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Merleau-Ponty 2: Farben. Die Unbewusstheit der Wahrnehmung. Natur und Sprache. Mensch und Tier.

Von Dorothee Markert

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Die Natur spüren und schreiben

Unter der Überschrift „Die Atmosphäre von rot, das Sein von gelb, das Blau des Meeres“ folgt nun ein Abschnitt Chiara Zambonis über Merleau-Pontys Gedanken zu den Farben. Wie so oft in ihrem Buch steht bereits im ersten Abschnitt Wesentliches darüber:

„Wir spüren die Farben, die Farben ziehen uns an. Wir nehmen sie natürlich wahr, doch das geschieht nicht unabhängig von dem Kontext, in dem wir uns befinden. Es ist jeweils eine bestimmte Farbe, die uns mehr anzieht als andere, und das geschieht, lange bevor uns das bewusst wird. Es ist jenes leuchtende Grün des Pullovers eines Mannes am Strand, das unser Wahrnehmen und Spüren fesselt. Der Vorgang ist also umgekehrt: Jene bestimmte Farbe zieht uns an. Sie nimmt uns in Beschlag. Wir spüren sie. Erst danach achten wir auf den Kontext. Die Farbe, die uns bindet, führt uns ins Herz des Seins“ (S.156).

Anhand der Atmosphäre des Rot gewinnt Chiara Zamboni aus Merleau-Pontys Texten weitere Erkenntnisse. Das Rot habe eine atmosphärische Existenz. Es gebe nicht die rote Farbe im Allgemeinen, sondern beispielsweise jenes kontingente Rot jenes Geländers oder jenes Pullovers. Die Farbe sei keine abstrakte Qualität, sie komme nicht in nicht- kontaminierter Reinheit vor. Die Farbe sei keine empirische Tatsache unter anderen, sondern eine empirische Tatsache, die uns zu etwas anderem hin öffnet, die anderes anzieht und verdichtet. 

Aus dem Strukturalismus De Saussures übernimmt Merleau-Ponty die Begriffe Simultaneität und Differenz und wendet sie auf die Wahrnehmung der Farben an. So ist das Rot eines bestimmten Pullovers nur ein Knotenpunkt einer komplexen Palette verschiedener Rottöne, die ich, vermischt mit anderen Farben, im Zimmer wahrnehme. Das ist die Simultaneität. Und dann ist die Wahrnehmung des roten Pullovers auch noch mit den Farben aufgeladen, die nicht da sind, die ich aber aufgrund meiner Kenntnis der bunten Welt der Dinge mitbringe. Diese Differenz verstärkt ebenfalls die Intensität der wahrgenommenen Farbe.

Merleau-Ponty geht noch einen Schritt weiter mit der Aussage, das sichtbare Rot habe eine Art Rückseite oder Mantelfutter von Unsichtbarem. Das Unsichtbare existiere also nicht neben dem Sichtbaren und unabhängig von ihm, sondern es sei „vertikal“ mit dem Sichtbaren verbunden und dränge sich im Spüren und Wahrnehmen auf. Im Sichtbaren sei das Unsichtbare folglich beharrlich gegenwärtig, also das, was aus dem subjektiven Gedächtnis, der persönlichen und kollektiven Vorstellungskraft, aus dem Mythos und aus der Geschichte komme. 

Wir gehen nämlich nicht von der allgemeinen sprachlichen Kategorie „rot“ aus, um dann die empirische Besonderheit eines bestimmten Rottons hier neben uns wahrzunehmen. Sondern wir sind in einen kontingenten Einzelfall eingebunden, der in der Gegenwart verwurzelt ist. Und dieser bringt ein dickes ontologisches „Paket“ mit sich. 

Die Wahrnehmung von „rot“ ist auch Mythos, Imaginäres. Es hat eine Bedeutungsebene, die über das Historische hinausgeht in etwas Archaisches. Dorthin, wo auch die Unterscheidung zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem auf eine gemeinsame Wurzel trifft, auf ein Gewebe eines Ineinander-Verwoben-Seins von Aspekten, die untereinander nicht mehr als zu Menschen oder Tieren gehörend erkennbar sind – und auch nicht als menschlich oder dinglich, als menschlich oder göttlich, fügt Chiara Zamboni hinzu.

Breiten Raum nimmt in diesem letzten Kapitel Chiara Zambonis nochmals die Beziehung zwischen Natur und Unbewusstem ein. Merleau-Ponty verändert die übliche Vorstellung vom Unbewussten auf radikale Weise. In Das Sichtbare und das Unsichtbare stellt er die Behauptung auf, die Wahrnehmung sei unbewusst. Chiara Zamboni erklärt, wie Merleau-Ponty zu einer solchen Aussage kommt:

Er geht davon aus, dass wir bereits in der Wahrnehmung den Sinn spüren, dass wir das spüren, was auf dem Weg ist, von uns verstanden zu werden. Diese These widerspricht einer Wissenschaftstheorie, nach der der Sinn nur über die Sprache erfasst werden kann, während die Wahrnehmung selbst dafür keine Bedeutung hat. Merleau-Ponty kommt zu diesem Ansatz über die Gestalttheorie und zeigt, wie der Sinn zunächst die Wahrnehmung ausrichtet und dann erst die Sprache. Eine Denkvoraussetzung seiner Aussage ist, dass in der Wahrnehmung nicht Chaos und Zusammenhanglosigkeit herrschen. Das heißt, dass wir beim Wahrnehmen bereits eine Vielzahl an Figuren und Bildern zur Verfügung haben, die zu unserer Erfahrung gehören, welche dann durch das Schreiben und die große Literatur zum Ausdruck gebracht werden. 

Wir können also sagen, dass im Wahrnehmen und Spüren das aufkeimt, was wir im Begriff sind zu verstehen. Merleau-Ponty verändert die Gestalttheorie insofern, als er nicht davon ausgeht, dass wir in der Wahrnehmung bereits klare, sinnvolle Bilder aufnehmen, sondern dass der Sinn während der Wahrnehmung aufkeimt. Das bedeutet, dass wir dabei mit einer Vielzahl an möglichen Figuren konfrontiert sind, die noch nicht festgelegt sind. Wir befinden uns während der Wahrnehmung also auf einem Feld fruchtbarer Mehrdeutigkeit. Beim Wahrnehmen haben wir es zwar nicht mit einem Chaos zu tun, aber mit einer Orientierung hin zu mehreren potenziellen Bedeutungen. 

Nach seiner Aussage, die Wahrnehmung sei unbewusst, fügt Merleau-Ponty noch hinzu, das Unbewusste sei etwas Grundlegendes, ein Existenzial. Existenziale, so erklärt es Chiara Zamboni, sind das, was es erlaubt, dass das Bewusstsein die Welt sieht und dass die Welt sichtbar wird. Ein Existenzial ist eine Art Skelett oder Gerüst der Weltwahrnehmung und damit auch der Wahrnehmung der Lebenswelt. Wenn das Unbewusste ein Existenzial ist, dann deshalb, weil es die latente Nervenbahn der Lebenswelt ist. Es ist das Unsichtbare wie jenes Anderswo des Gegenwärtigen, durch das wir das Gegenwärtige als etwas Aufkeimendes und Wachsendes wahrnehmen können. 

Existenziale sind eine Wiederaufnahme dessen, was Husserl die „Apriori der Lebenswelt“ nannte, sie sind weder subjektiv noch objektiv. Sie sind dort, wo etwas wahrgenommen wird. Sie sind nicht wirklich verborgen, sondern wie alle Strukturen zwischen unseren Handlungen und unseren Absichten, nicht hinter ihnen. Als etwas weder Subjektives noch Objektives strukturieren sie die persönliche Geschichte und sind auch der Ort von Verbindung oder Trennung zwischen mir und den anderen Menschen sowie zwischen mir und den Dingen. Die Existenziale bilden dabei ein Gewebe, das zu einem Bauelement der Intersubjektivität wird.

Weil das Unbewusste also weder subjektiv noch objektiv ist, sondern ein Bauelement der Intersubjektivität, können wir nicht von „meinem Unbewussten“ sprechen, sondern nur von dem Unpersönlichen, das in mir denkt. Es ist das, durch das wir etwas als kurz bevorstehend empfinden. Es macht die Wahrnehmung möglich sowie das Hervorkommen des Sinns bzw. das Durchscheinen des Sinns. Es ist der Grund, warum wir manchmal das Gefühl haben, dass wir etwas, das wir eigentlich noch nicht wussten, irgendwie schon längst gewusst haben. 

Chiara Zamboni fasst zusammen: „In erster Linie ist das Unbewusste das Unsichtbare der Wahrnehmung, ihre Latenz, weshalb beides nicht voneinander getrennt werden kann. Das Unbewusste ist außerdem etwas Anonymes, das als Bindeglied zwischen mir und den anderen dient. Des weiteren ist es strukturell mit dem unendlichen Prozess des Subjektwerdens verbunden: Wenn das Unbewusste als grundlegender Teil der Erfahrung aufgefasst wird, verwandelt sich das ertragene und erlittene Existierende in einen Prozess existenzieller Erfahrung, in einen Weg der Veränderung“ (S. 167).

Merleau-Pontys Aussage, das Unbewusste sei zwischen den Bäumen, hebt Chiara Zamboni besonders hervor. Dies impliziert nämlich, dass das Unbewusste nichts mit Verdrängung zu tun hat und auch nicht mit einem geheimen, sekundären eigenen Denken. (Den Begriff der Verdrängung gebraucht Merleau-Ponty ausschließlich für traumatische Erlebnisse). Das Unbewusste sei genau dort, wo wir wahrnehmen, zwischen den Bäumen. Es sei die Latenz sowohl des Seins als auch der Natur. „Das Unbewusste ist und ist nicht, da es ja unsichtbar ist, doch es ist fruchtbar und befruchtet unsere Erfahrung. Nicht hinter unserem Rücken, sondern dort, wo wir leben“ (S.169). Und daher ist unser Leben immer auch von Träumen durchwirkt, wodurch es sich intensiviert.

Merleau-Ponty zufolge besteht eine enge Verbindung zwischen Natur und Sprache. Chiara Zamboni beschreibt auch hier wieder zwei unterschiedliche Denklinien. Die eine geht davon aus, dass die Natur von Anfang an mit Sinn ausgestattet ist und dass es dem menschlichen Subjekt möglich ist, hier unterstützend zu wirken und den Sinn zum Ausdruck zu bringen. Merleau-Ponty spricht in diesem Zusammenhang von einer gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Natur und Sprache, die beide in dieselbe Bewegung einer Öffnung zum Sinn hin eingebunden sind. Dabei genügt keines von beiden sich selbst. Die Verbindung zwischen Natur und Sprache beschreibt Merleau-Ponty als dynamisch und erfinderisch. Das Subjekt könne intervenieren, um den Sinn noch besser zum Ausdruck zu bringen, doch das bedeute nicht, dass es ihn herstelle. Das Subjekt dürfe sich auch nicht auf die Sprache zurückziehen, als ob diese eine Welt wäre, die sich selbst genügt, ohne Bezug zur Natur. Die Natur dürfe nicht als großes Objekt ohne eigenen Sinn außerhalb von uns betrachtet werden, so, als wären wir die Einzigen, die ihr Sinn verleihen könnten. Denn wir sind ja Teil der Natur, gehören zu ihr, und von dieser Position aus sind wir in der Lage, sprachlich auszuarbeiten, was bereits als Sinnentwurf in ihr vorhanden ist. Es geht nicht um eine Interpretation, sondern um ein kreatives, sprachliches Sich-Vorwärtstasten, ausgerichtet an dem Sinn, der erst nach und nach entdeckt wird.

Die zweite Denklinie Merleau-Pontys untersucht, um was für eine Sprache es sich handelt, wenn in Bezug auf die Natur von Sprache die Rede ist. Hier kann es nicht um eine Sprache gehen, die Sinnzusammenhänge konstruiert. Gemeint ist vielmehr eine literarische oder philosophische Sprache, die ein Gewebe bildet aus Aneinanderreihungen, Differenzierungen, Besonderheiten und Abweichungen, getragen von der Suche nach Sinn, aber ohne von einem Gesamtüberblick auszugehen. Immer wieder stand Merleau-Ponty vor der Frage, wie wir in einer sprachlichen Beziehung zur Welt leben können, ohne sie zum Objekt zu machen – mit der besonderen Schwierigkeit, dass die Sprache schon aufgrund ihrer grammatikalischen Struktur die Welt in der dritten Person zu einem Ding macht. Er vertraute hier ausschließlich auf einen poetischen, künstlerischen Prozess, den Chiara Zamboni folgendermaßen beschreibt: „Wir haben eine innerliche, nicht bewusste Bindung an die Natur. Die poetische Sprache erlaubt uns, jenen Kontakt mit der Welt zum Ausdruck zu bringen“ (S. 186). 

Mit der Betonung der Verknüpfungen zwischen Natur, Subjekt und Sein grenzt sich Merleau-Ponty nach drei Richtungen hin ab. Er wendet sich zum einen gegen die Einstellung, den Wissenschaftsdiskurs als einzige universelle Sprache zu betrachten, die angeblich die ganze Realität umfassen und interpretieren könne, des weiteren gegen einen immanenten Vitalismus, der die Natur als schöpferisches Leben in den Mittelpunkt stellt, von dem die menschliche Geschichte nur eine Ausdünstung sei. Drittens wendet er sich dagegen, die Natur als eine getrennte Macht zu betrachten, die sich im Konflikt mit der menschlichen Geschichte befinde. 

„Die Natur ist also ein richtungsgebundener Prozess, sie ist im Werden. Wir bringen den Sinn unseres Kontaktes mit der Natur sowohl im Handeln als auch in der Sprache zum Ausdruck“ (S. 188). Merleau-Ponty zufolge ist es dafür notwendig, dass die Natur in uns in Kontakt mit der Natur außerhalb von uns ist. Und dass uns die Natur außerhalb von uns von der Natur enthüllt wird, die wir selbst sind. Wir haben eine Bindung an die Natur vor jeder eigenen Entscheidung und vor jeglichem eigenen Bewusstsein. Diese Beziehung ist gleichzeitig symmetrisch und asymmetrisch. Beispielsweise gibt es eine gemeinsame Gegenwart zwischen mir und dem Berg, auf den ich gerade steige, weil wir hier und jetzt in derselben Zeit leben. Doch gleichzeitig hat die Zeit des Berges von seinem Entstehen an, bis er nach Jahrmillionen zu Staub wird, eine unvergleichliche Langsamkeit, wenn ich dagegen mein so kurzes Leben betrachte. 

Sehr interessant fand ich den Abschnitt, in dem Chiara Zamboni der Frage nach dem Bezug zwischen Menschsein und Tiersein nachgeht. Merleau-Ponty distanziert sich von der Vorstellung des Aristoteles, nach der Menschen Tiere mit der Fähigkeit zum Logos seien, also Tiere, zu denen als spezifisch Menschliches noch die Fähigkeit zu rationalem Sprechen, Denken und Handeln hinzukomme. Die Auswirkungen aristotelischen Denkens münden in die Vorstellung, das Menschsein sei darauf zurückzuführen, in erster Linie Körper und damit Tier zu sein, also ein menschliches Tier unter anderen Tieren. Zum tierischen Körper wird dann je nach philosophischer Richtung das Geistige und Rationale hinzugefügt. Merleau-Pontys These ist radikal anders: Wir sind nicht von tierischer Natur, sondern wir sind eine andere Art, Körper zu sein, ein menschlicher Stil, Körper zu sein. 

Hier ist es wichtig zu wissen, dass Merleau-Ponty die Art des Seins von Tieren als symbolisch bezeichnete. Er kritisierte die Interpretation des Begriffes „Instinkt“, die daraus etwas Zielgerichtetes machte, das auf ein bestimmtes Ergebnis ausgerichtet sein soll, beispielsweise auf die Arterhaltung. Merleau-Ponty sah einen engen Zusammenhang zwischen dem, was „Instinkt“ genannt wird, und dem Symbolismus. Für ihn war klar, dass Tiere symbolische Welten schaffen. Wer mit Tieren zusammengelebt hat, weiß um die Rituale in ihren Verhaltensweisen. Und dabei handelt es sich um Ritualisierungen, die nicht dazu dienen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Doch dass Tiere Rituale haben und zu Symbolisierungen fähig sind, heißt nicht, dass sie wie Menschen sind. Die menschliche Kultur ist zwar auch symbolisch, aber der tierische Symbolismus ist anders als der menschliche. Es ist wichtig, den Unterschied zu erfassen. Und ebenso die Unterschiede zwischen den verschiedenen tierischen Symbolsprachen.

Das gilt ebenso für den Körper. Der menschliche Körper gehört nicht zur Körperlichkeit von Tieren, als ob das eine allgemeine Kategorie sei, in der alle Unterschiede eingeschlossen und damit gelöscht seien. Die Körper sind vielfältig und die tierische Natur ist kein Maßstab dafür. Das Symbolhafte des menschlichen Körpers hat seine eigenen Charakteristiken, die nicht im Symbolhaften des tierischen Körpers aufgehen. „Das menschliche Sein in seiner Körperhaftigkeit ist ein Faden im Flechtwerk des Seins. Also ist es […], nichts Substanzielles, sondern ein Schritt zur Seite, eine Differenz, eine Latenz des Flechtwerks in Bezug auf das tierische Sein und all der anderen Körper, die sich in der Natur befinden und die ihrerseits wiederum Fäden des Flechtwerks des Seins sind“ (S. 191). 

Über die Natur zu schreiben führt fast immer zu einem Scheitern. „Wir sehen eine Landschaft, und unsere Worte sind schwarzweiß, während die Bläue der Dämmerung sich über die Farben der Landschaft legt, was wir so sehr lieben. Der Abgrund zwischen den Worten und dem, was wir erleben, hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack von Unzulänglichkeit und Unfähigkeit“ (S. 196).

Merleau-Ponty empfand das nicht so. Denn er hielt sich oft in den „Laboratorien“ der Dichter und Schriftsteller auf, die die Kunst erlernt hatten, über die kontingente Bindung zu sprechen, die sie zur Welt hatten. Chiara Zamboni zufolge ist das eine Kunst, die jeder und jede von uns ausüben kann. Das gelingt dann, wenn wir unserem Bezug zur Erfahrung treu bleiben und uns dann bemühen, ausgehend von der Sprache, die wir zur Verfügung haben, einen Sinn zum Ausdruck zu bringen, den wir noch nicht kennen, denn jene Beziehung ist immer wieder neu. 

Das Gefühl des Scheiterns, weil die Worte gegenüber unserer lebendigen Beziehung zur Natur konventionell und abgedroschen wirken, kommt daher, dass wir uns auf die Sprache beziehen, als sei sie ein Instrument, das wir zur Verfügung haben, um von unserer Erfahrung mit der Natur zu sprechen. Doch so ist es nicht. Die Sprache ist eine eigenständige, rätselhafte und verführerische Welt, etwas Organisches und Lebendiges, innerhalb dessen wir uns bewegen, angetrieben von Zeichen und nicht nur von unserem Vorhaben. Die Sprache ist uns immer voraus. In Auseinandersetzung mit dem Werk von Paul Valéry kommt Merleau-Ponty zu der Aussage, Poesie sei Sprache im Status ihres Entstehens.

Die Welt der Wahrnehmung und die Welt der Sprache sind Dimensionen des Seins. So sieht es Merleau-Ponty. Und er ist sich bewusst, dass Arbeit notwendig ist, damit die Worte in die Nähe der Dinge kommen. 

Merleau-Pontys Weg, um über die Natur anders zu sprechen als über ein großes Objekt außerhalb von uns, fasst Chiara Zamboni nochmals folgendermaßen zusammen: Notwendig sei ein Seitwärtsgehen, man müsse sich horizontal vorwärtsbewegen in der Sprache, „so dass sie der grundlegenden, anonymen und passiven Beziehung Raum gibt, die wir zu den Dingen, den anderen Menschen und den Tieren haben, die in die lebendige Gegenwart eingebunden sind. Notwendig ist eine Sprache der Verliebtheit, die aus ihrem Inneren heraus jene Sprache aufweckt, die hinter festgelegten, dominanten Bedeutungen eingeschlafen ist“ (S. 198).

Chiara Zamboni, Sentire e scrivere la natura. Mimesis Edizioni (Milano – Udine) 2020, 217 S., 20 €

Autorin: Dorothee Markert
Redakteurin: Dorothee Markert
Eingestellt am: 07.06.2022
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Fidi Bogdahn sagt:

    Hier wird geschrieben
    über eine, die was geschrieben hat
    über einen, der was geschrieben hat…-
    sorry, Dorothee, da komme ich nicht mehr mit.

  • Juliane Brumberg sagt:

    Liebe Dorothee, jetzt habe ich mir die Zeit genommen, in Ruhe, den neuen von Dir zusammengefassten Abschnitt aus Chiara Zambonis Buch zu lesen. Ich bin keine Philosophin und im philosophischen Denken nicht geübt. So ist es wohl kein Wunder, dass es mir schwer fällt Deinen Text bis in die letzte Tiefe zu durchdringen und zu verstehen. Aber auch, wenn ich nicht alles verstehe, habe ich doch viel mitgenommen von den Gedanken und Überlegungen, die in diesem Kapitel weitergeleitet werden. Und ich kann mir vorstellen, wie mühselig es ist, diese Texte nicht nur auf italienisch zu lesen, im Geist zu bewegen und dann auch noch weiter zu vermitteln. Vielen Dank dafür! Du öffnest mir damit Fensterchen zu einer Gedankenwelt, von der auch ich spüre, dass es sie gibt, in der ich mich aber nicht bewegen kann. Zur Zeit lese ich in dem Buch Blutsbande, Verwandtschaft als Kulturgeschichte von Christina von Braun. Da gibt es ein Oberkapitel “Verwandtschaft als Text” mit Unterkapiteln : Kurze Geschichte der Schrift, Alphabet und Monotheismus, Alphabet und Sprache. Darin sind Gedanken enthalten die eine gute Ergänzung zu dem von Dir übersetzten Text sind.

  • Dorothee Markert sagt:

    Liebe Fidi, in einer Mail ging Chiara Zamboni auf deinen Kommentar ein. Sie schrieb (meine Übersetzung):
    „Grundsätzlich stimmt das, aber es gibt kostbare Gedanken in den Büchern, mit deren Hilfe wir uns aus den Gemeinplätzen und der herrschenden Sprache herauslösen können, die sich uns sonst aufdrängen. Diese Gedanken ermöglichen uns, anders in der Natur und in der Welt unterwegs zu sein.“

    „In fondo è vero, ma ci sono idee preziose nei libri, per togliersi fuori dai luoghi comuni, dal linguaggio dominante, che altrimenti si impone. E che ci permettono di camminare diversamente nella natura e nel mondo.“

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