vertrauen zu sich selbst und zu anderen sind für mich eine schöne Beschreibung für das, was aus konfliktreichen Situationen und Krisen hinaushelfen kann.

  • Zum Träumen bringen – die politische Dimension

Das Stück ist nicht nur ästhetisch, sondern auch politisch. Zum einen gibt es eine Szene, bei der die Choreographie die Flucht über das Mittelmeer, die Enge, das nur schwer mögliche Atmen nachahmt. Der marokkanische Artist Hamza Benlabied denkt bei dieser Szene an die Flüchtenden, die beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, ihr Leben verloren haben.
Zum anderen sieht er sich als Vorbild, dadurch dass er der erste ist, der in Europa eine Zirkusschule besuchen konnte: „Die Compagnie XY war mein Traum, seit ich in Marokko ihre Videos gesehen hab. Ich dachte: Wow, da muss ich hin. In Marokko sehen sie jetzt, dass man diesen Weg gehen kann. Ich habe eine Tür geöffnet.“ Er sieht stolz und zufrieden aus, wenn er das sagt.
Noch eindrücklicher beschreibt das Paula Wittib, die eine Vorstellung der Compagnie in Argentinien sah und davon so beeindruckt war, dass sie ihr Land verließ, um Teil davon zu werden: „Wir Artisten haben eine riesige Verantwortung. Du weißt nicht, wer dir zuschaut, wen du berührst. Vielleicht bin ich es jetzt, die jemanden zum Träumen bringt. Das ist das Größte, einfach riesig.“ Dabei kommen ihr die Tränen. Auch Senhadji sagt: „Das Kollektiv hat eine enorme Kraft. Es erlaubt jedem zu träumen.“

Diesen Gedanken finde ich inspirierend für alle Arten von Veränderungswünschen, sei es im Hinblick auf Gerechtigkeit, Chancen, Möglichkeiten, das Klima. Vielleicht geht es vor allem darum, einander zum Träumen zu bringen? Ich freue mich, wenn ihr schreibt, ob ihr mit dieser Idee etwas anfangen könnt.

  • Einander tragen – die soziale Dimension
© Markus Winterbauer – Flyer Paula Wittib

Paula Wittib beschreibt die Unterschiede zwischen den Händen, die einen tragen. Der Porteur Mikis Minier-Matsakis spricht darüber, wie er sich auf die anderen Körper einstellt: „Zarte Körper nimmt man zart und feste fest. Es ist immer ein Gleichgewicht der Kräfte,“ wie ein Baby, das man manchmal fest halten müsse und manchmal sanft. Es gehe darum, zu schützen und gleichzeitig Raum zu geben. Abdeliazide Senhadji spinnt diesen Gedanken weiter: „Jemanden tragen heißt auch jemanden durchs Leben tragen. Im Leben trägt man immer etwas. Man trägt ja auch sich selbst.“

Im Team gibt es keine:n feste:n Leiter:in, sondern wechselnde Verantwortlichkeiten. Airelle Caen beschreibt die Arbeit im Kollektiv: „Wir versuchen, für die Gruppe zu denken und nicht nur jeder für sich.“ Andres Somoza betont: „Im Kollektiv und ohne Chef zu arbeiten, heißt, jede Entscheidung selbst zu treffen.“ Paula Wittib gibt zu: „In einem Kollektiv muss man sehr, sehr geduldig sein. Das kann ermüden, aber“, so fügt sie hinzu, „es ist auch gut, weil wir hinter allem stehen, was wir gemeinsam beschlossen haben.“ Löric Fouchereau geht noch darüber hinaus: „Das Kollektiv ist Arbeit rund um die Uhr. Manche träumen sogar davon. Es ist eine Lebensaufgabe.“
Die Zuschauer:innen sehen, so sagt Senhadji, nur die Spitze des Eisbergs. Das Stück finde sich überall im Alltag. Es sei all das, die Emotionen, Begegnungen und Diskussionen, all die kleinen Augenblicke: „Die Menschen sind das Allerwichtigste. Mit ihnen erschaffen wir etwas, wir diskutieren und finden neue Wege, mal einfache, mal komplizierte. Das ist meine Lebensphilosophie.“
Wittib beschreibt, wie sie in einer Szene allein auf der Bühne ist, sich klein und nichtig fühlt, und was es für ein kraftvoller Moment ist, wenn dann das ganze Kollektiv zurückkommt und alle gemeinsam den Turm errichten. Das Gemeinsame, die Kontinuität, das Fluide macht das Stück Möbius aus. Es ströme hin und her – „wie ein langer Atem, der kommt und geht“, oder „wie Vögel am Himmel, intelligente Bewegungen mit Formen, die sich ständig verändern.“

„Wir versuchen zu einem Körper zu verschmelzen. Eine verrückte Verbindung.“ Abdeliazide Senhadji findet klare Worte, für die Arbeit am Stück wie für das gemeinsame Leben: „Wir leben nur durch die anderen. Wir brauchen jeden Einzelnen, um zu erreichen, was wir wollen.“ Das Stück erzähle auch ihr gemeinsames Leben. Das Allerwichtigste in der Akrobatik, so sagt er, seien die Blicke: „Blicke sind wie eine Sprache. Mit den Augen zeigt man Aufmerksamkeit. Man spinnt die Fäden untereinander. Unsere Beziehungen sind radikal. Wenn jemand etwas riskiert, darf man nicht spielen.“
Airelle Caen sieht den Umgang der Artist:innen miteinander als Ideal für ein gutes Leben:
„In diesem Stück sind wir sehr sanft miteinander. Wenn jeder immer diese präzise Aufmerksamkeit für alle anderen hätte, dann wäre das Leben auf der Erde perfekt.“ Sie muss über ihren Ausspruch lachen – und auch Paula Wittib lacht, als sie, ganz anders, über Sanftheit spricht: „Wenn ein Viererturm einstürzt, ist das gar nicht sanft.“

Immer gelingt diese präzise Aufmerksamkeit für alle anderen sicher nicht. Doch ich finde es einen schönen Gedanken, sie anzustreben. Den Artist:innen dabei zuzuschauen, wie gut ihnen das gelingt, ist ungeheuer faszinierend.


Ilka Franzmann (Regie): Der Schwarm. Die Compagnie XY im Höhenflug
Dokumentation 52 Min.
Online verfügbar bis 12. November 2021, Link zur Arte-Mediathek.

Die Compagnie XY präsentiert Möbius, Link zur Arte-Mediathek
Compagnie XY Website

Autorin: Anne Lehnert
Redakteurin: Dorothee Markert
Eingestellt am: 11.10.2021
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Anne-Käthi Zweidler sagt:

    Liebe Anne. Danke für deinen Filmtipp. Und ja: andere zum Träumen bringen, verändert die Welt – nicht erst seit Martin Luther King “I have a dream..”. Ein ganz kleines Beispiel dafür:
    Eben bekämpfen wir in unserem Dorf einen Autostrassentunnel. Er entzweit nicht nur die Dorfbewohner*innen in Gewinner und Verlierer, sonder schadet ganz klar dem Klima. Wir wollen deshalb eine Verkehrsreduktion (durchgehend Tempo 60 km/h, Verbot von Transitlastwagen, Verkehr neu denken). Von den Tunnelbefürwortern werden wir deshalb als Träumer beschimpft. Wenn das kein Kompliment ist!
    Herzlich Anne-Käthi

  • Anne Lehnert sagt:

    Liebe Anne-Käthi, danke für deinen Kommentar. Gerade den Verkehr neu zu denken und von einer anderen Art von Mobilität zu träumen, das liegt mir auch am Herzen.

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