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Rubrik denken

Die Offenbarung der Realität

Von Monika Brigo, María-Milagros Rivera Garretas

Anmerkungen der Übersetzerin Monika Brigo: Der Text „L´epifania della realtá“ („Die Offenbarung der Realität“) der spanischen Historikerin María Milagros Rivera Garretas hat sich für unsere Frauengruppe als wahre Schatztruhe für die Suche nach einer Sprache der Wahrheit und der Freiheit geoffenbart. Er wurde im März 1996 in der Nummer 25 von Via Dogana, der Zeitschrift des Mailänder Frauenbuchladens, veröffentlicht. María-Milagros Rivera Garretas hat ihn auf Spanisch geschrieben, Clara Jourdan ins Italienische übersetzt. Zusammen mit „Not made in USA“ (für bzw-weiterdenken übersetzt von Sandra Divina Laupper) ist er einer der beiden Texte, die wir Baubó-Frauen zusammen mit den Frauen der Frauengruppe Carla Lonzi bei unseren Treffen in Brixen (im März) und in Bozen (im April) gemeinsam lesen und diskutieren. Diese regelmäßigen Treffen der beiden Frauengruppen sehen wir als eine besondere Praxis an, der wir den Namen „Marmot´“ gegeben haben. Wie es schon im Begleittext zu „Not made in USA“ steht, haben wir gemerkt, dass gerade die ritualhafte Wiederholung der Lektüre derselben Texte uns erlaubt hat, spontan neue Zusammenhänge und Verbindungen zu entdecken und zu vertiefen, die stets mit unseren aktuellen Diskursen zu tun haben. So entstehen neue Erkenntnisse, die sich immer wieder in prägnanten Redewendungen und Zitaten ausdrücken lassen, wie zum Beispiel „Zwischen mir und der Welt – eine andere Frau. Zwischen mir und mir selbst – eine andere Frau.“ (Ida Dominijanni). Oder: „Es gibt noch anderes.“ (Luisa Muraro). Oder auch: „Der erste revolutionäre Akt besteht darin, die Dinge beim Namen zu nennen.“ (Rosa Luxemburg). Die prägnantesten Redewendungen und Schlagwörter sammeln wir in einem Thesaurus – was wiederum eine Praxis für sich darstellt. Aus diesem Thesaurus können wir immer wieder das passende Zitat herausfischen, mit dessen Hilfe wir unseren Diskurs der Freiheit entwickeln und zugleich mit jenen Diskursen von Freiheit, die schon viele Frauen vor uns erarbeitet haben, in Zusammenhang stellen können.

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María Milagros Rivera Garretas : Die Offenbarung der Realität (1996)

Seit einigen Monaten denke ich darüber nach, wie die enge Verbindung, die ich und andere Frauen mit der politischen Praxis der Frauen der „Libreria delle donne di Milano“ pflege, den Sprachgebrauch der feministischen Kultur, in der ich lebe – nämlich jener von Barcelona – verändert hat. Dabei besann ich mich auf eine Ausdrucksweise von María Zambrano: „die Offenbarung der Realität“. Unter Offenbarung der Realität versteht María Zambrano – wenn ich sie recht verstehe – jenes freudvolle Ereignis, das eintritt, wenn etwas sich in unseren Augen als sinnvoll erweist: „Es ist der Eintritt ins Bewusstsein und mehr noch als ins Bewusstsein, der Eintritt ins Licht, ein glorioses Ereignis, dieses Aufleuchten, das jede Realität an sich hat, sobald sie es endlich zulässt, sichtbar zu werden.“ („El hombre y lo divino“, S. 245)

Als verwöhnte Leserin von Frauentexten, die ich bin, stelle ich fest, dass sich in meiner Erinnerung die Worte von María Zambrano mit den Worten von Egeria (oder Aetheria) sowie jenen von Radegundis verbinden. Im vierten beziehungsweise im sechsten Jahrhundert nach Christus nannte sowohl die eine als auch die andere jene Frauen, die ihnen den revolutionärsten Aspekt ihres Lebens widerspiegelten, „ihr Licht“ und „ihre Augen“ (lumina).

Ich denke, das Wichtigste, was die oben genannte enge Verbindung zur politischen Praxis der Frauen der „Libreria delle donne di Milano“ meiner politischen Kultur gegeben hat, besteht genau darin: dass sich uns etwas aus der Realität offenbart hat. In Worten ausgedrückt, die heute geläufiger sind: Für uns war entscheidend, die Bedeutung des Symbolischen zu erfassen – das heißt die Wichtigkeit der Arbeit, die wir leisten, wenn wir den Sinn von Lebensläufen oder auch nur einzelnen Ausschnitten (Fragmenten) aus dem Leben verschiedener Frauen erkennen und mit anderen teilen. Lebensläufe und Fragmente, denen wir zwar immer wieder begegnen, denen allerdings bisher der Lebensraum gefehlt hat, den sie gebraucht hätten, um in ihrer Sinnhaftigkeit erkennbar zu sein. Die dumpf wie eine sinnlose Fragestellung schienen, aber auf uns stets beunruhigend und verstörend gewirkt hatten. Wenn sich uns auf diese Weise etwas aus der Realität neu geoffenbart hat, war dies oft leidvoll, denn es stellte uns vor die Notwendigkeit, uns im sozialen Leben neu zu orientieren, was meist mehr oder weniger schmerzliche Veränderungen nach sich zog.

Der Prozess der Veränderung des Sprachgebrauchs ging langsam vor sich und dauerte lange. Er begann im Jahr 1986, noch bevor sich persönliche Beziehungen zur „Libreria delle donne“ eingestellt hatten. In diesem Jahr kaufte ich in der „Libreria delle donne di Firenze“ das Buch Guglielma e Maifreda von Luisa Muraro, einer mir damals unbekannten Autorin. Im Vorwort las ich etwas, das ich seither nicht mehr vergessen habe, da ich es schon seit geraumer Zeit suchte: „Zu versuchen, diese Zeichen zu entschlüsseln, war das, was für mich am naheliegendsten war und zugleich auch das, was ich als das Wichtigste für mein Geschlecht ansehe: sich selbst eine Bedeutung zu geben.“ (S. 9)

Diese Worte „sich selbst eine Bedeutung zu geben“ waren für mich die erste Offenbarung der Realität, die ich erfahren habe. Die letzte Offenbarung der Realität habe ich vor ein paar Tagen erlebt, als ich an einer politischen Diskussionsgruppe teilnahm, die ich zusammen mit anderen Frauen in der Buchhandlung „Libreria Pròleg“ in Barcelona gegründet habe. Wir lasen den Text Libertá femminile e norma von Lia Cigarini und besprachen das Thema der Praxis der Beziehungen, als Mireia Bofill anmerkte: Das Wichtigste, was sich in den acht Jahren aus meinen Kursen des dritten Zyklus am „Centre d´Investigació Historica de la Dona“ ergeben hatte, wäre nicht (wie ich dachte), dass sich Frauen zusammengetan hatten, um ein mehr oder weniger neues Wissen zu vermitteln, sondern dass ein Netz aus Beziehungen unter Frauen entstanden sei, das sich an den verschiedenen Orten, die die jeweiligen Frauen in der Gesellschaft Barcelonas besetzen, aufspüren lasse.

Zwischen diesen beiden Daten, 1986 und 1995, vollzog sich der Prozess der Veränderung des Sprachgebrauchs an verschiedenen Orten der Frauenbewegung. Worte und Ausdrucksformen, die in den achtziger Jahren sehr populär gewesen waren, verloren an Sinn, etwa „Schwesternschaft“, „Gleichheit“, „Geschlecht“, „Utopie“, „Solidarität“. Dafür verbreiteten sich andere, wie „von sich selbst ausgehen“, „sich einer anderen Frau anvertrauen“, „Genealogie der Mutter“, „weibliche Autorität“, „symbolische Ordnung der Mutter“… Wiederum andere Ausdrucksformen haben ihre Bedeutung verändert; der wohl auffälligste Bedeutungswandel betrifft den Ausdruck „weibliche Differenz“. Dieser Ausdruck verliert immer mehr den Bezug zu jenem Stereotyp „Frau“, das im gängigen System der Geschlechter gültig ist, und geht stattdessen dazu über, das zu beinhalten, was wir uns in aller Freiheit getrauen zu behaupten, dass es bedeute, eine Frau zu sein.

An der Universität von Barcelona begann im Jahr 1991 eine Forschungsgruppe namens Progetto Duoda, einen Thesaurus der Geschichte der Frauen auszuarbeiten. Wir begannen damit, als wir feststellten, dass die uns zur Verfügung stehende historische Fachsprache nutzlos wurde, sobald wir versuchten, wie in einem Schlagwortregister den Sinn zu definieren, den die Texte über die Frauengeschichte, die wir für unsere Forschungsarbeit verwendeten, für die Geschichte im Allgemeinen hatten. Nach vielen (viel zu kurzen) Zusammenkünften entschieden wir, halb im Spaß, halb im Ernst (da wir nur die jesuitische Bedeutung von „Einkehrtag“ kannten), uns ein Wochenende lang an einen Badeort zurückzuziehen, dem Beispiel der Einkehrtage der philosophischen Frauengemeinschaft Diotima folgend, an denen ich im September 1991 teilgenommen hatte. Dort sprachen wir Frauen miteinander, ohne ein anderes Ziel vor Augen zu haben, als frei zu sagen, wie wir die Geschichte sahen, und vor allem, wie wir die Geschichte dargestellt sehen wollten. Auf diese Weise erstellten wir eine Bedeutungsstruktur, die zugleich eine Struktur für die historischen Begriffe darstellte. Daraus entstand vier Jahre später ein Thesaurus, von dem wir denken, dass er das Problem löst, von dem wir ausgegangen sind.

Freilich: Diese Veränderungen des Sprachgebrauchs haben sich nicht in allen, ja nicht einmal in vielen Bereichen des Feminismus in Barcelona durchgesetzt. Sie haben sich in jenem Bereich durchgesetzt (der weder klar von anderen Bereichen abgegrenzt noch für uns mit Genauigkeit zu bestimmen ist), wo sich der Sinn des Sprachgebrauchs, der für die Politik der Frauenemanzipation typisch ist, abgenutzt hat, weil die in den siebziger Jahren mit Erfolg eingeforderten Reformen nicht zu den entsprechenden Veränderungen im sozialen Leben vieler Frauen geführt haben.

Autorin: Monika Brigo, María-Milagros Rivera Garretas
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 19.06.2022

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