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Rubrik denken

Geschlechterdifferenz und Natur

Von Dorothee Markert

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“Die Natur spüren und schreiben”

Nachdem Chiara Zamboni in den ersten beiden Kapiteln anhand des Denkens zweier Schriftstellerinnen gezeigt hat, wie ein anderes Sprechen und Schreiben über die Natur aussehen und was „Liebe zur Natur“ bedeuten könnte, kommt im dritten Kapitel die Geschlechterdifferenz ins Spiel. Chiara Zamboni beschäftigt sich hier zunächst mit dem ökofeministischen Denken. Es geht in diesem Kapitel weniger um Geschlechterdifferenz in der Natur selbst, sondern vielmehr um die geschlechtliche Differenzierung menschlicher Denkweisen der Beschäftigung mit der Natur, die sich auf Entscheidungen im Denken und in der Politik auswirken. 

Aus der griechischen Kultur haben wir die Symbole einer geschlechtlich differenzierten Natur geerbt, die einen Mythos von Weiblichem und Männlichem prägten, der unsere Vorstellungswelt, das Imaginäre, bis heute bestimmt. Beispielsweise ist in der Theogonie des Hesiod, einer der ersten Schöpfungsgeschichten, die Erde weiblich. Aus dem geschlechtlich unbestimmten Chaos entstand in jener Erzählung zuerst die Nacht, dann gebar Gaia, die Erde, aus sich heraus den Himmel mit den Sternen, dann die Berge und das Meer. Erst danach gebar sie nach der Vereinigung mit dem männlichen Uranos weitere Wesen. 

Auch wenn sich die Bilder und Abfolgen in unterschiedlichen Schöpfungsmythen unterscheiden und beim Vergleich geschlechtlicher Zuschreibungen in verschiedenen Sprachen – z.B. zu Sonne, Mond, Himmel und Meer – willkürlich erscheinen, können wir nichts dagegen tun, dass unsere Vorstellungswelt beim Erlernen der Sprache über die Grammatik massiv in diesem Sinne beeinflusst wird. So entsteht eine unauflösliche Verknüpfung zwischen Natur, Sprache und geschlechtlichen Zuschreibungen.

Der Begriff „Natur“ geht auf das lateinische Wort „natus“ (geboren) zurück und meint daher eigentlich mehr das Geborene und Geschaffene als das Gebären und Hervorbringen (nasci), von dem es abgeleitet ist. Trotzdem ist der Begriff mit beiden Bedeutungen verknüpft (natura naturans und natura naturata). Dass Natur grammatikalisch weiblich ist, verstärkt den Aspekt des Gebären-Könnens, denn hier überlagern sich die beiden semantischen Bereiche „Frauen“ und Natur“, was sich wiederum auf die Vorstellungswelt, das Imaginäre, auswirkt. Gegen die symbolische Verknüpfung von Frauen mit der Natur wehrte sich die weibliche Kultur immer wieder.

Chiara Zamboni beobachtet, dass ökofeministische Texte jener Verknüpfung zwischen Frauen und Natur immer nach einem ähnlichen Schema entgegentreten: Zunächst wird gezeigt, dass die Frauen in der dominierenden männlichen Kultur mit der Natur identifiziert werden. In einem zweiten Schritt wird dies als Ausdruck der männlichen Vorstellungswelt, des männlichen Imaginären, die das Symbolische geprägt hat, in Frage gestellt. Nachdem dann gezeigt worden ist, wie sich jene männlichen Interpretationen in der Alltagssprache, der Philosophie, der Theologie, der Anthropologie usw. abgelagert haben, wird schließlich die Notwendigkeit hervorgehoben, dass Frauen von sich selbst ausgehend ihre Verbindung zur Natur zurückgewinnen und zum Ausdruck bringen, mit Worten, die dem treu bleiben, was sie selbst spüren und wahrnehmen.

Dieses rhetorische Vorgehen finden wir beispielsweise in den drei ökofeministischen Texten, die inzwischen als Klassiker gelten: Der Tod der Natur. Ökologie, Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft von Carolyn Merchant, Liebe, Macht und Erkenntnis von Evelyn Fox Keller und Eine Erde für alle! von Vandana Shiva.

Dass ein solches Vorgehen notwendig ist, um zu einem wahrhaftigen subjektiven weiblichen Diskurs über die Natur zu gelangen, führt Chiara Zamboni darauf zurück, dass Frauen im Zentrum männlicher Kulturproduktion stehen, weil sie die Fähigkeit haben, Leben zu geben. Damit sind sie eingebunden in eines der mächtigsten Symbole des Heiligen, die Geburt. „Gebärend etwas hervorzubringen ist eine symbolische Tatsache, über die wir nur ein Teilwissen haben, während sie in ihrem wesentlichen Kern ein Geheimnis bleibt, ebenso wie die Sexualität. Daher wird der weibliche Körper zu einem Ort des Konfliktes und der Aneignung, gleichzeitig auch zu einer Quelle von Autorität. Er ist der neuralgische Punkt des Austauschs, der Auseinandersetzung und des Strebens nach Herrschaft im Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Ein offenliegender pulsierender Nerv, heute wie in den Ursprüngen der Zivilisation“ (S. 61).

Heute zeigt sich das besonders in der Auseinandersetzung über die künstliche Reproduktion und den Versuch der naturwissenschaftlichen Intelligenz, der Produktion des Lebens ihren eigenen Stempel aufzudrücken, während den Frauen die Autorität entzogen wird, Schwangerschaft und Geburt auf die von ihnen als sinnvoll erkannte Weise zu gestalten. Zugedeckt wird diese grundlegend wichtige Auseinandersetzung mit der Idealisierung wissenschaftlichen Fortschritts und dem „ideologischen Vorhang“ seiner Neutralität (S. 62). (In ihrem 2019 erschienenen Buch „Schwangerwerdenkönnen“ stellt Antje Schrupp ausführlich dar, auf welche Weise jener „neuralgische Punkt“ im Verhältnis zwischen Frauen und Männern, jener Stachel im Fleisch der Gleichstellung, heute umkämpft ist, und welche politischen Veränderungen dringend geboten wären, damit Schwangerschaft und Geburt in einem Rahmen stattfinden könnten, der ein gutes Leben von Frauen und ihren Kindern eher gewährleistet als die derzeitige Praxis. DM).

Der Konflikt über die Bedeutung, die der Verbindung zwischen Frauen und Natur gegeben werden soll, geht durch unsere ganze Zivilisation, doch die Kultur feministischer Prägung seit den 1970er-Jahren konnte jenen Streit dahingehend verändern, dass er öffentlich gemacht wurde und politische Bedeutung bekam. Ein Meilenstein war hier der Text Der Geschlechtervertrag von Carole Pateman, weil darin die Schachzüge der männlichen Kultur offengelegt wurden, mit denen die Herrschaft über die Frauen hinter vorgeblicher Gleichheit der Individuen und hinter Vertragstheorien verborgen wurde.

Verändert hat sich durch den Feminismus und den Einschnitt des Geschlechterdifferenzdenkens, dass Frauen die Freiheit symbolischen Urteilens im politischen Raum mit anderen Frauen gewonnen haben, die ihnen erlaubt, die Verknüpfungen zwischen Frauen und Natur im Imaginären in Frage zu stellen, ohne dass sie sie notwendigerweise ganz von sich weisen müssen, aber auch ohne sich in ihnen weiterhin gefangen zu fühlen. Diese neu gewonnene symbolische Fähigkeit wurde unterschiedlich benannt, als „Ausüben weiblicher Autorität“ oder als „zu aktiven Subjekten des Diskurses Werden“. Es geht darum, dass Frauen in erster Person dem Bedeutung geben, was sie im Bezug zur Natur leben und erleben, ohne dies an die vorgegebenen Ordnungen und ihre Interpretationen zu delegieren.

Auf philosophischer Ebene sei hier der Konflikt zwischen dem Denken Jacques Lacans und Luce Irigarays über die Unterscheidung von Symbolischem und Imaginären wichtig gewesen. Lacan bestand darauf, diese beiden Erfahrungsebenen getrennt zu halten, während Irigaray, die den Körper als Bedeutungsträger rehabilitierte, den Diskurs für das Imaginäre öffnete. In ihren Texten bemühte sie sich darum, dem weiblichen Imaginären ausgehend vom symbolischen Diskurs Raum zu geben. Denn der symbolische Diskurs sei nie vom Imaginären getrennt, da der geschlechtliche Körper als Bedeutungsträger immer ins Spiel komme (vgl. S. 63).

Hier erinnert Chiara Zamboni an die Aussage Vandana Shivas, man könne die Natur nicht frei lieben ohne Dekonstruktion der herrschenden Ordnungen, die Frauen und Natur gleichsetzen. Dabei sollte die Dekonstruktion der Identifikation von Frauen und Natur im Mythos aber nicht als aufklärerischer und rationalistischer Akt gesehen werden, fügt Chiara Zamboni hinzu. Denn es geht nicht darum, aus einem symbolischen Paradigma auszusteigen, um eine abstrakte Freiheit zu gewinnen, die zu einer beliebigen und gleichgültigen Beziehung der Natur gegenüber führen würde. Dabei würde nämlich die materielle Grundlage des Denkens der Frauen geleugnet, stattdessen würde das rationalistische Modell übernommen werden, das so tut, als seien wir Individuen ohne Bindung an unseren Körper und hätten niemandem und nichts etwas zu verdanken. Also ohne Anerkennung unserer Abhängigkeiten. 

Das feministische Denken kritisierte ein solches Unsichtbarmachen unserer Abhängigkeit von der Natur und unserem materiellen Hintergrund heftig. Immer wieder wurde unterstrichen, wie wichtig es ist, dass wir lernen, mit den konkreten, körperlichen Bindungen umzugehen und dass wir anerkennen, was wir all dem verdanken, das uns das Leben ermöglicht hat, in allererster Linie dem Werk der Mutter. „Durch die schmale Tür der Anerkennung jener materiellen Abhängigkeiten kann die freie Bedeutungsgebung dessen möglich werden, was wir sind und was wir spüren im Bezug zur Natur“ (S. 64). Von dort aus können wir die mythischen Vorstellungen von der Natur in Frage stellen, ohne uns mit ihnen zu identifizieren, aber auch ohne sie abzulehnen. Statt heftiger Ablehnung jener Vorstellungen, durch die wir möglicherweise erst recht in ihnen gefangen bleiben, schlägt Chiara Zamboni vor, dass wir an einer fruchtbaren Beziehung zum Unbewussten arbeiten im Hinblick auf unsere Bindungen an den Körper, im Hinblick auf unsere Fähigkeit, Leben hervorzubringen, und im Hinblick auf die Natur. (Mit diesem Buch leistet sie einen wichtigen Beitrag dazu, DM).

Vergleichen wir Terra Madre von Vandana Shiva, die von der Erfahrung indischer Frauen ausgehend denkt, mit den Texten westlicher Ökofeministinnen, nehmen wir wahr, wie die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Kulturen die Bildung der Symbole beeinflusst, mit denen die Beziehung zwischen Frauen und Natur zum Ausdruck gebracht wird. Das wirkt sich auch auf das Verständnis ökofeministischer Politik aus. Vandana Shiva zufolge hat die Mehrheit indischer Frauen ebenso wie die Mehrheit der Frauen in Afrika und Südamerika in ihrer Alltagsarbeit bis heute einen starken praktischen Bezug täglichen Austauschs mit der Natur. Daher können jene Frauen sehr gut mit „Mutter Erde“ und ihren Bedeutungen umgehen. Während die landwirtschaftliche Ernährungsindustrie nur auf Bedürfnis befriedigende Reproduktion ausgerichtet ist, die die Erde ausbeutet und langfristig steril werden lässt, sind jene Praktiken des Austauschs mit der Erde auf Ernährung und Wohlbefinden ausgerichtet, sowohl für die Menschen als auch für die Erde, die ebenfalls Nahrung braucht und in einem guten Zustand sein soll. 

Das rationalistische westliche Paradigma leugnet die Abhängigkeit von der Natur im Hinblick auf ein gutes Leben. Es macht aus der Natur ein Feld naturwissenschaftlicher Forschung und der Ausbeutung von Ressourcen. Die Natur wird zu einer Ressource für die Produktion. Dieses Denken geht auf die Aufklärung zurück, deren tragendes Element die Gleichheit der Individuen zusammen mit einer Vernunft ohne Verpflichtungen und Wurzeln war. Jener Rationalismus macht aus dem Körper – und insbesondere aus dem weiblichen Körper im Hinblick auf seine Fähigkeit, Leben hervorzubringen – ein Wissensobjekt, das durch die Technik manipuliert werden kann. Inwieweit der weibliche Körper ebenfalls als ökonomische Ressource gesehen und behandelt werden darf, bleibt umstritten. Aus Sicht der Frauen ist das eine grundlegend wichtige politische Auseinandersetzung.

Vandana Shiva macht deutlich, dass die Naturwissenschaft, wie sie auch in Indien Fuß gefasst hat, nichts mit der indischen Kultur zu tun hat. Sie selbst, die in Kanada zur Wissenschaftsphilosophin ausgebildet wurde und sich insbesondere mit Quantenmechanik befasste, entwickelte nach ihrer Rückkehr nach Indien eine Forschungsrichtung, die sich mehr an der indischen Kultur und an der weiblichen landwirtschaftlichen Praxis ausrichtete. Sie unterstützte die Kämpfe indischer Frauen gegen die Landenteignungen durch multinationale Konzerne. Die Wurzeln der Prinzipien der Naturwissenschaften der Gegenwart, die sie gründlich studiert hat, seien der indischen Kultur fremd. Vandana Shivas Position zeigt uns, aus welchem Denken heraus Ökologinnen und Feministinnen aus nicht-europäischen und nicht-nordamerikanischen Ländern sprechen. 

Frauen aus der westlichen Kultur müssen dagegen einen doppelten Salto schaffen. Einerseits müssen sie – müssen wir – einer Gleichsetzung von Frauen und Natur entgegentreten, zu der eine jahrhundertelange männliche Herrschaft geführt hat. Andererseits leben wir in einer naturwissenschaftlich-technischen Kultur, die seit dem siebzehnten Jahrhundert zur wichtigsten Instanz im Umgang mit der Natur geworden ist. 

Die klassischen ökofeministischen Texte helfen Chiara Zamboni, auf die subjektive Position hinzuweisen, die wir im Rahmen des materiellen Verbundenseins mit der Natur einnehmen können und unterstreichen die weibliche Asymmetrie in dem Prozess, dies zum Ausdruck zu bringen. Die Asymmetrie hat zu tun mit der Abhängigkeit von den körperlichen Zyklen und der Fruchtbarkeit, mit einer anderen Beziehung zur Zeit und mit einem Erfahrungswissen, das durch die Wissenschaften angereichert ist. 

Während die Ökologie die Welt als ein Netz unendlich vieler Verbindungen zeigt und das Subjekt als abhängig von jenem Netz, zeigt uns das Denken der Frauen die weibliche Asymmetrie, die sich darauf bezieht, wie wir jenen Verbindungen Bedeutung geben und sie zum Ausdruck bringen. Es ist ein anderer Blick, in dem auch traumhafte und unbewusste Aspekte mitschwingen, die die Frauen mit dem Körper erfahren. Und dieser Körper sei nie wirklich ein „eigener Körper“, sondern er stehe in Beziehung zur Mutter, zur Geburt und dem Bezug zu anderen Frauen, fügt Chiara Zamboni hinzu. Es sei ein Körper im Werden und Hervorbringen, ein Körper, der konstitutiv zum Anderen hin offen sei, zwischen Symbolischem und Imaginären (vgl. S. 67).

Für das Denken der Geschlechterdifferenz war die Arbeit von Luce Irigaray sehr wichtig, die Bilder für die weibliche Erfahrung der Sexualität entwickelt hat, beispielsweise vom Sich-Öffnen, vom Offenen, vom Berühren, vom Annehmen des Anderen in Ethik der sexuellen Differenz. Es sind Bilder, die die weibliche Erfahrung vermitteln, indem sie sie zum Ausdruck bringen. Sie sollten aber Chiara Zamboni zufolge nicht als existentielle Erfahrung weiblicher Sexualität missverstanden werden, sondern als Aussagen über eine weibliche Erfahrung im Werden. 

Wenn wir uns mit solchen Bildern auseinandersetzen, die gleichzeitig symbolisch und aus Erfahrungen entwickelt sind, zeigt sich, dass es nicht auf der einen Seite das natürliche biologische Geschlecht und auf der anderen Seite die Sprache, die Kultur und eine abstrakte Freiheit der Bildgebung ohne materiellen Hintergrund gibt. Symbolische Figuren sind lebendig und verändern sich. Sie erlauben uns, Brücken zu entdecken zwischen Erfahrung und Diskurs. Wir sollten uns klarmachen, „dass es kein natürliches Leben gibt, das von unserem Darüber-Sprechen unabhängig ist, während wir andererseits das Leben nicht erfinden, das uns gegeben ist“ (S. 68). 

Das Leben wirkt in unser Sprechen hinein durch ihm eigene Zeichen: durch Verwerfungen in der sprachlichen Linearität, subjektives Leiden, Fehler, Auseinandersetzung, Begegnung, Einbrechen von Notwendigkeiten, durch Träume und Augenblicke der Kontemplation. 

Es gibt zwei Pole: Auf der einen Seite die symbolischen Figuren, mit denen wir die Beziehung zum Körper, zur Natur und zur Sexualität beschreibend zum Ausdruck bringen, auf der anderen Seite das unvorhergesehene und nicht gewollte Hereinwirken von Körpersymptomen, von natürlichen Zeitabläufen mit all dem, was sie an Unumgänglichem mit sich bringen, wobei sie Unruhe und Hoffnungen in den menschlichen Träumen erzeugen. Das Differenzdenken hat herausgearbeitet, dass der gemeinsame Beginn jener beiden Pole, der Sprache und der Welt, in der Muttersprache liegt. Dabei geht es um eine grundlegend wichtige philosophische Frage. „Nach diesem Denken bringt uns die Mutter gleichzeitig zur Welt und zur Sprache. Dies beginnt bereits, wenn eine Frau an das Kind denkt, das sie erwartet. Wenn sie es sich vorstellt. Sie bereitet bereits eine symbolische sprachliche Wiege für das Kind vor, bevor es auf die Welt kommt. Beim Geborenwerden sind wir also bereits in Worte eingekleidet. Die Öffnung für die Welt wird von Worten begleitet. Das Zur-Welt-Kommen und das Sich-Öffnen für die Sprache findet also in einem einzigen Vorgang statt“ (S. 69). 

Wenn wir also an unsere Beziehung zur Natur denken, geschieht das durch das Bild des doppelten Sich-Öffnens für die Welt und die Sprache. Daraus folgt, dass die Natur nicht unabhängig von der Sprache denkbar ist, mit der wir über sie sprechen. Wir haben keinen nicht-sprachlichen Zugang zur Natur, weil unser Zur-Welt-Kommen immer ein Zur-Sprache-Kommen ist. Gleichzeitig öffnet sich die Realität für uns auf sinnliche Weise, über das Hören, Fühlen und Sehen, und wir öffnen uns für sie. Alle Sinne sind einbezogen. Unser Körper passt sich an die Jahreszeiten und den Wechsel von Tag und Nacht an, auch an Wind, Stürme und Gewitter. Und dieses Wahrnehmen von Zeit, Wetter, Anordnung von Dingen, von Himmel und Stadt ist Teil unseres Geborenseins in die Welt hinein, das nie abgeschlossen ist. Es ist immer im Werden und in Veränderung. Unser Zur-Welt-Kommen und das Kommen der Welt zu uns ist ein unendlicher Prozess. 

Jenes Sich-Öffnen für die Sprache und die Welt im Rahmen der Beziehung zur Mutter ist ein Vorgang, der das ganze Leben lang weitergeht. Doch trotz des gemeinsamen Ursprungs handelt es sich um zwei unterschiedliche Erfahrungen. Sprache und Welt sind nicht dasselbe, auch wenn sie Teil derselben Öffnungsbewegung sind.

An dieser Stelle kritisiert Chiara Zamboni Hannah Arendts Unterscheidung von zoe und bios in ihrem Buch Vita activa. Nach jenem Konzept ist zoe das biologische Leben, das von Bedürfnissen und reiner Reproduktion gekennzeichnet ist, während bios das Leben ist, das wert ist, erzählt zu werden, das eigentliche menschliche Leben. Der Vorstellung von einer Natur, in der sich Leben und Tod in zyklischen Bewegungen abwechseln, steht die Vorstellung einer Welt gegenüber, in der Leben und Tod menschliche Bedeutung bekommen. Diese Welt ist nach Arendt aus menschlichen Werken zusammengesetzt, man kann von ihr erzählen, und sie ermöglicht den Abstand zwischen den Menschen. Dagegen ist die Natur der unendliche Kreislauf, in dem Leben und Tod sich nach biologischen Notwendigkeiten auf immer gleiche Weise abwechseln. Es stimmt zwar, dass Arendt von der Geburt als politischer Kategorie spricht, doch sie macht daraus eine Metapher für den möglichen Neuanfang in der Geschichte, ohne körperliche Verwurzelung. Die Gegenüberstellung Arendts beachtet nicht, dass wir aus einem einzigen Ursprung zur Welt kommen, der sich dann sowohl zur Sprache als auch zum biologischen Leben hin öffnet.

Die Unterscheidung von bios und zoe, die Hannah Arendt in das Denken des zwanzigsten Jahrhunderts eingebracht hat, fand Eingang in die Arbeiten Michel Foucaults über die Biopolitik, die wiederum breite Aufnahme fanden und dazu beitrugen, dass unsere Gegenwart weithin als Epoche interpretiert wurde, in der die Machtorgane immer mehr Kontrolle über das biologische Leben ausüben. Chiara Zamboni stellt jenem Denken des totalen Ausgeliefertseins an die Macht, das allenfalls in Demokratien durch politisches Handeln aufgrund von Gesetzen gemildert wird, wie es Giorgio Agamben vertrat, ihre eigene Position entgegen:

„Das Sich-Öffnen der mütterlichen Sprache zur Welt und der Welt zur Sprache in der Geburt zu denken, ist ein symbolischer Durchgang, der Quelle von Autorität ist und Orientierung schafft. Dieses Denken macht es möglich, einen anderen symbolischen Raum offen zu halten als den der jeweils historisch dominanten Herrschaftspolitik“ (S. 71).

Chiara Zamboni, Sentire e scrivere la natura. Mimesis Edizioni (Milano – Udine) 2020, 217 S., 20 €

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Autorin: Dorothee Markert
Redakteurin: Dorothee Markert
Eingestellt am: 12.02.2022
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Fidi Bogdahn sagt:

    Das ist einfach nur toll, dass wir Dorothee Markert “haben”!

  • Liebe Dorothee,
    ich möchte hier auch kurz festhalten, was für ein Geschenk diese Texte für mich sind. Wir haben uns bei der Denkumenta 2019 in St. Arbogast kurz kennengelernt und ich lese schon lange auf diesen Seiten mit, habe aber hier noch nie kommentiert. Jetzt muss ich es einfach tun, damit du weißt, wie (neu)gierig ich auf die folgenden Kapitel bin. Das Thema von Zambonis Buch trifft einen Ort tief in mir drin, der schon so lange nach Antworten, Mit-Denkerinnen, nach Verwandtschaft sucht. Ich arbeite mit Menschen und unserer lebendigen Umgebung und habe ein Programm entwickelt (“Exploring a Sense of Place”) bei dem es darum geht, dass Menschen ihre Beziehung zum Lebendigen gemeinsam erforschen und vertiefen. Seit ich damit vor etwa 8 Jahren begonnen habe war es für mich klar, dass das gemeinsame “Darüber Sprechen” und die Worte, die wir benutzen eine so wichtige Rolle für die gelebte Beziehung spielen. Ich trage ältere Texte von euch allen ständig mit mir rum und versuche im Arbeitsalltag zu verknüpfen und einzubauen, was ich hier (lesend) lerne. Dieses Buch nun verlangt nicht mehr so viel “Übersetzung” von mir – es spricht direkt von meiner Materie und das ist eine solche Freude! Ich fühle mich erfüllt und gleichzeitig in große Bewegung versetzt, um weiter und tiefer damit zu gehen. Dabei bleibt natürlich das Übersetzen, nämlich jenes vom Denken ins Tun die große Sache, die mich herausfordert. (Sollte es weitere Denkumentas oder andere Formate des praktischen gemeinsamen Lernens geben – Hurra!) Liebe Dorothee, ich danke dir für deine Arbeit. Es springen mir daraus genau jene Funken entgegen, die meinem In-der-Welt-Sein Sinn, Orientierung und Geschmack geben.

  • Dorothee Markert sagt:

    Liebe Angelika, hab ganz herzlichen Dank für deinen Kommentar, über den ich mich sehr freue. Wo du doch jetzt schon mal was bei uns geschrieben hast, wäre ein schöner nächster Schritt, einen Text über dein Projekt zu schreiben, ich bin sicher nicht die einzige, die darauf sehr neugierig ist!
    Und auch dir, liebe Fidi, danke für deine Rückmeldung!

  • Ulrich Wilke sagt:

    “Die Sprache beeinflusst unser Denken mehr als das Denken die Sprache” , hat Goethe verlautbart. Sprechenlernen und Geborenwerden sind zwei verschiedene Vorkommnisse;
    es gab Menschen, die ohne sprechen zu können, gestorben sind. Natur existiert auch ohne
    Menschen und Sprache. Sprache und Wissenschaften sind Teile der Kultur.
    Es gibt eine Sprache ohne Genus: Darin sind unpräfigierte Substantive geschlechtslos: Esperanto. Wenns ums Geschlecht geht, muss man Präfixe und Suffixe heranziehen;
    z.B. “bovo” ist ein geschlechtsloses Rind; “bovino” ist “Kuh”, “virbovo” “Ochse” oder “Bulle”.
    Das Sterben ist Mehrzellern vorbehalten; Einzeller können ewig leben (und sich teilen).
    Die Sexualität ist kein Geheimnis mehr: Beim Verschmelzen der Zellkerne wird verglichen
    und eventuelle Defizite werden behoben. Inzest (Inzucht) ist riskant, weil Anomalien, die bei
    Mutter und Vater vorkommen, vererbt werden .

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