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Rubrik denken

Kritik an posthumanem Denken und die Liebe zum System des Lebendigen

Von Dorothee Markert

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Die Natur spüren und schreiben

Im Allgemeinen wurde in der feministisch geprägten Kultur der Schwerpunkt auf das Kontinuum zwischen Natur und Kultur gelegt, zwischen Leben und Wort, oder anders ausgedrückt, auf das Kontinuum zwischen zoe und bios. Das heißt, dass die Kultur der Frauen auf den Körper und die materiellen Wurzeln des Lebens achtete und nie davon abstrahierte. 

Das Geborenwerden von einer Mutter ist ein paradigmatisches Beispiel dafür, dass eine einzelne Subjektivität aus einer dualen Bindung hervorgehen kann. Das zentrale Paradox der Geburt ist, dass sie sich in einer Beziehung entwickelt und dass ein Einzelnes, ein Einzigartiges, aus dieser grundlegenden Beziehung heraus aufblühen kann. Es ist eine in Worte eingekleidete Geburt. Die Worte dafür kommen aus den Bildern und Fantasien der Mutter, die an die Kreatur denkt, die sie erwartet. Ein Subjekt zu werden, ist der schwierige, komplexe Prozess, aus einer schöpferischen Beziehung heraus zu einer Singularität zu kommen, die wiederum im Werden ist. 

In einigen zeitgenössischen Texten feministischer Denkerinnen beobachtet Chiara Zamboni eine Tendenz, dass zwar das Kontinuum zwischen Natur und Kultur bestätigt wird, jedoch der Schwerpunkt dabei auf dem Leben und seiner Unmittelbarkeit liegt, auf der Materialität ohne sprachliche Vermittlungen. Denn das Leben sorge für sich selbst und könne aus sich selbst heraus die Elemente hervorbringen, um sich immer wieder neu zu erschaffen. In solchen feministischen Texten wird zoe zunehmend zu etwas, dem als Einzigem Bedeutung zugesprochen wird, nämlich ausschließlich dem Leben in seiner Materialität und mit seinen Möglichkeiten des Werdens und Hervorbringens.

Eine jener Denkerinnen, die sich zwar auf das Kontinuum von Natur und Kultur beruft, aber in Wirklichkeit nur zoe Bedeutung zuspricht, ist die Philosophin Rosi Braidotti. Am radikalsten nimmt sie diese Position in ihrem Buch Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen (2014) ein. Sie kritisiert ebenfalls den Dualismus bios und zoe, tritt dann jedoch für einen zoe-zentrierten Egalitarismus zwischen den Arten ein. Dies sei für sie der Kern der postanthropozentrischen Wende, die mit dem durch Technologien verlängerten Leben und den Möglichkeiten künstlicher Reproduktion in Zusammenhang stehe. Als Frau stehe sie jenen lebendigen Organismen strukturell noch näher und sei auch anders betroffen davon, wenn ihnen ohne Einwilligung Organe und Zellen entnommen würden.

In ihrem Buch Metamorphosas (2002), in dem Rosi Braidotti sich mit dem Denken von Luce Irigaray und Gilles Deleuze auseinandersetzt, bezeichnet sie den Fötus während der Schwangerschaft als etwas Monströses und Angstmachendes, da er die erkennbare Form eines mit sich selbst identischen Individuums überschreite. An anderer Stelle bezeichnet sie Mutterschaft als etwas, das an der Ausdifferenzierung biologischen Lebens teilhat, also als zoe zugehörig, und nennt sie in einem Atemzug mit dem schnellen Zellwachstum von Krebswucherungen. Sie spricht hier sogar von einem anonymen Stück Fleisch, das in der Mutter heranwachse. Chiara Zamboni stellt dem ihre Sichtweise der mütterlichen Beziehung gegenüber, die das Eine überschreitet und in Richtung auf die Zwei geht, was zweifellos eine körperliche, fleischliche Verbundenheit darstellt, aber von Worten und Bildern begleitet ist. Damit werde symbolischer Raum geschaffen für eine Individualität, die sich von der der Mutter unterscheidet. Braidotti spricht dagegen von einem „Stück Fleisch“, also von einem Teil des mütterlichen Körpers ohne zukünftige symbolische Individualität und ohne eine Wiege von Worten und Vorstellungen der Mutter. Und so kann Braidotti Mutterschaft als Ausdifferenzierung des Lebens analog dem Wachstum von Krebszellen beschreiben, die zu Wucherungen werden.

Braidotti nähert sich in vieler Hinsicht der Position des Antispeziesismus, einer weit verzweigten Bewegung, die darauf hinarbeitet, dass die Privilegierung der menschlichen Art gegenüber den „anderen Tieren“ aufgehoben wird. Der Begriff „Speziesismus“ ist analog zu den Begriffen Rassismus und Sexismus gebildet, die sich auf Diskriminierung aufgrund von Rasse oder Geschlecht beziehen, und meint hier die Diskriminierung und Ausbeutung anderer Arten. Menschen seien nur Tiere neben anderen Tieren und sollten keine bevorzugte Stellung mehr haben. Eine besonders radikale Richtung dieser Bewegung vertritt die These, dass die menschliche Art den Planeten unbewohnbar gemacht habe und deshalb überwunden werde müsse. 

Chiara Zamboni kritisiert feministische Theorien wie die von Rosi Braidotti, „für die das anonyme Leben in seiner Seinsmacht der Haupt-Deutungsträger zum Verständnis des Menschen ist und die Position der Frau noch näher am biologischen Leben angesiedelt wird, weil sie sich auf anonyme Weise vermehrt“ (S. 76). Zambonis im Nachfolgenden dargestellte Kritik könne auch auf die Positionen des Antispeziesismus ausgedehnt werden.

Zamboni kritisiert, dass hier eine Position eingenommen wird, die sich außerhalb des Lebens stellt und es zu einem Objekt macht. Ebenso werden auch die Beziehungen unter den Arten von außen, also objektivierend, betrachtet. Über das biologische Leben und die Beziehungen zwischen den Arten wird zudem so gesprochen, als setze man nicht die Sprache ein, um die eigene theoretische Position zu vertreten, als sei man nicht damit beschäftigt, kulturelle Probleme zu definieren und zu diskutieren. Es wird so getan, als nehme man am unmittelbaren biologischen Leben teil, ohne selbst sprachliche Vermittlungen zu nutzen, um über dieses Teil-Sein nachzudenken. Doch die Texte und politischen Manifeste jener Denkerinnen seien doch sehr wohl Ausdruck einer Kultur, die sich Fragen stellt und sich selbst in Frage stellt, die Besorgnisse äußert, die den Schwerpunkt auf bestimmte Deutungen legt und andere verwirft, um schließlich ein gerechteres Handeln gegenüber den Tieren voranzubringen. Hier werde dem Leben der Natur Bedeutung gegeben, mit dem wir von innen heraus verbunden sind, nicht von außen. Ein Teil davon zu sein bedeutet, dass wir uns der Tatsache bewusst sind, dass unser Schicksal eng mit dem der Erde verbunden ist und dass wir alle, die zusammen die Erde bewohnen, dennoch unterschiedliche Kulturen ausgebildet haben. 

Die ethische Haltung gegenüber Tieren, die der Antispeziesismus vertritt, sei doch aus ganz menschlichen Fragen und Fürsorglichkeiten entstanden, die Tiere nicht nur nicht leiden zu lassen, sondern gerechte Formen des Zusammenlebens mit ihnen zu entwickeln. Chiara Zamboni meint damit neue Formen des Austauschs, die von den Unterschieden ausgehend entwickelt werden und nicht durch die Leugnung oder Auslöschung von Unterschieden. Beispielsweise unterscheidet sich das symbolische Gewebe, das ein Mensch mit einem Hund herausbildet, von dem, das er mit einer Spinne hat, und auch ein Hund und eine Spinne schaffen unter sich ein anderes symbolisches Feld, ausgehend von ihren Unterschieden. Die symbolischen Felder der Tierarten und der einzelnen Tiere innerhalb und zwischen den Arten sind vielfältig.

In ihrem Buch stellt Chiara Zamboni daher die Positionen von Ortese und Merleau-Ponty dar, die für sie Führer in Bezug auf jenes Thema sind. Ortese nimmt wahr, wie sich ein dritter Ort auftut im Blickkontakt zwischen ihr und jenem bestimmten Tier, mit dem sie in Beziehung ist – nicht zwischen ihr und irgendeinem anderen Tier. Von jener subjektiven Erfahrung ausgehend, durch die sie eine Ahnung von einem ihr gemäßen Heimatland bekommt, findet sie zu der gemeinsamen Teilnahme aller Wesen an der Bewegung des Kosmos und seiner unerforschlichen Ordnung. Merleau-Ponty bringt den symbolischen Fähigkeiten der Menschen ebenso viel Wertschätzung entgegen wie denen der Tiere, die er als anders, aber genauso bedeutsam betrachtet. Ihre symbolischen Fähigkeiten seien äußerst vielfältig und müssten in ihrer Differenz erfasst werden. Anstatt den Menschen auf das Tier zu reduzieren, stellt er die spezifischen symbolischen Formen heraus, die die Tiere entwickeln. Jedes Tier schaffe eine Welt des Symbolischen. Wie Ortese erkennt auch Merleau-Ponty eine gemeinsame mythische Herkunft von Menschen und Tieren an. Im Traum und in Ursprungserzählungen sei es möglich, ineinander überzugehen, während im Wachsein die vielfältigen Differenzierungen zum Tragen kämen.

Für Chiara Zamboni ist der Antispeziesismus eine sich entwickelnde Kultur, die sich von der traditionellen Kultur distanziert und sich deshalb selbst als antikulturell versteht, weshalb Antispeziesisten meinen, nur am reinen anonymen Leben teilzuhaben. Doch jene Bewegung ist natürlich weiterhin eine menschliche symbolische Kultur, die Möglichkeiten entwirft, wie die Beziehungen zu den Tieren und der Erde neu gedacht und gestaltet werden könnten, und die sich damit im Konflikt mit anderen symbolischen Positionen befindet.

Der letzte Teil von Chiara Zambonis drittem Kapitel ist der Ökologin Laura Conti gewidmet, die von 1921 bis 1993 lebte, „der Mutter der ökologischen Bewegung in Italien“ (S. 78). Durch ihr Medizinstudium bekam Laura Conti Zugang zu den Biowissenschaften. Von den 1970er-Jahren an schrieb sie viel über Ökologie im streng wissenschaftlichen Sinne. Dafür holte sie sich die Unterstützung von Freunden, die Physiker, Wirtschaftswissenschaftler und Umweltwissenschaftler waren. Nie verlor sie allerdings das politische Handeln für ein gutes Leben aller aus den Augen, zu denen jenes Wissen beitragen kann. Sie war aktiv in der Ökologiebewegung sowie in einer Partei und in verschiedenen Institutionen. Wenn sie irgendwo eingriff, geschah das auf der Basis von gründlich erforschten Argumentationen. Sie war sich der Widersprüche des Systems des Lebendigen bewusst, mit denen sich eine Politik für die Erde auseinandersetzen, die sie aber nicht lösen kann.

Chiara Zamboni interessiert sich für Laura Contis Denken, weil diese die Vorstellung eines Gesamtsystems in Worte fasste, das heißt, dass sie in einer Gesamtschau die gegenseitigen Abhängigkeiten aller beteiligten Elemente berücksichtigte, doch von einer subjektiven Herangehensweise ausgehend. Ihre Konzeption erfasst die Komplexität von Beziehungen und sieht in den Beziehungen das tragende Element, um den Planeten zu verstehen, doch ohne die besondere Position des wissenden Subjekts zu vergessen. Die Menschen sind ein Aspekt des Systems des Lebendigen und nicht diejenigen, die die Kontrolle über dieses System haben. Laura Conti geht daher von dem Bewusstsein aus, „dass wir an einem System teilhaben, das in seiner Gesamtheit nicht von uns abhängt, auch wenn wir zu seinen Gunsten handeln können. In diesem Kontext stützt sich politisches Handeln für das Lebendige zwar durchaus auf klare Argumente, doch wir gehen ein großes Risiko ein, dabei zu scheitern“ (S.79). Das hat damit zu tun, dass unsere mentale Struktur nicht in der Lage ist, wirklich alle Umweltelemente und ihre Verbindungen zu erfassen, da wir jeweils nur eine Gruppe von Beziehungen in den Fokus rücken können.

Als Zugang zum Verstehen des Systems des Lebendigen wählte Laura Conti das Konzept der Energie und ihrer Transformation. Sie konzentriert sich auf die Tatsache, dass bei der Transformation von Energie das zweite Prinzip der Thermodynamik gilt, das der Degradation. Immer wenn eine Form der Energie in eine andere verwandelt wird, kommt es zu einem irreversiblen Verlust, der darin besteht, dass ein Teil der Energie in Wärme verwandelt wird. Das ist die negative Entropie. Und in diesem Zusammenhang sind die Pflanzen sehr wichtig. Laura Conti schreibt in Ambiente Terra. L’energie, la vita, la storia (1988, S. 138):

„Das System des Lebendigen in seiner Gesamtheit ist ein System in zwei Phasen: Die Phase der Fotosynthese ist eine Transformation von Strahlungsenergie in eine Energie chemischer Verbindungen, begleitet von minimaler Wärmeproduktion; in der Phase der Fotosynthese werden die ungeordneten CO2- und H2O-Moleküle zu komplexen, geordneten Molekülen umgeformt: Die Fotosynthese ‚’bringt also Ordnung in die Unordnung’ und […] wirkt so der zunehmenden negativen Entropie entgegen; die Atmung dagegen verwandelt die komplexen, geordneten Moleküle in einfache und ungeordnete, wodurch die entropische Degradation beschleunigt wird“ (zit. n. Zamboni, S. 80, Ü DM).

In den letzten Jahrhunderten verstärkten die Menschen auf exponentielle Weise die Verwandlung von Energie und in Folge davon die Produktion von Wärme, so dass die Fotosynthese die Situation nun nicht mehr ausgleichen kann. Wenn von thermischer Belastung gesprochen wird, sind damit zwei unterschiedliche Belastungen gemeint: das Einleiten von CO2 in die Atmosphäre und die Produktion von Wärme. Diese beiden Schädigungen summieren sich nicht nur, sondern vervielfachen sich.

Die Bäume und Wälder sind also nicht nur Teil einer Landschaft, die wir lieben. Sie wirken durch die Fotosynthese der Zunahme von Wärme und der Degradation von Energie entgegen. Wir wissen, dass die Bevölkerungszunahme auf der Erde zu mehr Nahrungsproduktion zwingt und dass auch dies weitere Wärmeproduktion nach sich zieht.

Wenn Laura Conti diese Dinge beschreibt, die hier nur in groben Zügen umrissen werden, geht es ihr nicht nur um objektives Wissen, sondern um ein tieferes Verständnis, um dann auf der politischen Ebene die richtigen Entscheidungen treffen zu können.

Laura Conti distanziert sich von einer ethischen Ökologiebewegung, die dem Menschen nur eine Randstellung einräumt, so dass als einziges, wahres Subjekt der sich entwickelnde Naturprozess übrigbleibt. Sie ist nicht einverstanden mit der Behauptung, menschliches Handeln sei überflüssig, da der Planet alle Möglichkeiten habe, sich aus eigener Kraft selbst zu regulieren. Dagegen ist sie der Meinung, dass das Wissen genau dazu dient, richtige politische Entscheidungen zugunsten der Erde zu treffen. Entscheidungen, die auf das Gleichgewicht hinarbeiten, nach den Prinzipien des Systems des Lebendigen, zugunsten aller menschlichen und nichtmenschlichen Wesen. Doch die Entscheidungen müssen sich in Richtung jenes Gleichgewichts auswirken, denn das entsteht nicht von selbst. Und dabei sollte man sich auch immer bewusst sein, dass es sich um eine Herausforderung mit zahlreichen Risiken des Scheiterns handelt.

Chiara Zamboni fragt sich: Wenn es weder die Ethik ist noch der Wunsch, die Erde mit allen Wesen zu teilen, noch das Verantwortungsgefühl gegenüber zukünftigen Generationen, was treibt Laura Conti dann an? 

In ihrem Buch Questo pianeta (1987, S. 233) gibt Laura Conti eine einfach klingende Antwort: Es sei für sie nicht eine Frage der Ethik, sondern ein Problem der Liebe; „nicht so sehr gegenüber denen, die nach uns kommen, sondern vielmehr gegenüber dem Leben als Ganzes: ich liebe das System des Lebendigen, ich will es beschützen“ (zit. n. Zamboni, S. 82, Ü DM). Es ist also die Liebe, die Entscheidungshilfe und Orientierung beim Handeln gibt, und nicht das Recht oder der Respekt aus ethischen Gründen. Liebe ist für Laura Conti generell der Kern des Wissens und des politischen Handelns. Indem sie die Liebe in den Mittelpunkt ökologischen Denkens stellt, gibt sie ihr eine besondere Qualität. Denn es geht ja um die Liebe zum System des Lebendigen, zu dem wir selbst auch gehören. Hier trifft sich Contis Vorstellung mit der „Liebe zur Welt“, wie Simone Weil sie beschreibt. Die Bewegung innerhalb jenes Systems lebt vom Spiel zwischen positiven Rückwirkungen, die aufbauend sind und dem Lebendigen Aufschwung geben, neben negativen Rückwirkungen, die es schädigen. Beides ist Teil des Lebendigen selbst. Die Erde zu lieben bedeutet, sie in all diesen Aspekten zu lieben. 

Da auch die menschlichen Systeme innerhalb des Systems des Lebendigen miteinander und mit dem Ganzen verbunden sind, wirkt sich das, was dort geschieht, auf die Menschen und generell auf alle Lebewesen aus. Hier verbindet sich die Ökologie mit der Kritik am Kapitalismus, an einer Produktion, die die natürlichen Ressourcen erschöpft und die Gesundheit und die Umwelt der Mehrheit der Bevölkerung schädigt, insbesondere die der Ärmsten und an den Rand Gedrängten, die gezwungen sind, in einer immer noch kaputteren und verelendeteren Umgebung zu leben. Das politische ökologische Denken soll zu gemeinsamem öffentlichen Handeln einladen, das die Schäden begrenzt und positive Rückwirkungen auf das System des Lebendigen hat, wobei akzeptiert werden muss, dass die Situationen so komplex sind, dass die Orientierung schwierig ist.

Laura Conti schrieb ihre wichtigsten Texte in den 1970er- und 1980er-Jahren. Diese sind jedoch sehr aktuell, was die einzuschlagenden Wege angeht. Conti distanziert sich darin sowohl vom Vertrauen auf technologische Lösungen als auch vom Vertrauen auf die Fähigkeit der Natur, aus sich heraus das Gleichgewicht wieder herstellen zu können. 

Zum Schluss geht Chiara Zamboni noch auf eine erkenntniswissenschaftliche Frage ein, auf die Laura Conti anspielt: Wir befinden uns innerhalb des Systems des Lebendigen und können es nicht kontrollieren. Zweifellos können wir Wissen darüber erwerben, aber nie vollständig, da wir ja ein Teil davon sind. Es handelt sich hier nicht nur um ein Teilwissen, das in Zukunft vollends ergänzt werden könnte. Denn es gibt eine unbewusste Seite im System des Lebendigen, die durch uns hindurchgeht und von der wir abhängig sind. Es ist etwas Nicht-Objektivierbares, zu dem wir aber subjektiv Zugang haben, doch dieser Zugang ist nicht auf das wissende Subjekt reduzierbar. Gregory Bateson bezog sich darauf, als er bemerkte, dass die Techniker, die auf energische Weise die komplexen Probleme der Welt lösen wollen, sich eilends dort hineinstürzen, wo auch die Engel zögern würden, ihre Füße hinzusetzen (vgl. Gregory Bateson, Wo Engel zögern, 2005). Die Annahme, wir könnten das System des Lebendigen kontrollieren, ist die Folge der fehlenden Anerkennung unserer Abhängigkeit von ihm.

Für Laura Conti ist von zentraler Bedeutung, dass die strenge Wissenschaftlichkeit von einer subjektiven Aufmerksamkeit als Form der aktiven Teilnahme zugunsten des Systems des Lebendigen geleitet sein muss. Diese subjektive Aufmerksamkeit sei unerlässlich für das Wissen. Evelyn Fox Keller drückt das gut aus in ihrer Beschreibung der Arbeit Barbara McClintocks über Zytogenetik. Diese Genetikerin wählt statt „Aufmerksamkeit“ das Wort „Liebe“, um ein Denken zu charakterisieren, das von geistiger Verwandtschaft und Empathie getragen ist. Wenn sie manche Dinge von Nahem beobachte, würden diese Dinge zu einem Teil von ihr. Und dann vergesse sie sich selbst, sagte McClintock (vgl. Evelyn Fox Keller, Liebe, Macht und Erkenntnis).

Chiara Zamboni betont, dass mit diesen Worten kein Verlust des Ich gemeint sei und auch keine Verschmelzung. Wenn wir mit totaler Aufmerksamkeit die Welt erfahren, komme vielmehr jener Übergangsbereich zwischen mir und nicht-mir wieder ins Spiel, in dem wir von Kindheit an zwischen der Mutter und der Welt gelebt haben. Jeder Mensch macht diese Erfahrung in den ersten Monaten des Lebens. McClintock nennt es „in der Welt und bei sich selbst sein“. Dieser Bereich bleibt uns zur Verfügung als dritter doppelsinniger Raum und gleichzeitig als Quelle von Möglichkeiten, um neue symbolische Welten zu erforschen. Es geht also nicht um einen Verlust des Selbst, sondern um die Intensivierung eines Wissensprozesses, in dem Objektivität nicht der Maßstab ist. Es ist der experimentelle Weg der Entdeckungen.

Bei Laura Conti ist das ganz offensichtlich, wenn sie beispielsweise betont, das sie die Polarität des Systems des Lebendigen „spüre“. Diese Erfahrung hat nichts subjektiv-relativierendes auf der Grundlage des Ichs. Sie bedeutet vielmehr, dass Conti sich dem Übergangsbereich zwischen mir und nicht-mir anvertraut, zwischen dem In-der-Welt-Sein und dem Bei-sich-selbst-Sein, wo sie mit ihrem ganzen Selbst aufmerksam ist und wo das Wissen zu existenziellem Wissen wird. Sie ist sich dabei bewusst, dass sie sich in einer Welt des Ausprobierens neuer Bedeutungen befindet, noch ohne festgelegte Begriffe und nicht mit Fakten belegt. 

Das „Spüren“ ist die Auslotung an der Schwelle zwischen Bewusstem und Unbewusstem. Aufgrund ihres Spürens ist Laura Conti sich bewusst, dass das System des Lebendigen komplex ist und dass die Wissenschaft davon nur wenige Elemente kennt. Das ist aber nicht das Einzige: Sie ist sich durch ihr Spüren auch bewusst, wie fragil die Welt des Lebendigen ist, so dass unsere Eingriffe unvorhergesehene Auswirkungen haben können, die zerstörerisch sind, ohne dass wir das wollen. Chiara Zamboni fügt hinzu, man müsse einen Schritt zurücktreten, um wirklich achtsam mit jener Zerbrechlichkeit umzugehen. Die Erde gehöre uns nicht nur nicht, sondern sie habe auch einen nicht objektivierbaren Kern, den es zu respektieren gelte. Wir können nur unsere Beziehungen zur Erde kennenlernen und ihnen Ausdruck verleihen. In unserer Bindung an sie erwerben wir unser Wissen. Denn wir erleben sie von innen heraus und können uns selbst nicht in Klammern setzen. Das gilt sowohl dann, wenn unser Wissen aus direkter Erfahrung entspringt, als auch dann, wenn wir es mithilfe wissenschaftlicher Instrumente erwerben.

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Chiara Zamboni, Sentire e scrivere la natura. Mimesis Edizioni (Milano – Udine) 2020, 217 S., 20 €

Autorin: Dorothee Markert
Redakteurin: Dorothee Markert
Eingestellt am: 22.02.2022
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Fidi Bogdahn sagt:

    … schade, es kommen hierzu bisher keine Kommentare!
    Kommentare helfen mir meist weiter bei solchen Texten…
    Und kann es sein, liebe Dorothee,
    dass du diesmal vor allem translated hast und weniger kommentiert?

  • Dorothee Markert sagt:

    Was genau hast du denn nicht verstanden, liebe Fidi?

  • Fidi Bogdahn sagt:

    Dorothee, du hast meine Frage nicht beantwortet…
    Und jetzt auf deine Frage kann ich nur so antworten:
    Wenn ich es formulieren könnte, was ich nicht verstanden habe,
    könnte ich ja zumindest eine VerständnisFrage stellen.
    Aber ich verstehe zu oft diesmal den Sinn der von Chiara Zamboni gebrauchten Worten nicht;
    und ich verstehe eben auch nicht, dass keine Kommentare kommen.

  • Jutta Pivecka sagt:

    Liebe Fidi, liebe Dorothee,

    ich könnte mir vorstellen, dass die Kommentare hier ausbleiben, weil die hochdifferenzierte Position Chiara Zambonis gegenüber dem Antispeziezismus, also der Überzeugung (vielleicht vereinfache ich das jetzt zu sehr???), dass nicht-menschliche Tieren- und Pflanzen??? “Rechte” haben, ein Minenfeld eröffnet, dass hoch emotional ist und in das sich viele nicht begeben möchten.
    Ich versuche mal, wiederzugeben, wie ich es – mit meinem Vokabular – verstanden habe (und bin gespannt auf Dorothees Korrekturen). Die Position, die Zamboni hier entfaltet, wenn ich sie richtig verstehe, begreift den Menschen zwar als Teil der Natur, aber zugleich als Schöpfer_in einer “zweiten Natur” (die z.B. erst so etwas wie “Rechte” kennt). Von hier aus gedacht, macht es keinen Sinn, “die Natur” als Subjekt zu begreifen, dem wir “verpflichtet” sind. Sondern wir müssen aushalten, in diesem Zwischenraum zu leben: Als Teil des ganzen “Natürlichen” (das wir nie ganz erkennen können und zu dem wir keine Position von Außen einnehmen können, über das wir also nicht “verfügen”) und zugleich unser eigenes Handeln in dieser Welt als Schöpferisches wahrnehmen, das “Welt” schafft, gestaltet und verändert. Das Neue daran wäre, so verstehe ich das, dass wir diese Eingriffe in die Welt nicht aus dem Bedürfnis heraus vornehmen, die Natur zu beherrschen, sondern sie zu “lieben”. —Aber das ist jetzt noch ganz vorläufig, denn auch ich hätte Fragen, was dies beispielsweise für den Umgang und die Entwicklung von Technik jeweils konkret bedeuten könnte.
    Sehr geholfen hat mir der Text aber dabei, mein Unbehagen mit dem Antispeziesmus zu begreifen. Denn ich hatte immer “gespürt”, dass diese Position gerade “Tier- und Naturfreunde” in unauflösbare Widersprüche verwickelt (angefangen beim Halten von Katzen und Hunden).

  • Fidi Bogdahn sagt:

    Danke, liebe Jutta, für deine Ausführungen!
    Sie machen mir jedenfalls Mut, den Text nochmals zu studieren.

  • Dorothee Markert sagt:

    Danke für deinen Kommentar, liebe Jutta! Ich denke, Chiara hat durchaus Wertschätzung für das Bemühen der antispeziesistischen Bewegung, sich für ein gutes Zusammenleben mit Tieren und Pflanzen einzusetzen. Auf die Sache mit den Rechten geht sie nicht ein. Was sie kritisiert, ist deren Haltung, so zu tun, als seien sie keine Menschen, sondern auch Tiere, und würden nicht die spezifisch menschlichen Formen symbolischen Handelns nutzen, also bestimmte kulturell gewachsene Haltungen, die den Wunsch nach Gerechtigkeit für andere Spezies auslösen – und natürlich die menschliche Sprache und das menschliche Denken.

  • Jutta Pivecka sagt:

    Liebe Dorothee, so hatte ich es auch verstanden: “Rechte” wären ja spezifisch menschliche Formen symbolischen Handelns”. In meiner Sprache ließe sich daraus etwa ableiten: Tiere können keine “Rechte” haben, aber Menschen haben durchaus “Pflichten” (aber nicht hergeleitet aus der “Natur”, sondern eben aus unserer spezifischen Menschlichkeit) gegenüber Tieren und Pflanzen. Passt das?

  • Anne Newball Duke sagt:

    Ich komme erst jetzt zum Lesen dieses Kapitels, und bin immer noch ganz hin und weg vor lauter Freude. Ich habe jetzt schon Laura Conti ge-ecosiat ;), aber leider gibt es kein einziges Buch von ihr in Übersetzung. Sie passt sehr zu meiner ganzen Suche nach der Rolle der menschlichen Spezies, also jener Rolle, die sie haben sollte, damit wir unsere eigene Lebensgrundlage nicht nur schädigen.
    Und auch meiner Suche danach, woher wir die Motivation und Energie nehmen, um unser Leben in die planetaren Grenzen hineinzubewegen. So toll: Für Conti ist es keine Frage der Ethik! Herrlich!
    Ich stecke tief in der Wissenschaftskritik, nach welcher gerade in den Naturwissenschaften das Objekt/Subjekt-Denken aufgehoben werden muss, damit wir ein neues Verhältnis zu… oder besser: eine neue und anders ausgerichtete Position in der Welt als eingebettete Lebewesen von dieser Welt einnehmen können. Zambrano nennt es “poetische Haltung”, Conti spricht von “tieferem Verständnis”, in dem “Objektivität nicht der Maßstab ist”, von “richtigen politischen Entscheidungen” (ich liebe das: endlich finde ich “richtig” und “falsch”, wie ich es auch immer meine, und wovon mich immer so viele abhalten wollen! ;) über die Liebe, das Spüren, das Wahrnehmen der Zerbrechlichkeit des Systems des Lebendigen, aber ihre Grundmotivation ist das “Leben als Ganzes: ich liebe das System des Lebendigen, ich will es beschützen”. Und wenn sie das will, dann kommt sie innerhalb der Erkenntnisformen der Wissenschaft eben an Grenzen. Die Wissenschaft, wie sie heute existiert, die ja aktuell immer noch vor allem “das Lebendige kontrolliert und eine “fehlende Anerkennung unserer Abhängigkeit von ihm” in sich trägt, diese Form der Wissenschaft gilt es zu überwinden oder zumindest zu ergänzen…
    Und es gibt noch andere Herangehensweisen hin zu dieser Überwindung, die ich mir aktuell noch erarbeite. Und für mich geht es erstmal darum, so tolle Frauen ( aber hier gibt es auch tolle Männer ;) wie Bruno Latour und James Lovelock) und ihre Positionen kennenzulernen; und zwar von Frauen, die tief in den Naturwissenschaften verankert sind (wie z.B: auch Barbara McClintock), diese ja auch durchaus zu schätzen wissen, und aber dennoch ihre eigene Körperin dafür nutzen, um neue Positionen fern jeder Objektivierung einer wie auch immer gearteten und von uns Menschen erfundenen “Natur” einzunehmen.
    Und Liebe als Konzept bricht ja die ganze Wissenschaft komplett auf. Und Liebe bedeutet dann ganz andere Formen der Wissensaneignung, vor denen wir wissenschaftsbekennenden und -hungrigen und teils sogar -hörigen Menschen (“Hört auf die Wissenschaft!”) noch total zurückschrecken. Zu subjektiv, nicht objektivierbar, ach ohjehohjeh, damit ist doch zu keiner Erkenntnis zu kommen, mit der wir die Welt für uns Menschheit retten! Und diese Frauen wie Laura Conti und auch Maria Zambrano und natürlich Chiara Zamboni sagen: Doch! Wir brauchen andere Erkenntnisformen! Andere Möglichkeiten, uns in dieser Welt zu erkennen. Wenn ich nochmal am Ende einen Mann zitieren darf, den ich auch nur als Zitat in einem Buch von James Lovelock (I love the name! hehe) gefunden habe: “An einem Tag wie heute wird mir klar, was ich dir schon hundertmal gesagt habe: An dieser Welt ist nichts falsch. Falsch ist lediglich die Art, wie wir sie anschauen.” Das ist von Henry Miller in “Ein Teufel im Paradies” (das ich nicht kenne).

    Danke, liebe Dorothee, für diese Übersetzung, ich bin so tief glücklich, dass ich durch deine Übersetzung so viele tolle Denkerinnen kennenlernen darf!!! <3

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