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Eine Entdeckungsreise zur ‘Freude’

Von Adelheid Ohlig

Freude am Lesen, am Umschlag, am Titel, an den einzelnen Kapiteln, kleinen Geschichten.

Geschichten über den Zufallszauber von Zugbekanntschaften, die mittendrin anfangen und enden. Am eigenen Körper werden beim Lesen Erinnerungen an heisse Sommertage und erfrischendes Schwimmen im See wach: «Setze mich, betrachte, wie das Wasser langsam auf der Haut trocknet, sich zu Tropfen zusammenzieht, die sich in der Hitze auflösen, bis nur noch eine Ahnung von Kühle bleibt.» Begrüssungen hier und andernorts beschreibt die Autorin mit merklicher Freude– wie gross die Unterschiede sind, wird gerade derzeit besonders bewusst.

Die Geschichten streiche(l)n da die Oberfläche, machen lächeln, tauchen hier in die Tiefe, vermitteln freudige Leichtigkeit, besonders da fundierte Reflexionen die leicht daherkommenden Beobachtungen grundieren. So finden sich im Abschnitt über Tanz und Spiel deutliche Worte zum Mangel an denselben. Das Kapitel «Über die Freude» führt geschmeidig zum Nachdenken über Arm und Reich – einschliesslich der neuesten Zahlen zur in der Pandemie grösser gewordenen Schere zwischen den Schichten.

Ich erfahre, dass die alten Mongolen den Himmel anbeteten – die Weite über der Steppe weckt Ehrfurcht. Nur ein Satz kann uns manchmal ein Leben lang begleiten. Wir lesen einen wichtigen der Autorin aus ihren Anfängen als Journalistin; ihr damaliger Chef gab ihr folgendes mit, als sie – sich mit ihm vergleichend – an ihren Fähigkeiten zweifelte: «…das ist wie die Hintergrundmusik auf einem Konzert. Du hörst sie. Und dann trittst du auf die Bühne und spielst dein eigenes Lied.»

Beim Feuer machen mit ihrem kleinen Sohn erfasst Köckritz das Wunder des ersten Mals: «… mit einem Mal wurde ich traurig, dass ich all diese Sensationen vergessen hatte: den ersten Regen auf meiner Haut, das erste Mal im Gras laufen, den ersten Marienkäfer, der über meine Hand lief.» Freude schreibt sie, «scheint mir die Fähigkeit der Seele zur ungeteilten staunenden Wahrnehmung. Das Talent, die Welt zu sehen, als wäre sie frisch und neu.»

Outtara, ein Künstler aus Burkina Faso, weist auf die Fähigkeit des Fokussierens hin: Energie zu sammeln führe zu Lebensfreude. So werde das Leben wirklich wahrgenommen.

Bei allen Geschichten wird deutlich, wie sehr Freude mit der Zeit zusammenhängt – haben wir Zeit für anteilnehmende Begrüssungen? Nehmen wir uns Zeit Wassertropfen zu beobachten? Schmecken wir bewusst unser Essen mit allen Sinnen? Wenden wir den Blick im Alltag gen Himmel? Berühren die Erde?

All unsere Sinneserfahrungen stehen uns immer zur Verfügung, leicht locken sie uns zur Freude, nehmen wir uns die Zeit dafür, wir haben nur die eine   – kostbare Lebenszeit.

Angela Köckritz, Freude – Über die Entdeckung der Leichtigkeit, Berlin/Piper Verlag, München 2022, 256 Seiten, 20 Euro.

Autorin: Adelheid Ohlig
Redakteurin: Juliane Brumberg
Eingestellt am: 17.03.2022
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Anne Lehnert sagt:

    Vielen Dank für diesen Buchtipp und die Erinnerung an die kleinen Freuden und was sie ermöglicht.

  • Elfriede Harth sagt:

    Zeit – ein kostbarer Luxus. Besonders in einer Gesellschaft, die die meisten von uns dazu zwingt, dieses kostbare Geschenk verkaufen zu müssen,damit wir unseren Lebensunterhalt sichern.
    Zeit, den eigenen Körper zu “erleben” – also unseren Sinnen nachzuspüren, die ja die Verbindung sind zwischen unserem Körper und allem, was diesen Körper umhüllt: das, was uns ermoeglicht, in einen Dialog zur Welt zu treten und damit zur Entdeckung unseres Selbst.
    …. statt einer wachsenden Entfremdung…

  • dorothee eitel sagt:

    Zeit, auch ich habe auf dieses Wort reagiert. Ich hatte Zeit, 10 Tage Quarantäne. Wie kostbar!
    Dinge tun (oder nicht tun) in der Geschwindigkeit (oder Langsamkeit) die entsteht wenn ich nicht getrieben bin.
    Was treibt mich, mein Essen schneller zu kochen, meine Mahlzeit schneller zu beenden, mein Geschirr schneller zu spülen?
    Nicht getriebensein lässt mich spüren, dass dies meine Lebenszeit ist und sie auskosten darf.
    Oder sollte ich sagen “ausleben”

  • Brigitte Leyh sagt:

    Danke für diesen wunderbaren Artikel. Beim Thema Freude muss ich immer an die These des klugen Alfred Grosser “Die Deutschen und das Düstere” denken, der darauf hinweist, wie schwer sich traurigerweise gerade Deutsche mit der Freude tun. Gut, dass ich halbe Dän in bin!

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