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Pucki, Allerleirauh und Winnetou. Als Leserin die Ambivalenz von Texten genießen

Von Andrea Günter

Leserinnenbiographien

Die Aufregung um „Winnetou“ in den Medien ist derzeit groß. Da ich in diesen Tagen gleichfalls das neue Buch „Hier geht’s lang. Mit Büchern von Frauen durchs Leben“ (2021) von Elke Heidenreich gelesen habe, stelle ich fest, dass ich mir die gleiche Aufregung um das Heidenreichbuch wünschen würde. Beide Ereignisse sind komplementär. Was mir auffällt: wie wenig Grundlagen der Feministischen Literatur- und Medienkritik bekannt sind. Genauer gesagt: die berechtigte Kritik an Frauenstereotypisierungen und die Suche nach Autorinnen in der Geschichte wird mit Feministischer Kulturkritik identifiziert. Dabei geht die letztere über die Kritik an stereotypen Frauenbildern und die Autorinnensuche weit hinaus.

Rainer Sturm  / pixelio.de

Zum ersten Mal gingen mir die Augen auf, dass Feministische Literaturkritik mehr ist als die Identifizierung von Stereotypen und die Suche nach Autorinnen, als ich vor 30 Jahren Aufsätze von den feministischen Literaturwissenschaftlerinnen Alison Light und Cora Kaplan las (in: Nölle-Fischer, Karen: Mit verschärftem Blick. Feministische Kulturkritik, München 1987, S. 143-205). Die beiden Wissenschaftlerinnen spüren in ihren Interpretationen nicht einfach die Weiblichkeits-Stereotypen auf, die sich hier natürlich auch auffinden lassen. Sie widmeten sich auch nicht nur bewusst Autorinnen. Vielmehr untersuchen sie, wie Frauen Familien- und Liebesromane lesen, was sie an diesen Texten oder auch an den Heirats-Filmen der 1960er Jahre bewegt, wie diese mit feministischen Diskursen verschränkt sind und darum Weiblichkeitskonzepte regelrecht verschieben.[1]

Das Bemerkenswerte ist, dass die wenigsten Leserinnen sich einfach nur die Stereotype herauspicken, um sich sagen zu lassen, was „wahre Weiblichkeit“ sei. Im Gegenteil, die Position der Leserin ist vielschichtig. Einen Text in die Hand zu nehmen ist ein autonomer Akt, eine aktive Entscheidung dafür, sich auf eine schriftliche Darstellung einzulassen. Das Lesen wiederum beruht darauf, in den Raum der Schrift und der Phantasie einzutreten. Eine (literarische) Schrift vermittelt Formulierungen, Darstellungsmöglichkeiten, Entwicklungen, Einsichten, stellt Szenen, Interaktionen und Konflikte dar. Der Raum der Phantasie erlaubt es, sich mit jeder einzelnen Figur zu identifizieren, mit ihr zu fühlen, zu erregen und zu leiden, und dabei die Identifikationsfiguren immer wieder auszutauschen.

Und das in aller Ambivalenz: frau kann mit den Protagonistinnen an deren Weiblichkeitsschicksal leiden und dieses zugleich identifizieren, annehmen und ablehnen. Lesen dezentriert das lesende Subjekt, derart evoziert es auch die Dezentrierung von Stereotypen. Es nutzt das Ungereimte, die Lücken, das Ungesagte, um es zu füllen und zu akzentuieren, usw. Selbst wenn die Protagonistinnen im Text als passiv dargestellt werden, gerät dies in Spannung zum lesenden weiblichen Subjekt. Für Leserinnen ist es darum zentral, wie widersprüchlich weibliche Figuren dargestellt werden. Jene müssen nicht emanzipiert sein, im Gegenteil, die ideale Figur wird es nicht geben können.

Eine Leserin identifiziert sich also nicht automatisch mit einer passiven weiblichen Protagonistin im Text. Viele Leserinnen beschäftigt vielmehr, welche Widerstände die Protagonistinnen überwinden müssen, wie eigenständig, mutig und hartnäckig sie sind, wie sie mit ihrem Scheitern umgehen, welche Werte sie vertreten, was sie durchsetzen können usw. Das glatte Gegenteil also zur Vermittlung stereotyper Wahrheit des Weiblichen. DAS Weibliche bleibt ein Rätsel, weil es dieses gar nicht gibt.

Pucki, Magda Trott und die Bewertung von Mädchenbüchern

Heidenreichs Lese-Biographie blättert vieles über die unterschiedlichen Erfahrungen von Leserinnen mit Frauenfigurationen und Autorinnen auf. Sei es nun Nesthäkchen, Heidi oder Pucki, so problematisiert Heidenreich zwar Stereotype, gerade was die Mädchenbücher ihrer Jugend betrifft. Sie kann diese aber leider nicht als Erzählungen über Ambivalenz verstehen. Geht es Magda Trott wirklich darum, in Pucki das gehorsame und angepasste Mädchen als Vorbild hinzustellen? Heidenreich stellt gezielt entsprechende Äußerungen vor. Müsste Heidenreich aber nicht ernst nehmen, dass die Autorin Trott „eine der engagiertesten Frauenrechtlerinnen ihrer Zeit war“ (S. 31)? Was müsste sie zitieren, wenn sie das ernst nehmen würden? Würden sich dann nicht wenigstens Spuren einer Dekonstruktion des Artigkeits-Ideals finden? 

Meine Leseerfahrung als Mädchen und Jugendliche mit den Mädchenbüchern meiner Mutter war anders. Ich finde mit meinen Leseerfahrungen auch von diesen Büchern eher etwas in dem wieder, was Kaplan beschreibt: Welche Konflikte werden dargestellt? Zu welchen Widerständen führt mich das Mitleiden mit dem Schicksal der Protagonistin, so dass ich in diesen das Ungerechte des weiblichen Schicksals erspüren lernte? Wie treffen außerdem die Generationen aufeinander? Wie werden die Beziehungen wieder eingerenkt? Und es sind nicht immer die Mädchen, die einlenken. An vielen Stellen entwickeln sich auch die Erwachsenen. In Puckis „Ehejahren“ erleben wir eine junge Frau, die ernst genommen werden möchte, und als ihr Mann sein Verhalten entsprechend ändert, sie nämlich nicht länger „Pucki“, sondern „Heidi“ nennt, kann sie diese Änderung zunächst nicht richtig einordnen. 

Regelrecht ungehalten macht mich an der Sichtweise, dass Autorinnen ungebrochen Weiblichkeitsstereotypen aufstellen und Leserinnen sich mit diesen identifizieren würden, dass der Stereotyp „weibliche Passivität“ genau durch diese Bewertung auf Leserinnen übertragen wird. Leserinnen werden zum Repräsentanten dieses Stereotyps, sie müssen und brauchen gar nicht nach ihrer Sichtweise auf einen Text gefragt werden. Der Stereotyp im Text wird zum Stereotyp über die Leserin, die Szene vom Text auf die Wirklichkeit verschoben und das, was sie an Differenz und Ambivalenz erzählt, ein weiteres Mal überdeckt. Weiblichkeitsstereotype entstehen erst durch genau eine solche Rezeptions- und Bewertungskultur. Obgleich Heidenreich die Vielschichtigkeit der Beziehung zwischen Leserinnen und Autorinnentexten aufzeigt, ist sie vor dieser Falle nicht gefeit.

Pucki, Winnetou und die Kultur, die Bibel auszulegen

Ich selbst bin mit einer konservativen, bildungsarmen katholischen Großmutter aufgewachsen. Als ich anfing, Karl May zu lesen, fand ich Old Shatterhands Aussage, dass sich der Glaube an Gott nicht einfach beim Gottesdienstbesuch bezeugt, sondern auch beim Reisen und im Kontakt mit anderen Völkern und Religionen. Zu reisen und Frieden zu stiften sei Gebet. Als junges Mädchen hat sich mir durch diesen Kommentar eine neue Sichtweise eröffnet, mein Verständnis des Religiösen konnte sich ausdehnen. Diese Idee des Ausdehnens prägt mich ebenso wie die Effekte der Sprache auf die Imagination. In dem Märchen Allerleihrauh Kleider imaginieren zu können – eines, das so schön ist wie die Sterne, eines, das so schön ist, wie der Mond, und eines, das so schön ist wie die Sonne – und durch diese Imagination Transreales zu erspüren, ließ mich meine Liebe zur märchenhaften Dimension von Philosophie und Theologie entdecken. [2] Dass das Grimmsche Märchen in eine Hochzeit mündet, war für mein Sinnbedürfnis irrelevant. Ich brauchte kein Happy End, weil ich weder ein Ende noch Eindeutigkeit brauche. Ich ziehe das Ausdehnen ins Transzendente vor.

Außerdem: Old Shatterhand hält Old Wabbles Ansicht, dass Weiße die besseren Menschen und Farbige keine richtigen Menschen seien, folgende Position entgegen: Farbige könnten sagen, Weiße seien keine richtigen Menschen, weil Gott sie ohne Farbe geschaffen habe. Unter den Menschen aller Hautfarben gebe es gute und schlechte Menschen.

Mag Karl May diese Sichtweise in seinen Darstellungen nicht durchgehalten haben, so kann die Bewertung seiner Texte der gleichen Haltung folgen, die bei Interpretation von biblischen Texten gepflegt werden kann. In diesen kann das Prinzip „Auge um Auge“ hervorgehoben oder aber die befreiende Botschaft in den Vordergrund gestellt werden, ohne dass bei der letzteren Herangehensweise Kritik an solchen Prinzipien vernachlässigt werden muss. Im Gegenteil, beides miteinander in Beziehung zu setzen, erlaubt den Kontrast hervorzuheben und die Gefahren der gewalttätigen Positionen nicht bloß zu benennen, sondern diesen etwas anderes entgegenzuhalten. Ich ziehe diese Haltung gegenüber einem Text vor. Gerade weil ein jeder Text nie eindeutig ist, ebenso wenig (vollkommen) seinen eigenen Ansprüchen und Proklamationen gerecht zu werden vermag, dies auch der allerbesten und -richtigsten Kritik nicht gelingt, bleibt es schwieriger, statt Stereotype zu identifizieren die befreienden Momente eines Textes zu eruieren.


[1] Ausführlicher hier.

[2] Das theoretische Konzept zu dieser Sichtweise habe ich später bei Luisa Muraro entdeckt, vgl. Andrea Günter, Märchenhafte Theologie. Zur Poetologie des Häretischen.

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Elfriede Harth sagt:

    Liebe Andrea, – auch ich bin Märchenfan, habe Karl May mit Begeisterung gelesen und darin viele positiven Dinge gefunden. Ich sehe in diesen Texten mehrere Schichten, die eben unterschiedlich interpretiert werden koennen. Es sind darin Erfahrungen aus anderen Zeiten, die jedoch in mir resonieren, weil sie Botschaften enthalten, denen ich Positives abgewinnen kann. Durchaus vielleicht in dem Bewusstsein, dass ich manches anders sehe oder kenne. Manchmal ist es einfach interessant, wie weit entfernt gewisse “Wirklichkeiten”, die in Geschichten berichtet werden, sind. Dass es solche “Wirklichkeiten” vielleicht mal geben konnte, aber (zum Glueck oder leider) inzwischen nicht mehr gibt, weil sich so vieles gaendert hat. Ich glaube, es gibt auch einen “historischen Eurozentrismus”, wenn ich das mal so benennen kann, mit dem Texte aus frueheren Zeiten gelesen werden koennen…. wer weiss, wie unsere Narrative in 50 oder 150 Jahre wirken….

  • Anke sagt:

    Danke für diesen klugen Text über kluge Leser*innen. Ich habe auch alles verschlungen als Kind, als Mädchen, als junge Frau – bis heute. Pucki, Nesthäkchen, Pippi Langstrumpf, Karl May, da mit Vorliebe die ganz alten Ausgaben, dann Berte Bratt-Bücher rauf und runter, Dolly, Hanni und Nanni, dann wieder Hermann Hesse, Thomas Mann, Theodor Fontane, alle Bronte-Schwestern, Georgette Heyers Romane – gemischt mit Comics über Micky und Minni, Lucky Luke, Tim und Struppi bis zu Marvel…. und ja, ich habe es damals als kindliche und jugendliche Leserin schon sehr sehr genau analysiert und durchdacht, was ich da alles durcheinander gelesen habe. Es hat mir auf meinem feministischen Entwicklungsweg nicht geschadet, Stereotype zu lesen. Feministische Bücher habe ich erst viel viel später entdeckt. Und Reflexion im Elternhaus gab es nicht für mich, meine Mutter hat Utta Danella und Schlimmeres gelesen und ein bisschen Zeitung, mein Vater höchstens Sachbücher. Reflexion auch nicht in der Schule, da gab es Goethes Faust mit pädophil-geneigtem Deutschlehrer. Ich war eine Allein-Leserin aber mit städtischer kostenloser Leihbücherei. Und meinen eigenen Kindern habe ich alle meine alten Kinderbücher in der alten Rechtschreibung zu lesen gegeben, auch wenn sie in der Schule die neue Rechtschreibung gelernt haben. Hat ihnen gar nicht geschadet. Auch meine Jungs lesen Bücher. Also – diese woke Cancel-Kultur der Verlage begreife ich überhaupt nicht….

  • Anne Newball Duke sagt:

    Mmmhhh… naja, vielleicht begreift man die “woke Cancel-Kultur” nicht, wenn man keine Betroffene von in Literatur diskriminierten, rassistisch ausgestalteten Charaktereigenschaften in Figuren ist; wenn man sich also nicht selbst in den stereotypisierten Frauenfiguren erkennt oder sich mit ihnen identifiziert bzw. identifizieren muss, es aber z.B. schwarzen Leser*innen demgegenüber kaum andere “Identifikationsluft” lässt. Klar kann ich als schwarze Leser*in sagen, ich identifiziere mich mit Pippi, aber dennoch bleibt mir dann irgendwas Unerklärliches im Halse stecken, wenn ich noch keine Begrifflichkeiten und Verstehensmöglichkeiten von Rassismus habe. Als ich (als Weiße) irgendwann als schon fast Erwachsene das erste Mal Pippi Langstrumpf las, war ich schon begeistert, aber so komisch teils… ich weiß ich noch, wie ich über den Moment stolperte, als sie Meduzin (oder irgendwie anders falsch von Pippi ausgesprochen) kaufte und dann in den Gulli goss für die Menschen… ich weiß nicht mehr, wie sie benannt wurden… ich mag es auch gerade nicht heraussuchen. Eben noch kaufte sie den ganzen Süßigkeitenladen für alle Kinder ihrer Stadt auf, dann gießt sie Meduzin in den Gulli für die Kinder auf der andern Seite der Welt. Hä? Ich war darüber schon damals ziemlich verwirrt; und als dann vor einigen Jahren die Diskussion aufkam um all die rassistischen Elemente in Pippi – die nicht nur Elemente mal hier und mal da sind, sondern Pippis ganzes Dasein, ihr Reichtum, ihre Möglichkeiten für Freiheit beruhen ja auf kolonialer Ausbeutung, fiel es auch mir dann wie Schuppen von den Augen – da erinnerte ich mich sofort wieder an diese Gulli-Szene.

    Natürlich bin ich als Leserin zu Ambivalenz fähig. All die Märchen von Aschenputtel, Allerleirauh, Die Prinzessin mit dem goldenen Stern auf der Stirn, der Salzprinz, Die sieben Raben, die zwölf Schwäne… besonders, wenn Frauen sich auf eine abenteuerliche Reise machen mussten, war ich Feuer und Flamme, auch wenn sie – wie ich schon in einem anderen Artikel schrieb – das am Ende nur taten, um Ende ihrer langen beschwerlichen Reise vom Prinzen vor sich aufs Pferd gehoben zu werden. Wussten sie das, als sie sich auf die mühevolle Reise begaben, was am Ende stehen würde und wofür sie es taten?

    Ich habe bis heute zumindest Hoffnung bei Aschenbrödel. Denn sie heiratet zwar auch, aber sie hat auf dem Weg zur Hochzeit ihr eigenes Pferd, und sie reitet ihm auf diesem auch auf dem Weg zur Hochzeit vorneweg und davon. Ich wünschte ihr immer, dass sie sich dieses Voraussein, die Freiheit und Frechheit und eine gewisse Kindlichkeit in der Ehe und in den ganzen neuen Ämtern am Schlosse bewahren kann. Und ich konnte es kaum bezweifeln, denn sie war so gut in allem, so weit überlegen in der Schnelligkeit (Reiten, Denken), in der Präzision (Schießen), Ausdauer (so präzises Schießen muss sie ja erstmal so gelernt haben), im genauen Hinschauen und Erkennen und vor allem in dem kompromisslosen Verlangen, dass dies auch ihr Zukünftiger können muss: “Ich heirate dich nicht, wenn du mich nicht erkennst”, sagt sie ihm ja. Vor allem das gibt mir Hoffnung bis heute. ;)

    Ich frage mich tatsächlich ziemlich oft, ob nicht dieses “Eheziel”, die “Zähmung” all dieser wilden, so freiheitshungrigen Frauenfiguren am Ende aller Geschichten nicht “etwas” – und was dieses “Etwas” ist, das würde jetzt zu weit führen, dem nachzugehen – mit mir gemacht hat. Ich glaube schon, dass auch die Märchen ein ganz klein bisschen daran Schuld sind, dass ich das Patriarchat lange unterschätzt habe. Dass ich dachte, kluge, schöne, wilde, mutige Frauen heiraten eben und sind dann in der Ehe genauso glücklich und wild und frei. Ich würde die Wirkung von den sehr klaren “Empfehlungen” in den literarischen Texten nicht unterschätzen. In der Masse kann es schon fatal sein, und es hatte für mich und nach meinem “feministischen Erwachen” (was ja auch teils nur bedeutet, endlich Begriffe und Erklärungen und Muster für immer schon vorhandene Verwirrtheit und Unwohlsein zu finden) die Folge, dass ich meinen Töchtern nicht ein Märchen von Prinzessinnen und klugen Bauerstöchtern usw. vorlas, ohne diese am Ende zu kommentieren und andere Wege aufzumachen als die der Ehe. Ich konnte also die Ambivalenz erst später erkennen und identifizieren, aber ich glaube nicht, dass ich als Kind schon diese Kompetenz hatte. Und ich musste sie mir mühsam erarbeiten, um dann all die ambivalenten Gefühle identifizieren zu können. Also frage ich mich schon: warum nicht gleich feministische Märchen und natürlich auch andere Literatur? Warum jetzt noch Trotzkopf, wo schon die Bezeichnung der Frau eine Beleidigung ist und schon der Titel also in sich trägt, wie die Frauenfigur gezähmt werden muss?
    Es gibt sie – “Frozen/Die Eiskönigin” ist eine aktuelles Beispiel dafür – und es gab sie auch davor, aber oftmals wurden sie patriarchal überformt. Denn wer weiß, was die Frauen, von denen die Grimms und andere Märchensammler die Geschichten haben, wirklich erzählt haben, und was dann aus ihnen gemacht wurde im Laufe der Verschriftlichung.

    Ich habe zum Beispiel auch die Trotzkopf-Bände noch verschlungen. Aber ich würde sie meinen Töchtern nicht mehr empfehlen. Sie liegen in einer Kiste auf dem Dachboden. Zur selben Zeit las ich auch alle Bände von “Anne auf Green Gables”. Diese stehen im Gegensatz dazu im Bücherregal meiner Tochter, und sie hat den ersten Band schon 3 mal gelesen. Es gibt nun mal Bücher, die Frauen viel viel viel mehr empowern, das Gehirn anregen und weiten, die ihnen GLEICH gutes Rüstzeug auf dem Lebensweg mitgeben, ohne sich noch auch in der Literatur durch unentdecktes und unidentifiziertes, verschlüsseltes, metaphorisiertes usw. patriarchales Land zu schlagen. Warum also ihnen nicht gleich feministische Lebenswege und Figuren in der Fiktion anbieten – die müssen doch deswegen nicht langweilig und eindimensional sein!, ganz im Gegenteil! Warum erst mit patriarchalem Müll belasten? Ich wäre gern unbelasteter, und ich hätte viele Bücher, die ich jetzt erst lese, die es aber schon viele Jahrzehnte gibt, schon gern als Jugendliche gelesen. Ich hätte dafür auch auf so manch anderes Buch verzichten können.

    Um es mal so zu sagen: patriarchale Erzählungen – auch wenn sie feministische oder sonstwie mich bewegende Momente enthalten! – und mein Nachdenken und meine Suche nach mir selbst in ihnen (was nicht oft zur Folge hatte, dass ich mich dafür verformen musste, um mich ein bisschen darin zu finden) hat mir alles in allem viel Zeit gestohlen. Patriarchale Literatur ist eine Zeitdiebin, würde ich sagen. Dasselbe gilt für Literatur, die Rassismus, Homophobie, usw. usf. in sich tragen. Wir können sie lesen, um unser “altes Ich” besser zu verstehen; unsere Mütter und Großmütter usw. Aber für ein gutes leben für alle braucht es feministische Literatur, und zwar von frühestem Kindesalter an.

  • Jutta Pivecka sagt:

    Danke für diesen schönen, klugen und differenzierenden Text. Wie anders als durch eine solche Perspektive ließe sich z.B. erklären, warum meine Lieblingsautorin bis zum heutigen Tag Jane Austen ist. Ich habe jeden ihrer Romane viele Male gelesen und finde immer wieder neue Aspekte darin. “Große Literatur” (-ich weiß nicht, ob ich Karl May dazu zählen würde) zeichnet sich wohl dadurch aus, dass in ihr menschliche (darunter weibliche), existentielle Fragen/Haltungen/Wahrnehmungen/Beziehugnen zeitlos (dar-)gestellt werden und gleichzeitig in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit verstanden werden können. Immer wieder neu. Hilary Mantel, die große Autorin, die in der vergangenen Woche starb, hat einmal geschrieben: “A novel should be a book of questions, not a book of answers.” — Deshalb lese ich Literatur. Ich suche in ihr keine Antworten, sondern immer neue Fragen.

  • Fidi Bogdahn sagt:

    Und wenn ich aus deinem Artikel, Andrea, nur diese Worte lesend bewege
    „…mein Verständnis des Religiösen konnte sich ausdehnen…“
    und ich dabei merke, wie leicht ich in dem Moment Luft bekomme
    -vor allem diese ganz schnöde Atemluft-,
    dann braucht´s mir zum Ende meines Lebens wirklich nicht Bange werden:
    „Ich ziehe das Ausdehnen ins Transzendente vor“, danke.
    Howgh!

  • Verena sagt:

    Pucki heißt Hedi, nicht Heidi. Und ihr Mann Claus tut alles, um die Protagonistin nicht erwachsen werden zu lassen. Ihren Wunsch, malen zu dürfen, erklärt er damit, dass “Hedi im Moment krank sei”.
    Ich konnte dieses Buch kaum zuende lesen, und habe die noch folgenden Bände gar nicht erst gekauft.

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