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Rubrik denken

Merleau-Ponty I. : Empathie. Kontingenz. Aufspringende Knospen und das Mütterliche

Von Dorothee Markert

Link zum Beginn der Serie

Bevor ich mit dem fünften, letzten und umfangreichsten Kapitel von Chiara Zambonis Buch beginne, in dem es unter dem Titel „Natur, Unbewusstes, Sprache“ um die Gedanken des Philosophen Maurice Merleau-Ponty geht, möchte ich auf einen Aspekt dieser Forschungsarbeit hinweisen, den ich in meinen Texten kaum berücksichtigt habe: Meines Erachtens hat Chiara Zamboni außer den explizit genannten noch ein weiteres Anliegen, nämlich zu zeigen, dass Ansätze zu jenem anderen Denken der Natur, das sie in ihrem Buch herausarbeitet, bei zahlreichen Philosophen zu finden sind, dass sie tatsächlich die gesamte Geschichte der Philosophie durchziehen. Immer wieder stellt sie Bezüge zu früheren Philosophen her, zeigt Unterschiede auf und skizziert, wie die im jeweiligen Kapitel schwerpunktmäßig behandelten Autor:innen von den früheren gelernt und wo sie sich abgegrenzt haben. Da umfangreiche Recherchearbeit notwendig wäre, um jenem Forschungsstrang des Buches einigermaßen gerecht zu werden, lasse ich die entsprechenden Abschnitte weitgehend weg, außer wenn sie mir notwendig erscheinen, um Chiara Zambonis „rotem Faden“ folgen zu können. 

Die Natur spüren und schreiben

Merleau-Ponty lebte von 1908 bis 1961 und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der französischen Phänomenologie. Chiara Zamboni schreibt über sein Denken, weil er sich intensiv mit dem Zusammenhang zwischen Naturerfahrung, Unbewusstem und sprachlichem Ausdruck beschäftigte, der auch für sie von zentraler Bedeutung ist. Seine Texte könnten zum besseren Verständnis darüber beitragen, warum und auf welche Weise das Unbewusste für unsere Bindung an die Natur so wichtig ist, schreibt sie. Zamboni bezieht sich dabei nicht nur auf Merleau-Pontys Texte über die Natur, sondern hält es für wichtig, sein ontologisches, wahrnehmungstheoretisches und sprachliches Denken mit einzubeziehen. 

Zwei unterschiedliche Denklinien hat sie in Merleau-Pontys Werk herausgearbeitet, die in seinen Schriften untrennbar miteinander verbunden sind. In der ersten geht er davon aus, dass wir, während wir wahrnehmen, in einem Narzissmus des Sehens und Berührens gefangen sind. Wir betrachten die Dinge und sie schauen zurück, auf spiegelbildliche Weise. Hier bleibt kein Raum für den „Atem“ der Differenz. In der zweiten, von Zamboni mehr betonten Denklinie, bekommt die Differenz in der Wahrnehmung Bedeutung, also „der Abgrund zwischen mir und den Dingen, unser Nebeneinander, der Atem und der Raum einer Leere, die nicht Negation ist, sondern Öffnung“ (S. 133). Die Dinge werden mir dann zu Gefährten in einer Vorstellung, die uns in einer Differenz des Nebeneinanders aneinander bindet. 

Merleau-Ponty arbeitete an einer neuen Ontologie, die es ermöglichen sollte, die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung einzubeziehen. Den Naturwissenschaften wollte er eine adäquatere Möglichkeit anbieten, das Sein zu verstehen. Obwohl die Naturwissenschaften ungeheure Fortschritte gemacht haben, bauen sie ja immer noch auf einer Ontologie auf, in der das Sein als großes Objekt als etwas ganz anderes gilt als das scheinbar von ihm getrennte Subjekt, das es untersucht. 

Merleau-Ponty erweiterte und veränderte in diesem Zusammenhang das Lebenswelt-Konzept von Husserl. Von ihm übernahm er beispielsweise die folgenden zentralen Gedanken: Der lebendige Körper ist Öffnung zur Welt, und das bedeutet, dass wir eine Beziehung zur Welt haben und die Welt uns anschaut. Schon der Körper ist durch gegenseitige Einfühlung mit den Dingen verbunden und die Dinge mit dem Körper. Um diese unbewusste Einfühlung herum dreht sich das Sich-Binden des Körpers an die Dinge und der Dinge an den Körper. Empathie und Erotik sind Begriffe, die ein Ineinander zwischen Körper und Dingen aufzeigen, durch Anziehung, leidenschaftliche Blicke und sensible Berührung. Es geht um ein leidenschaftliches Spüren, das vor jeglicher Reflexion stattfindet. Merleau-Ponty beharrt darauf, dass jenes gegenseitige Beziehungsgeschehen nicht die Folge bewussten Handelns ist und auch nichts mit dem Willen zu tun hat. Doch es sei auch nicht gegen den Willen und das Bewusstsein gerichtet, sondern einfach eine andere Erfahrung, die dem Handeln des Ich vorgelagert sei. 

Das Spüren ist also der Kern, um den sich sowohl der lebendige Körper als auch die Dinge drehen. Es ist das Spüren hier und jetzt, das mich vereinnahmt. Es ist jedoch nicht mein Spüren im Sinne von etwas, das mir gehört, da es ja eine Erfahrung der Einfühlung in die Dinge ist, die ihrerseits empathisch mit mir verbunden sind. Der Leib ist das „Scharnier“ jener Gegenseitigkeit, die anziehend oder auch ablehnend sein kann. 

Merleau-Ponty stellt das Wort Spüren neben das Wort Wahrnehmung. Die Begriffe sind nah beieinander, doch bei Merleau-Ponty ist das Spüren im Gegensatz zur Wahrnehmung mit Erotik, Empathie, Engagement und Leidenschaft aufgeladen. Das erotische Begehren bezieht sich bei Merleau-Ponty zwar auch auf andere Menschen, doch vor allem auf die Dinge und die Welt. Es wird zu einer ontologischen Qualität und verbreitet sich wie eine Atmosphäre. 

Chiara Zamboni beschreibt nun zwei Arbeiten der Videokünstlerin Anča Daučiková aus Bratislava. In einem Video aus den 1980er-Jahren mit dem Titel The Thing zeigt sie die erotische Einfühlung, um die sich die menschliche Subjektivität und die Dinge drehen. Mit diesem Video kann Chiara Zamboni vermitteln, dass die Geschlechterdifferenz bereits im Spüren eine Rolle spielt. Die Künstlerin maximiert in ihrem Video die Sinnlichkeit beim Spülen des Geschirrs mit einem stark schäumenden Spülmittel. Wir sehen, wie sich die Hände der Künstlerin, das Geschirr und der Schaum gegenseitig berühren, ohne dass die Frau als Ganze sichtbar wird. Wir sehen nur ihre Hände und ihr Spiel mit Schaum, Gläsern und Tellern, es ist eine Art Tanz zu dritt im Wasser. Wir hören die Töne von Wasser, Schaum und den Berührungen zwischen Händen und Geschirr. Durch die überzeichnete Erotik des Videos können wir die authentische und nicht bewusste Beziehung erleben, die die Dinge zu uns haben und die eine Antwort auf unser Handeln ist. In der Radikalität jener Darstellung wird offenbar, dass auch an der alltäglichsten Erfahrung nichts „normal“ ist. Noch heftiger ist ein Video, in dem Kochtöpfe mit einem Schwamm aus Metallstreifen gereinigt werden. Wir hören schrille, kreischende, abstoßende, metallische Töne als Antwort der Töpfe auf ein Handeln, das ihnen spürbar unangenehm ist.

Durch diese Videos wird Chiara Zamboni klar, an welcher Stelle Merleau-Pontys männliche Differenz zum Tragen kommt. Auf den ersten Blick scheint sie keine Rolle zu spielen, wenn er in Das Sichtbare und das Unsichtbare vom Sensiblem schreibt, vom Sehen und Berühren, um das Menschen und Dinge kreisen und dabei zu Gefährten werden. Wenn er diese Dinge schreibt, tut er das nicht aus der Position männlicher Differenz heraus. Doch er spricht von der Erotik des Spürens verallgemeinernd, in neutraler und universeller Form, während seine Beispiele, die aus dem Bereich der Kunst stammen, nur auf männliche Erfahrungen zurückgehen, insbesondere auf Paul Cézannes Auseinandersetzung mit dem Berg Sainte Victoire. Der Berg zeigt sich und antwortet auf Paul Cézannes fragende Haltung mit einer bestimmten Lichtschattierung und bestimmten Blautönen. Alle Kunstschaffenden, auf die Merleau-Ponty sich bezieht, sind Männer. Und diese bestätigen, dass sie sich von den Dingen beobachtet fühlen, dass die Dinge sie anschauen. Vom Narzissmus der Wahrnehmung spricht Merleau-Ponty in diesem Zusammenhang. Chiara Zamboni vermutet, dass Merleau-Pontys Betonung der Narzissmus-These stark in seiner männlichen Differenz verwurzelt ist, die er sich jedoch nicht bewusst machte.

Natur und Unbewusstes stehen nach der Philosophie Merleau-Pontys in einer inneren Verbindung, die nichts mehr mit einem bestimmenden Subjekt zu tun hat, sondern vielmehr mit einer Öffnung des lebendigen Körpers gegenüber einer Welt im Werden. Darin findet ständiger Wandel statt, da es einen stetigen geheimen Austausch zwischen der Welt und uns gibt. Das Unbewusste ist eine Art Rahmen oder Gerüst für jenen Wandel. Freuds Konzepte einer subjektiven Projektion auf die Dinge oder der Introjektion lassen sich angesichts dieser ontologischen Sichtweise nicht mehr aufrechterhalten, da sie ein Subjekt voraussetzen, das sich auf ein Objekt bezieht. 

Die Sprache begleitet den Wandel, denn sie ist ja ein integraler Teil unserer Verbundenheit mit der Welt. Wo genau sie ins Spiel kommt, ist trotzdem schwer zu beschreiben. Auch wenn wir davon ausgehen, dass die Öffnung des Körpers zur Welt ein Primum, ein Erstes ist, können wir dieses Geschehen nur mithilfe der Sprache erkennen, wir können diese also nicht in Klammern setzen oder als überflüssig betrachten, wenn es um unsere Beziehung zu den Dingen geht. 

Hier geht Chiara Zamboni nochmals auf die Frage nach der Rolle des Ich ein. Wir verzichten ja gewohnheitsmäßig schon aufgrund der Grammatik nicht auf Objekt und Subjekt, und wir sprechen weiterhin von „ich“ und „es“. Wie kommt es also zum symbolischen Sprung in eine grundlegend andere Haltung? 

Es geht darum, dass wir diese Begriffe in ein Feld einbringen, in dem das lebendige Gewebe von Öffnung und Gegenseitigkeit mit der Welt uns verstehen lässt, wo unser Platz darin ist. Dann öffnet sich ein Erfahrungsfeld, in dem „ich“ und „du“ nur sprachliche Zeichen sind für existenzielle und ontologische Wege, die von einem Gesamtbild abhängen, von dem wir ein Teil sind. Das Personalpronomen „ich“ bekommt dann eine andere Bedeutung als die übliche. Das Pronomen „ich“ ist ja, linguistisch betrachtet, nur ein leeres Wort. Beispielsweise kann in einer Versammlung reihum jede Person dieses Wort für sich nehmen. 

Natürlich kann ich von mir sprechen und mich anhand bestimmter Charakteristiken beschreiben. Ich mache mich dann in meinem Sprechen zum Objekt. Aber wenn ich mich ohne nachzudenken in der alltäglichen Erfahrung befinde, bin ich bezogen auf die anderen, auf die Welt und die Dinge. Ich bin also in Beziehung. Ich kann sagen „ich bin“, aber wenn ich spreche oder handle, vergesse ich mich meistens. Tatsächlich bin ich dort, wo ich zuhöre, dort, wohin ich gehe. Ich bin dort, wo mich fesselt, was eine andere sagt, und ich lebe in der Praxis des Lesens oder Schreibens. Das hat damit zu tun, dass wir vor allem Körper sind, der sich für Beziehungen öffnet, dass wir Wahrnehmende von etwas sind und nicht nur einfach Subjekte, die wahrnehmen. 

Weil wir vor jeglichem Bewusstsein schon offen sind für die Welt, ist es unhaltbar, von der Natur in objektiven Begriffen zu sprechen. Wir können die Dinge nicht zu Objekten machen, wenn wir auf unbewusste Weise grundlegend offen sind für die Dinge und in Beziehung mit ihnen. Die Töpfe, die wir saubermachen, werden von uns umfasst und sind mit uns verbunden. Sie sind also Leib, sind ein lebendiger Körper mit uns zusammen. In dieser Sichtweise einer passiven und aktiven Teilhabe nimmt das „ich“ eine andere Bedeutung an, es ist nicht mehr etwas, mit dem ich mich identifiziere. Es bleibt nur noch ein Zeichen, an dem ich die Erfahrung festmache.

Eine wichtige Grundlage von Merleau-Pontys neuer Ontologie, mit der die Natur anders gedacht werden kann, ist das Konzept der Kontingenz, das sowohl das Sein als auch das Subjekt betrifft. Chiara Zamboni skizziert dieses Konzept folgendermaßen: „Die Kontingenz des Seins erschließt sich in der Wahrnehmung hier und jetzt. Das Sein geschieht in der Wahrnehmung und ist daher nicht ewig und statisch. Das kontingente Hier und Jetzt der Präsenz lädt sich folglich mit symbolischer Kraft auf“ (S. 142). Diese Sichtweise hat Auswirkungen auf unsere Beziehung zur Natur. Für Merleau-Ponty besteht tatsächlich ein innerer Zusammenhang zwischen der Vorstellung vom Sein und von der Natur. Wir erleben dann auch die Natur nicht mehr als ewig und statisch und als etwas, das von uns unabhängig ist, und wir können uns nicht als getrennt von ihr denken. Das kommt daher, dass wir in dasselbe kontingente Geschehen verwickelt sind. Merleau-Ponty drückt das in körperlichen Bildern aus, die eine mütterliche Gefühlskomponente haben wie: „Das Sein umarmt mich und ich umarme es ebenfalls“ (Chiara Zamboni S. 142, zit. n. Das Sichtbare und das Unsichtbare).

Wenn uns der Bezug zu diesem lebendigen Gegenwärtigen verloren geht, lädt Merleau-Ponty dazu ein, uns zu fragen, wo wir in diesem Moment gerade sind und wie spät es ist. Das sei eine sehr konkrete Frage mit philosophischer Wirksamkeit, meint Chiara Zamboni. Allein durch die Frage kämen wir wieder in Einklang mit der Gegenseitigkeit zwischen uns und der Welt, mit der Einfühlung in die Dinge und mit der körperlichen Erfahrung. In der Präsenz spielt sich also die Kontingenz des Seins ab, und zwar in der Präsenz, verstanden als gegenseitiges Sich-Umhüllen von der Welt und uns, von der Vergangenheit und der Gegenwart. 

Chiara Zamboni verstand Merleau-Pontys „lebendige Präsenz“ noch besser, als sie einige Texte von Luisa Muraro über die Kontingenz in der Mystik nochmals las, Muraro spricht hier von der „ Kontingenz Gottes“ (vgl. Luisa Muraro, Der Gott der Frauen, dt. 2013). Muraro beschreibt darin die Kontingenz als ein Geschehen, das mit dem Berühren zu tun hat (con-tingere). Es geht um ein Geschehen, das uns berührt, also um etwas grundsätzlich Positives, das aber nicht garantiert ist. Wenn es also – zufällig – passiert, erleben wir es als großes Glück. Muraro spricht hier auch von einem „Kontakt zwischen Himmel und Erde“, womit sie die Berührung dieser Welt mit ihrem „Mehr“ meint, mit dem, was nicht darstellbar ist. Es ist etwas, das für die Welt, so wie sie ist, als etwas Unmögliches erscheint. Doch es sei etwas, das von Frauen begehrt werde. 

Chiara Zamboni unterstreicht, dass ein solcher Kontakt philosophisch mit dem Begriff „Möglichkeit“ nicht richtig wiedergegeben wird. Die Kontingenz ist etwas, das sein kann und auch nicht sein kann. Sie geschieht einfach. Sie ist eine Qualität der Präsenz. Wir erleben sie und sie berührt uns. Die Möglichkeit gehört dagegen zur Ebene der Notwendigkeit. Sie ist zwar etwas anderes als diese, kann sich aber in Notwendigkeit verwandeln.

Dass Merleau-Ponty die Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung und auf den Körper als vorrangigen Weg richtet, durch den das Sein erfahren werden kann, eröffnet eine besondere philosophische Erfahrungsweise. Chiara Zamboni erklärt diese an folgendem Beispiel: „Ich bin an der Universität Verona, auf der linken Seite der Etsch. Ich laufe los, um ins Zentrum zu gelangen. Ich überquere die Brücke, schaue auf das fließende Wasser, da wird mein Blick von einem Fenster in venezianischem Stil an einem Palast angezogen, der mir entgegen kommt. Die Gesichter und die Präsenz der Passant:innen ziehen mich an. Mal verführt mich der Blick einer Frau, mal der Ausdruck eines Mannes. Wenn ich später den Weg zurückgehe, wird es anders sein, denn die Erfahrung ist einzigartig und kann nicht wiederholt werden. Wenn ich ins Zentrum gehe, sind das Wasser des Flusses, das venezianische Fenster, der Blick der Frau und der Ausdruck des Mannes die Art und Weise, in der sich das kontingente, vertikale Sein hier und jetzt gibt. Hier und jetzt erschließt sich das Sein durch Öffnungen und punktuelle Intensität, die auf dem Rückweg anders sein werden, wie ja auch die kontingente gemeinsame Zugehörigkeit von Dingen und Sein anders sein werden“ (S. 146). Das Sein ist auf Zambonis Weg beteiligt, aber nicht als Tatsache, die in etwas Gegebenes umgewandelt werden könnte. Es hält seine Transzendenz aufrecht, jene Seite im Schatten. Daher geht es um eine nicht homogene Präsenz, die nie gleich ist. Es ist sehr wichtig, über das gegenseitige fühlende, sinnliche Spiel von Sein und Erfahrung nachzudenken. Und das gilt auch dann, wenn wir unsere Beziehung zur Natur verstehen wollen, die für Merleau-Ponty der vorrangige Weg zu unserer Verbundenheit mit dem Sein darstellt. Für Chiara Zamboni ist der Gedanke, dass die Erfahrung der Natur einer der wichtigsten Wege sein könnte, um das Sein zu erfahren, eine wichtige theoretische Einsicht ihres Buches. 

Die Phänomenologie führte eine Wendung in der Theorie ein, die grundlegend für ein Denken der Natur ist: Das Erscheinen der Dinge geschieht für sie nicht auf einer oberflächlichen oder zweitrangingen Ebene, während es eine tiefe, ursprüngliche Ebene gibt, die das Sein darstellt. Diese These gibt der Erfahrung, die wir subjektiv erleben, unmittelbaren Wert, denn sie wird hier nicht auf eine subjektivistische, psychologische oder illusorische Erscheinung reduziert. Dieses Thema ist bei Husserl, Heidegger, Merleau-Ponty und auch bei Hannah Arendt präsent. Das Erscheinen der Welt fällt damit mit dem Sein der Welt zusammen. Es gibt nicht irgendetwas tiefer Liegendes, auf das wir uns beziehen, um die Wahrheit zu sagen über unsere Wahrnehmung der Welt. Damit ist die Welt nicht gespalten zwischen dem, was wir von ihr sehen und dem, was sie an sich ist. Daher ist die jeweilige Art und Weise, wie die Dinge uns erscheinen, genau die Art und Weise, wie das Sein erscheint. 

Merleau-Ponty führt uns im Gegensatz zu Husserl in einen Gedanken ein, nach dem der lebendige Körper („Leib“) mit dem objektiven Körper („Körper“) verknüpft ist. Aus der Perspektive des lebendigen Körpers (des Leibs) wird der messbare objektive Körper zu einem wichtigen, aber nicht dem einzigen Element in der lebendigen Erfahrung, die wir mit dem Körper machen. Mit den Fakten ist es ebenso: Eine Tatsache ist etwas objektiv Gegebenes in einer empirischen Sichtweise, doch wenn wir sie aus der Perspektive der Öffnung für die Welt betrachten, von der wir ja auch ein Teil sind, ist die Tatsache ein tragendes Element einer Erfahrung im Werden. Genauso ist der objektive Körper („Körper“) umfangen vom Leben des affektiven und offenen Körpers („Leib“) und ist eine wesentliche Erfahrung davon. Beispielsweise ist eine sehr schlanke Frau nicht nur objektiv mager, sondern sie ist auch ein bestimmter Bezugspunkt zum Wind, der sie durchdringt, und zu dem leichten Schritt, der die Erde nicht stark belastet. Sie ist schließlich auch eine bestimmte Schwingungsfähigkeit und eine bestimmte Qualität, in der sie den Blicken der anderen ausgesetzt ist und in der sie mit den Dingen in ihrer Umgebung in Beziehung ist. 

Wenn wir auf die Begriffe achten, die Merleau-Ponty benutzt, um eine Ontologie zu beschreiben, in deren Mittelpunkt unser Uns-Öffnen zur Welt hin steht – Begriffe wie „ich umhülle und werde umhüllt“, „hervorgehend aus“, „Herz des Sichtbaren/Spürbaren“ – erkennen wir, dass es Worte sind, die sich leicht auf die Erfahrung des Mütterlichen zurückführen lassen. Das gilt auch für den Begriff „Fleisch“, den er in dem Bewusstsein gebraucht, etwas Neues ins philosophische Vokabular einzuführen. In einer Arbeitsnotiz zu einem Text von 1960 stellt er den Zusammenhang explizit her: „Eine Psychoanalyse der Natur durchführen, es ist das Fleisch, die Mutter“ (S. 152, zit. n. Das Sichtbare und das Unsichtbare, Arbeitsnotizen). Dass er auf eine mütterliche Wurzel anspielt, wird noch bedeutsamer, wenn wir daran denken, dass für Merleau-Ponty „die Machenschaften des Fleisches, in die der Körper verwickelt ist, der daraus hervorgeht zusammen mit den Farben, den Gerüchen und den Klängen, etwas mit dem Sein zu tun haben. Das weist auf eine tiefe Bindung zwischen dem Mütterlichen und dem Sein hin. Dies ist ein philosophisch entscheidender Punkt, denn hier wird deutlich, dass wir es nicht nur mit einer anthropologischen Frage zu tun haben, wenn Merleau-Ponty in diesem Zusammenhang vom Mütterlichen spricht. Es geht hier um unseren Bezug zum Sein. Aber welches Mütterliche und welche Teilhabe am Sein?“ (S. 152)

Um darüber mehr Klarheit zu bekommen, setzt sich Chiara Zamboni mit Luce Irigarays Kritik an Merleau-Pontys Ontologie in Ethik der Geschlechterdifferenz auseinander. Dabei arbeitet sie heraus, dass Irigarays Kritik sich nur auf die erste der beiden Denklinien Merleau-Pontys bezieht, die Zamboni hier noch erweitert: Neben dem ontologischen Wahrnehmungsnarzissmus von Sehen und Gesehenwerden gehört dazu auch das Fleisch und das Umhülltsein, also all das, was von den Bildern her keinen Raum für Differenzierung und Differenz lässt. Dazu gehören auch Bilder vom Mütterlichen vor der Geburt, also bevor es einen Atem zwischen den beiden gibt, „jenen Atem, der es erlaubt, dass es Differenz gibt, das heißt sowohl Autonomie als auch gegenseitige Abhängigkeitsbeziehung“ (S. 153). Zur zweiten Denklinie gehören unter anderem Bilder der Differenz als gegenseitiges Miteinander-Spielen, der Atem, das Negative, die Einzigartigkeit des Hier und Jetzt, die kontingente Bruchstückhaftigkeit des Seins und das Bild vom Aufspringen einer Knospe. 

Gerade dieses letzte Bild einer besonderen Art von Öffnung ist Chiara Zamboni sehr wichtig: Denn es geht um ein Aufspringen, das nicht zu einer vollständigen Öffnung führt, das heißt, dass in der Bewegung der Öffnung das Werden aufrechterhalten wird. Es ist ein Sich-Öffnen in einer unendlichen Bewegung. Die Bilder des Sich-Öffnens und des Aufspringens einer Knospe bringen eine starke Sinnlichkeit mit sich, die jedoch nicht vereinnahmend ist. Die Bewegung des Aufspringens erlaubt uns und den Dingen, an derselben Bewegung teilzuhaben, an einem dauerhaften Prozess der Differenzierung und des Sich-voneinander-Entfernens. Im Sich-Öffnen wird Differenz geschaffen zwischen den Blütenblättern und ebenfalls zwischen dem Inneren und dem Äußeren.

Es ist wahr, dass Merleau-Ponty für die Bindung zwischen uns und dem Sein Bilder eines gegenseitigen Sich-Umhüllens und Ineinander-Verwobenseins anbietet. Aber er zeigt auch, dass wir und das Sein an einem Uns-Öffnen in Bewegung beteiligt sind. „Wir kommen aus einem Werden in einem kontinuierlichen Öffnungsprozess, in dem der Atem immer tiefer und weiter wird“ (S. 154).

Am Ende des Abschnitts äußert Chiara Zamboni ihre eigene Kritik an Merleau-Pontys Bildern vom Mütterlichen: Er folge dem traditionellen männlichen Denken, wenn er das Mütterliche mit der Natur gleichsetze, die für ihn ein anderer Name des Seins sei. Er setze die Figur der Mutter mit der Natur auf grundlegende Weise gleich, ohne zu beachten, dass die Mutter nicht nur Natur ist. Sie ist auch anderes: sie schenkt die Sprache und führt in die Kultur ein. Darüber hinaus vergesse er, dass die Mutter gleichzeitig auch noch eine Frau ist. Und außerdem verallgemeinere er die Figur der Mutter, indem er sie mit der Natur gleichsetze und verliere so die Einzigartigkeit der Erfahrung aus den Augen, die er mit seiner Mutter gemacht hat. Wir wissen von Sartre, dass Merleau-Ponty eine starke Bindung an seine Mutter hatte, die sehr vereinnahmend war. Statt die Einzigartigkeit dieser Beziehung zu befragen und ihren Wert als Zugang zum Sein aufzuzeigen, die Art und Weise, wie es sich ihm in seiner Kontingenz dargeboten hat, habe er ein mythisches Bild daraus gemacht. 

Chiara Zamboni, Sentire e scrivere la natura. Mimesis Edizioni (Milano – Udine) 2020, 217 S., 20 €

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Autorin: Dorothee Markert
Redakteurin: Dorothee Markert
Eingestellt am: 10.05.2022
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