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Gender und sexuelle Differenz, Teil 2: Annarosa Buttarelli über die Bedeutung von „Frau“

Von Antje Schrupp, Annarosa Buttarelli

Die Philosophinnengemeinschaft Diotima in Verona hat Anfang 2022 eine Online-Veranstaltungsreihe zum Thema „Gender und sexuelle Differenz – Blicke und Worte im Übergang“ veranstaltet, die teilweise bei Youtube im Kanal „I Video del Circolo Della Rosa“ angeschaut werden kann. Katrin Wagner und ich haben uns zusammen zwei der Videos angeschaut und darüber diskutiert, und wir dachten, das könnte auch für andere interessant sein. 

Annarosa Buttarelli (rechts) und Max Simonetto.

Beim zweiten Abend erläutert Annarosa Buttarelli, Diotima-Philosophin und Dozentin an der Universität von Verona, wie sie in der Begegnung mit einer Studierenden, Max Simonetto, angeregt wurde, neu darüber nachzudenken, was sie mit dem Begriff „Frau“ verbindet und warum sie diesen „Namen“ auch mit trans Frauen teilen kann. Max ist bei dem Abend ebenfalls zugegen. Link zum Video.

Buttarelli stellt eingangs die Frage: „Warum macht der Begriff „Frau“ so viele Probleme?“ Sie schildert, wie sie und Max, die inzwischen miteinander befreundet sind, sich vor einiger Zeit in einem ihrer Seminare kennenlernten: Buttarelli las am Anfang des Semesters wie üblich die Namen der Studierenden vor, um sie den Personen im Raum zuzuordnen. Als die Reihe an „Massimo Simonetto“ kam – so stand es auf der Liste, die sie vom Sekretariat bekommen hatte – sprach sie die Person, dem Namen entsprechend, mit männlichen Pronomen an. Max antwortete aber, sie wolle nicht als „Massimo“, sondern als „Max“ angesprochen werden, „weil ich mich als Frau fühle.“

Buttarellis spontane Reaktion sei Irritation und dann auch etwas Ärger gewesen. (Anmerkung Antje: Dazu ist vielleicht wichtig zu wissen, dass Max äußerlich sehr „männlich“ aussieht, Max versucht offensichtlich nicht, optisch als „weiblich“ gelesen zu werden). Buttarelli hat sich dann gefragt hat, warum sie so reagiert, und folgende Erklärung gefunden: Sie selbst habe sich den Begriff „Frau“ angeeignet, „erobert“, und fragte sich nun, ob sie diesen „Namen“ mit Max teilen kann. Um das herauszufinden, ist sie den Weg noch einmal durchgegangen, „der mich dazu geführt hat, dass ich eine Frau bin“.

Ihre anfängliche Wut und Irritation, so glaubt sie, sei daher gekommen, dass sie der Ansicht war, diesen Namen „Frau“ müsse man sich erobern, „man kann ihn nicht einfach so behaupten.“ Zu dieser „Eroberung“ – damit meint Buttarelli die feministische Aneignung des Begriffs „Frau“ durch die Frauenbewegung, von der Chiara im vorigen Video gesprochen hat – gehörte auch der Wunsch, sichtbar zu machen, dass Frauen nicht die Gleichen der Männer sind, also das Frausein von der Definition der Männer oder aus dem Rahmen einer männlichen symbolischen Ordnung zu befreien. Deshalb sei der Anspruch, dass eine Person, die nicht offensichtlich „weiblich“ in Erscheinung treten möchte, als „Frau“ akzeptiert werden möchte, für sie eine schwierige Anforderung gewesen.

Sie habe sich dann die Umstände ihres eigenen Weges zum Frausein noch einmal vergegenwärtigt und sei zu der Ansicht gekommen: „Okay, wenn Ihr euch Frauen nennen wollt, müsst ihr auch die ganzen anderen Umstände des Frauseins übernehmen. Wenn ihr das macht, könnt ihr auch sagen: Ich bin eine Frau.“

Buttarelli nennt das „riuscire di entrare in una genealogia“. Sie ist bereit, den Namen „Frau“ mit allen Personen zu teilen, denen es „gelingt, in eine weibliche Genealogie einzutreten“. (Hier ist eine Parallele zu Andrea Günters aktuellem Buch über einen genealogischen Geschlechterdiskurs)

Buttarelli und Simonetto haben dann gemeinsam darüber gearbeitet, was der Begriff „Frau“ in der Geschichte bedeutet, das heißt, Max hat sich auf diesen Dialog eingelassen. Dieser Austausch habe viel gebracht und viel geklärt, gerade weil beide eingewilligt haben, alles „politische Korrekte“ außen vor zu lassen, sondern subjektive Positionen ohne Einschränkungen zuzulassen und durchzuarbeiten, was auf beiden Seiten durchaus Mut erforderte. Buttarelli meint, dass ein solches Vorgehen, nämlich die eigene Subjektivität ins Spiel zu bringen und sich dabei nicht von öffentlichen Debatten und Tabus beschränken zu lassen, wichtig ist, um zu Erkenntnissen zu kommen. Dies funktioniere aber nur im Rahmen einer konkreten persönlichen Beziehung. Nur im direkten Austausch könne man den Mut aufbringen, die eigene Subjektivität ins Spiel zu bringen, was aber die Voraussetzung dafür ist, bestimmte Entscheidungen der anderen verstehen zu können.

Buttarelli erklärte nun, warum sie nicht bereit ist, den Namen „Frau“ einer bloßen Selbstzuschreibung mit anderen zu teilen. Dazu muss natürlich erst einmal geklärt werden, was die Bezeichnung „Frau“ bedeutet. „Frau“ ist laut Buttarelli nicht einfach eine biologische Kategorie, sondern ein politisches Differenzkonzept, jedenfalls von Seiten der Frauen. Sie empfiehlt dazu das Buch „Donna. Storia e Concetto Polemico“ von Paola Rudan, die die Bedeutung des Begriffs „Frau“ in der weiblichen politischen Ideengeschichte seit Christine de Pizan nachzeichnet.

„Frau“ wird in dem Moment ein politisches Konzept, wo eine oder viele Frauen (wie es im Feminismus der Fall war) „die Bürde einer eigenen autonomen Definition ihrer selbst auf sich nimmt, gegen die Herrschaft, die diesen Namen unterdrückt.“ Der Name „Frau“ habe in der Geschichte viel zu ertragen gehabt, er sei in der männlichen Genealogie erfunden worden, um die Fremdherrschaft von Männern über Frauen zu ermöglichen. (Anmerkung Antje: Vermutlich ist es im deutschen Kontext irritierend, dass Buttarelli von dem Wort „Frau“ als einem „Namen“ spricht, nicht als Begriff oder Bezeichnung. Damit wird jedoch angezeigt, dass mit dem „Frausein“ keine inhaltliche Definition oder Beschreibung verknüpft werden soll. Es wird also die Inhaltsleere betont, die Voraussetzung für eine „freie Bedeutung des Frauseins“.)

Das Wort „Frau“, so Buttarelli, hat eine lange Geschichte, vielleicht sogar eine spirituelle. Früher zeigte es eine stereotype Rollenfunktion an, „die Herrin der Familie“ (Das italienische Wort für „Frau“ heißt „donna“, A.S.), also eine Position im Rahmen einer männlichen Genealogie. Deshalb haben Buttarelli und viele andere „emanzipierte“ Frauen die Bezeichnung „Frau“ lange als uninteressant empfunden. „Wir haben diesen Namen als Rollenzuschreibung zur Seite gelegt“, denn auf dem Weg zur Emanzipation war er störend und hat nichts zur Selbstdefinition der Betreffenden beigetragen. „Im Gegenteil, meine Ausbildung brachte mich dazu, eine von denen zu sein, die keinen Unterschied machen“, also nicht anders sein wollen als die männlichen Kollegen in Ausbildung und Beruf.

Doch mit dem Feminismus wurde der Name „Frau“ für Buttarelli eine „Brandstiftung“, der Ankerpunkt für ihr Leben und ihr Denken. „Er hat mich auf das rechte Gleis gestellt, und ich habe dafür den Preis bezahlt, denn man bekommt solche Dinge nicht gratis, dafür muss man etwas geben an die Welt, die du verlässt.“ Das feministische Bekenntnis zum Frausein bedeute nämlich einen Abschied aus dem Anerkennungs-Zirkel der männlichen symbolischen Ordnung. Buttarelli spricht hier von der „Öffnung eines liebenden Konflikts.“

Das politische Konzept, das in dieser Aneignung des Namens „Frau“ als Differenzmarkierung zu der Definition durch die männliche Ordnung liegt, sei folgendes: „Der Name Frau setzt dich in die Position, dass du gegen die Herrschaft bist, die dich unterdrückt, und dann gehst du in die Position, gegen jede Herrschaft zu sein.“ Aber das sei nur möglich, wenn man versteht, dass es dafür notwendig ist, den eigenen Körper, den Körper einer Frau, als öffentlichen Ort zu verstehen. „Mein Körper ist ein politischer Ort und nicht mehr eine Rolle. Mein Körper ist mein eigenes Dasein – das ist der radikale Differenzfeminismus.“

Sie könne nicht sagen, was das für Frauen bedeutet, die keine Cis-Frauen sind. Bei ihr jedenfalls, wo sich glücklicherweise der biologische Körper mit ihr selbst verbindet, sei es das Wissen, „dass mein Körper politisch ist.“ Buttarelli vermutet, dass aus dieser feministischen Erfahrung, dass der Körper einen wesentlichen Anteil an der Politik der Frauen hat, ihre anfängliche Irritation herrührte, als Max für sich beanspruchte, eine Frau zu sein. Doch durch die Begegnung und das Gespräch mit Max hätten sich diese Irritationen geklärt. „Ich kann nach diesem Prozess sagen, dass ich diesen Namen „Frau“ teilen kann mit anderen, die diesen Namen teilen möchten, insofern er die ewige Instanz gegen jegliche Herrschaft ist.“

Der Feminismus kämpfe ja nicht nur für Frauen, sondern für, alle, die beherrscht werden. Frauen, so Buttarelli, befanden sich historisch immer außerhalb der Konstruktion der Herrschaft, weil es einen kleinen, aber substanziellen Unterschied zwischen Macht und Herrschaft gibt (Macht hatten und haben Frauen auch, A.S.). Eine wesentliche Form der Herrschaft sei die Misogynie, die Frauenfeindschaft, die sich heute vor allem als Verachtung für die Gedanken von Frauen ausdrückt. Aus diesem Grund glaubt Buttarelli, dass eine „ewige“ Wahrheit in der Beobachtung liegt, dass Frauen fähig sind, gegen Herrschaft zu kämpfen, sich ihr zu entziehen und sie zu dekonstruieren. Deshalb sei sie der Ansicht, dass, wer sich eine Frau nennt, in diesem Sinne eine Frau sein muss: nämlich sich mit dieser Bezeichnung der Herrschaft zu entziehen und diese Bedeutung des Namens „Frau“ wertzuschätzen. „Frau“ stehe als Name inhärent dafür, sich zum Anderen und für die Beziehung zum Anderen offenzuhalten. Dies werde durch trans Frauen nicht ausgelöscht. Auch sie können dieses politische Konzept des Frauseins vertreten und verkörpern, ist Buttarelli überzeugt.

Zu sagen „Ich bin ein Mann“ bezeichne ein subjektives global-kollektives Konzept. Zu sagen „Ich bin eine Frau“ bezeichne hingegen ein singulär-kollektives Konzept, und das war Bewegung der Frauenbewegung. Buttarelli: „Der Name „Frau“ hat diejenigen unter sich versammelt, die in diesem Namen, nämlich weil sie Frauen sind, beherrscht wurden, und die sich davon befreit haben (befreit, und nicht nur emanzipiert).“

Anschließend ergänzte Max noch, dass Max sich nach diesen Gesprächen mit Buttarelli heute nicht mehr unbedingt als „Frau“ bezeichnet: „Ich habe das damals so gesagt, wollte aber vor allem ausdrücken, dass ich mich nicht als Mann gefühlt habe.“ Die männliche Geschlechtsidentität sei Max von außen entgegengebracht worden: „Ich sollte lernen, was es heißt, ein Mann zu sein.“ Mit dieser Zuschreibung sei Max nicht einverstanden gewesen, und das habe den Anstoß zur Hinterfragung der eigenen Geschlechtszugehörigkeit gegeben.

Autorin: Antje Schrupp, Annarosa Buttarelli
Eingestellt am: 12.06.2022

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Ulrich Wilke sagt:

    “Frau” ist kein Name, sondern eine Gattungsbezeichnung (im Gegensatz dazu kann “Mann”
    ein Name sein, z. B. Thomas Mann). Im 9. Jahrhundert war mit “frouwa” eine Herrin gemeint
    (als Gegensatz zum althochdeutschen “fro” — das bedeutet “Herr”); alle anderen weiblichen verheirateten Menschen nannte man “wip” und die unverheirateten Edeldamen “vrouwelin”
    oder “jungfrouwilin” im 12. Jahrhundert. Heutzutage sind an “Frau” oder “Mann” keine besonderen Verdienste gebunden (ich hatte mir noch anhören müssen: “Wenn du nicht rauchst, bist du kein Mann”; oder Knaben wurden manipuliert mit: “Du willst doch ein
    Mann werden; also hör auf zu heulen!”). Mit den untergegangenen Differenzierungen
    haben wir auch weniger Schmähungen. Niemand muss sich die Titel “Frau” oder “Mann”
    verdienen.

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