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„Die Natur spüren und schreiben“

Von Dorothee Markert

Als die Sprachphilosophin Chiara Zamboni mir vor einigen Jahren bei einem Spaziergang erzählte, dass sie ein Buch über die Natur schreiben wollte, war ich ziemlich überrascht. Doch ich fand das Vorhaben gut und irgendwie auch wichtig. Inzwischen hat die Frage nach unserer Haltung gegenüber der Natur eine andere Dringlichkeit bekommen. Denn nun sind auch die Länder, die die Klimakatastrophe maßgeblich verursachen, zunehmend selbst spürbar von Klimawandel und Artenverlust betroffen.

Doch als ich Chiara Zambonis Ende 2020 erschienenes Buch vor einem halben Jahr zum ersten Mal las, entsprach sein Inhalt überhaupt nicht dem, was ich erwartet hatte. Es ist eine sehr gründliche philosophische Forschungsarbeit, in der mit politischen Aussagen äußerst sparsam umgegangen wird. Die Frage ist nicht, was wir tun können, um unseren Planeten zu retten, sondern wie wir die Dinge um uns herum und unsere Verbindung mit ihnen erfahren, die ebenso wie wir zur Natur, zur Erde, gehören. Zamboni durchsucht meinem Eindruck nach beinahe die gesamte uns zugängliche Philosophie nach Ansätzen zu einer anderen Haltung gegenüber der Natur, die nicht so tut, als seien wir etwas ganz anderes als sie und könnten uns als Subjekte ihr gegenüberstellen, sie beschreiben, nutzen und verändern ohne Rückwirkungen auf uns selbst. 

Der Schwerpunkt des Buches liegt also auf der Erforschung der Frage, wie überhaupt über die Natur nachgedacht, gesprochen und geschrieben werden kann, da – wie ich beim Lesen immer besser verstand – die uns selbstverständliche bisherige Herangehensweise grundlegend falsch ist. Die Art und Weise, wie wir über die Natur sprechen, blendet unsere Abhängigkeit von ihr aus und verhindert, dass wir unser Verbundensein mit ihr, unser Teil-Sein von ihr, wahrnehmen und spüren. Ich sehe einen Zusammenhang zwischen dieser Haltung und der Tatsache, dass Menschen die Erde möglicherweise schon irreparabel geschädigt haben.

In ihrer Forschungsarbeit suchte Chiara Zamboni bei Schriftstellerinnen, Philosophinnen, einigen Philosophen und anderen Denkern und Denkerinnen nach einem „roten Faden“ in deren Vorschlägen, wie wir Natur  – und uns selbst darin – anders denken, sprechen und schreiben können. Der Autorin, die jahrzehntelang an der Universität von Verona Philosophie gelehrt hat, kommt dabei zugute, dass sie sich auskennt in der Welt der Philosophie, aber auch mit psychoanalytischen Ansätzen, mit Dichtung und Literatur. Während es mich fasziniert, wie sie bei den für sie zentralen Herzensanliegen – die Liebe für die Präsenz der Dinge, die unbewusste Dimension des Fühlens und Wahrnehmens, die Wichtigkeit der Sprache und das Nachdenken über sie – immer mehr in die Tiefe geht und sie gleichzeitig immer wieder aus anderen Blickwinkeln untersucht, merke ich, wie sehr ich an meine Grenzen komme, weil ich mir ja zur Philosophie nur autodidaktisch einen bescheidenen Zugang erarbeitet habe. 

Nach dem ersten Lesen hatte ich einiges noch nicht verstanden und traute mir allenfalls zu, eine oberflächliche Rezension zu schreiben. Doch es ist mir auch ein Anliegen, dass etwas von den Bildern und Gedanken dieses Buches auf Deutsch vermittelt wird. Denn ich bin überzeugt, dass ein Umlernen im Wahrnehmen und Sprechen von der Natur notwendig ist, damit wir in eine andere Haltung gegenüber der Erde hineinwachsen können, die wiederum Voraussetzung ist, dass wir aus tiefster Überzeugung heraus und auf sinnvolle Weise die notwendigen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen angehen können.

Daher freue ich mich, dass Chiara Zamboni mir erlaubt hat, in einer bzw-weiterdenken-Serie auf die mir am wichtigsten erscheinenden Gedanken in den einzelnen Kapiteln ihres Buches einzugehen. Damit ist ja nicht ausgeschlossen, dass das Buch irgendwann auch noch als Ganzes übersetzt wird.

Auf einige Gedanken und Formulierungen aus der Einleitung möchte ich vorab kurz eingehen, da sie im Buch immer wieder eine Rolle spielen. 

Ihren „roten Faden“ findet Chiara Zamboni durch eine „sonderbare“ Formulierung Meister Eckharts in einer Predigt. Er spricht davon, dass die Seele von der Nähe zu Gott abgelenkt wird, wenn sie „mit den fünf Sinnen spazieren geht“. In einer anderen Predigt über die biblische Geschichte von Maria und Martha findet Zamboni dann die positive Antwort auf eine der Fragen, die jene Formulierung bei ihr ausgelöst hat: „Kann eine Person, die mit den fünf Sinnen in der Welt spazieren geht, Gott nicht auch nahe und ganz bei sich sein?“ (S. 10). Meister Eckhart zufolge ist die biblische Martha den Dingen gegenüber frei, ohne in Gegnerschaft zu ihnen zu treten oder sich von ihnen fernhalten zu müssen. Sie ist nah bei den Dingen und kann mit den fünf Sinnen spazieren gehen und gleichzeitig bei sich selbst sein, da sie ja die Verbindung mit den Dingen in ihrer Seele trägt. Nach dieser Lebensqualität wird Zamboni im Weiteren Ausschau halten, wobei sie sich vor allem durch Texte der Schriftstellerinnen Ingeborg Bachmann und Anna Maria Ortese sowie der Philosophie von Maria Zambrano und Maurice Merleau-Ponty anregen lässt.

Ausgehend von jener Freiheit im Nahe-bei-den-Dingen-Sein möchte Chiara Zamboni zeigen, dass und auf welche Weise wir eine Vertrauensbeziehung zu den Dingen, der Erde und unseren inneren Bildern und Vorstellungen haben. Diese Bindung und Verbindung besteht innerlich und äußerlich, ohne dass wir das gewählt haben. Sie ist unbewusst. Zamboni meint, die Seele habe wahrscheinlich viel mit jenem unbewussten Vertrauensverhältnis zu tun. Wenn wir beispielsweise auf der Erde gehen, empfinden wir sie als etwas Sicheres und Stabiles. Wir haben keine Angst, sie könnte sich vor uns auftürmen oder unseren Schritten nicht standhalten. Wir erwarten von der Erde nichts Unvorhergesehenes. Deshalb bedroht uns ein Erdbeben ganz besonders, nicht nur wegen der Lebensgefahr, sondern weil jenes Vertrauensverhältnis dadurch erschüttert wird.

„Vertrauen ist etwas, das zu Beziehungen gehört. Wir sind dabei zweifach gebunden, an die Erde und ans menschliche Sein. Wir sind beziehungsmäßig miteinander verbunden, wenn wir vertrauen, und die Erde ist dann kein Objekt, dem wir als Subjekte gegenüberstehen. Sie kann nicht verkauft oder gekauft werden, sie ist kein Thema des Rechts und kann auch nicht reduziert werden auf die Umwelt oder das Klima. Tatsächlich ist diese Beziehung viel mehr und etwas ganz anderes, sie ist die symbolische Bedingung des Lebens.“ (S. 11) 

Ausführlich geht Chiara Zamboni auf den Begriff „sentire“ ein, der ja auch im Titel des Buches steht. Im Italienischen umfasst dieser Begriff die ganze Palette der Sinneswahrnehmungen, vom Fühlen, Empfinden, Spüren, Wahrnehmen bis zum Hören, Schmecken und Riechen. Ich übersetze ihn mit „spüren“. Zamboni gebraucht diesen Begriff, um die „Resonanz der Dinge der Welt in der Seele“ zu benennen, wenn man „mit den fünf Sinnen spazieren geht“. Spüren geschieht innerlich und äußerlich, ohne dass es dabei einen klaren Übergang gibt. Der Begriff „spüren“ dient als Brücke, da er auf die unbewusste Seite unserer Beziehung zur Welt anspielt.

„Spüren“ ist mehr als „wahrnehmen“. Zum Spüren gehört, dass sich im Wahrgenommenen ein traumhaftes Element und das Im-Werden-Sein zeigt. Beim Spüren drängen sich im Wahrnehmen die Vergangenheit und die auf die Zukunft gerichtete Gegenwart auf. Beispielsweise wenn uns im vertrockneten Gras des Sommers der Geruch trockenen Grases an anderen Orten und in vergangenen Jahren entgegenkommt. Und wenn ein alltägliches Haus auch das unbekannte Haus wird, dem wir in unseren Träumen begegnen. 

Schritt für Schritt wird Chiara Zamboni in ihrem Buch die Konzeption des Unbewussten neu formulieren. Und dabei wird sie auch immer wieder über die Sprache nachdenken, über den Bezug zwischen Sprache und Natur. Je mehr wir dem Spüren Raum geben und uns ihm gegenüber öffnen, um so mehr werden wir mit der Frage nach der Sprache konfrontiert. „Denn das Gefühl der Überfülle im Spüren entspringt aus dem Inneren der Symbolsprache und zeigt in Wirklichkeit das Scheitern der Sprache an, die für diese Erfahrung nur inadäquate Formulierungen zur Verfügung stellt.“ (S. 12) Wenn wir nicht über die Sprache nachdenken, so Chiara Zamboni in einem Brief, „fallen wir entweder in eine vorgespiegelte Unmittelbarkeit oder in eine Sprache, die die Erfahrung verrät“. 

Chiara Zamboni, Sentire e scrivere la natura. Mimesis Edizioni (Milano – Udine) 2020, 217 S., 20 €

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Autorin: Dorothee Markert
Redakteurin: Dorothee Markert
Eingestellt am: 16.11.2021

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Juliane Brumberg sagt:

    Liebe Dorothee, mit dieser Einleitung zudem neuen Buch von Chiara Zamboni hast Du mich sehr neugierig auf die weiteren Ausführungen von Chiara Zamboni und auch Deine Gedanken dazu gemacht. Vielen Dank, dass Du die Mühe der Übersetzung und Vermittlung auf Dich nimmst.

  • Dorothee Markert sagt:

    Danke, liebe Juliane. Du weißt ja, dass mich diese Arbeit und ein solches herausforderndes Projekt glücklich macht!

  • Es tut so gut, diese Einführung in das Buch von Chiara zu lesen. Vielen Dank, liebe Dorothee, für deine wunderbare Arbeit. Ich freue mich sehr darauf, geführt von deiner unnachahmlich einfühlsamen Sprache, Einblick in das Werk zu bekommen.

  • Wie wunderbar inspirierend und gross! Ich freue mich auf das Weitere!

  • Ulrich Wilke sagt:

    Mit “spüren” ist “sentire” vortrefflich übersetzt.
    Die Einführung macht Hunger nach mehr. Das “Scheitern der Sprache” gaukelt uns einen
    Mangel vor, den wir ohne Sprache nicht hätten. Ohne Sprache jedoch könnten wir gar nicht denken; vielmehr nötigt uns Erkennen neue Begriffe ab. Es ist verdienstvoll, dass Chiara Zamboni unbewusstes Wahrnehmen ins bewusste Sein erhebt. In meinem Philosophiezirkel
    ( Autonomes Seminar) sind Menschen, die möchten die Natur zu einem Rechtssubjekt machen, damit wir sie anwaltlich vertreten können, um ihre Rechte einzufordern. Diese Denkweise will deutlich machen, dass Menschen Teile der Natur und verantwortlich für Folgen ihres Tuns sind. Während profitorientierte Kapitalisten ihre Entscheidungen nach
    Maximalgewinn ausrichten, werden Stimmen laut, die auf die Folgen aufmerksam machen
    und verhindern wollen, dass wir an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen. So wächst der
    Einfluss der “Naturphilosophen” ins Politische. Und Politiker müssen vom Kampf um die Macht zum Abschätzen des Machbaren gezwungen werden: mit der Natur auf Du und Du.

  • Fidi Bogdahn sagt:

    „Je mehr wir dem Spüren Raum geben und uns ihm gegenüber öffnen, um so mehr werden wir mit der Frage nach der Sprache konfrontiert. Denn das Gefühl der Überfülle im Spüren entspringt aus dem Inneren der Symbolsprache und zeigt in Wirklichkeit das Scheitern der Sprache an, die für diese Erfahrung nur inadäquate Formulierungen zur Verfügung stellt.“
    Danke fürs hinspüren, Dorothee!

  • und kommt nicht überhaupt die Trennung erst durch den Spruch “Macht Euch die Erde untertan” in die Gesellschaft? Andere Kulturen, andere Sprachen, andere Religionen, Schöpfungsgeschichten/Mythen haben diesen Anspruch nicht!
    In der Schweiz sind bereits die Tiere Rechtssubjekte und man möchte es auch den Pflanzen, Landschaften etc. zugestehen! Merci in Vorfreude auf weitere Anregungen, Debatten.

  • Fidi Bogdahn sagt:

    Zu Adelheids Kommentar:
    Könnte es nicht gut sein, dass zum Verständnis besagten Spruchs
    aus der Bibel das hinspüren aus obigem Artikel angebracht wäre?
    Anders lässt sich für mein Empfinden die Bibel doch gar nicht lesen.

  • Gudrun Nositschka sagt:

    Mich hat lange der Spruch “Macht euch die Erde untertan” gestört, kannte ich aus der Geschichte doch nur den Begriff als Untertanen von Herrschern. Mittlerweile will ich nicht ausschließen, das dieser Spruch bedeutet: “Lernt von der Erde, von ihrer Natur und sie wird euch nähren wie euch eure Mütter vor und nach der Geburt genährt haben, damit ihr leben könnt.”

  • Anne Newball Duke sagt:

    Liebe Dorothee, vielen vielen Dank!! Es ist ja so spannend, dass nun auch Chiara Zamboni hier weiterdenkt. Ich lese gerade von Robin Wall Kimmerer “Geflochtenes Süßgras. Die Weisheit der Pflanzen”, und zuvor habe ich das kleine Büchlein “Die Grammatik der Lebendigkeit” (im “Süßgras” wird es dann mit “Belebtheit” übersetzt…) gelesen; in dem kleinen Hiddenseer Verlag w_orten & meer herausgegeben. In beiden Büchern – in ersterem viel genauer – nimmt sie die Möglichkeiten der englischen Sprache auseinander, die schon in ihren Personalpronomen alle nichtmenschlichen Lebewesen in ein “it” steckt; und zwar egal, ob es sich um “Baufahrzeuge, Brillen, Blaubeeren und Bienen”, also “um unbelebte industrielle Produkte oder lebendige Wesen” handelt. Sie schreibt: “Wir haben im Englischen eine spezielle Grammatik für das Menschsein. Wir würden niemals über eine verstorbene Person sagen: ‘Es liegt im Eichenwald-Friedhof begraben.’ Diese Sprachgebrauch wäre sehr respektlos und würde die Person ihrer Menschlichkeit berauben. Stattdessen nutzen wir eine spezielle Grammatik für Menschen: wir unterscheiden sie durch den Gebrauch von er oder sie* [dazu gibt es eine lange Anmerkung, die ich hier weglasse], mit einer Grammatik des Menschseins für sowohl lebende als auch tote Homo sapiens. Und doch sagen wir im Englischen von der Goldamsel, die den Trauernden von den Baumkronen her Trost spendet, oder von der Eiche selbst, unter der wir stehen: ‘Es lebt oder wächst auf dem Eichenwald-Friedhof.’ In der englischen Sprache unterscheidet sich allein der Mensch, während alle andere Lebewesen mit den nicht lebendigen ‘Its’, also den ‘Es’, in einen Topf geworden werden.” (S.17 im kleinen Büchlein) Sie zeigt, was das mit den Menschen und ihrer Weltsicht macht. Und ich liebe solche Sätze, mit der sie uns Menschen in gewissem Sinne eingliedert unter andere Lebewesen: “Dankbarkeit basiert auf dem Wissen, dass unsere eigene Existenz auf den Gaben derer beruht, die der Fotosynthese fähig sind.” (S. 10 im kleinen Büchlein) Hier sind die Pflanzen kein “it” mehr. “Wörter haben Gewicht”, schreibt sie. Und dass sie selbst nie gedacht hätte, “dass ich irgendwann zur Verfechterin der Grammatik als Werkzeug der Revolution werden würde” (ebd., S. 23), denn: “Der Zusammenhang zwischen der Struktur einer Sprache und dem charakteristischen Verhalten einer Kultur sind nicht kausal, aber in der Sprachwissenschaft und Psychologie sind sich viele einig, dass eine Sprache unbewusste kulturelle Vorannahmen aufzeigt und einen gewissen Einfluss auf Gedankenmuster hat” (ebd., S. 25).
    Von daher meine ich schon, dass Sprachen auch “Mängel” in sich tragen können; nicht immer müssen ganz “neue Begriffe” gefunden werden. Vielen indigenen Sprachen ist (leider oftmals schon: war) ein ganz anderer Umgang, eine ganz andere Beziehungsweise mit belebter, aber auch unbelebter Natur inhärent. Wir können und müssen so viel von ihnen lernen und unsere europatriarchal geprägten Sprachen weiten und entfalten, wenn wir diesen Planeten noch weiter als Menschen bewohnen wollen. Ich freue mich sehr darauf, was Chiara Zamboni mit diesem großen Komplex macht! Danke, liebe Dorothee, große Vorfreude auf die nächsten Abschnitte!!

  • Dorothee Markert sagt:

    Vielen Dank für die Kommentare und die Bereitschaft, sich auf dieses ganz andere Denken einzulassen. Auch Chiara Zamboni schrieb mir, sie habe die Kommentare mit großem Interesse gelesen. Inhaltlich möchte ich jetzt noch nicht auf sie eingehen, freue mich aber schon auf das gemeinsame Weiterdenken, nachdem ich noch etwas mehr aus dem Buch vermittelt habe.

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