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Rubrik Blitzlicht

Denkfehler

Von Maria Coors

Im Herbst 2016 habe ich ein Kind geboren. Das war bis dahin eine der wenigen persönlichen Erfahrungen als gesetzlich Versicherte in einem deutschen Krankenhaus und die erste Erfahrung mit der gesundheitlichen Versorgung von Schwangeren, Gebärenden und in der Folge als Mutter eines ebenfalls gesetzlich versicherten Kindes. Bis dahin war ich irgendwas zwischen naiv und ignorant, denn diese Erfahrung war weder besonders ungewöhnlich noch besonders drastisch. Ich habe lediglich die Themen Pflegenotstand, Hebammensterben und die Care-Krise in einer für mich persönlich neuen Art und Weise am eigenen Leib erfahren.

Seither ist einiges passiert. Die Haftpflicht für Hebammenbeiträge sind noch weiter gestiegen, mehr Entbindungs- und Kinderheilstationen haben geschlossen. Viele Schwangere, auch Erstgebärende, und ihre Kinder sind weder vor noch während oder nach der Schwangerschaft medizinisch gut betreut. Gleichzeitig hat die Welt mit der Pandemie eine Gesundheitskrise erlebt, die an vielen Stellen die Schwachstellen der (Gesundheits-)Systeme offengelegt und neues Problembewusstsein geschaffen hat. Über Wochen haben dieses Jahr Beschäftigte im Gesundheitssektor gestreikt, nicht für mehr Lohn, sondern zu allererst für bessere Pflegebedingungen, im Grunde für das Wohl ihrer Patient*innen – also für fast alle. In diesem Sinne ist die Veränderung der – Achtung Unwort –  Pflegepersonaluntergrenzenverordnung eigentlich ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Damit wird zumindest anerkannt, dass man die Pflege von Menschen durch Menschen nicht nach rein kapitalistischer Logik bestimmen und immer weiter reduzieren kann. Aber, auf dem Weg dahin hat sich – so behaupte ich – ein allzu alter Denkfehler eingeschlichen: Mensch ist nicht gleich Mensch. Z.B. sind gebärende Menschen nicht einfach eine zu vernachlässigende Spezialform von Mensch, und Geburtsstationen nicht zu vernachlässigende Spezialbiotope des Krankenhaussystems. Geburtshelferinnen sind keine 5%-Pflegekräfte und das Sterbenlassen dieses Berufsstands nicht eine Kuriosität in der Geschichte der Arbeit, wie etwa der Beruf der Stenotypistin. Die genauen Zusammenhänge hat der deutsche Hebammenverband hier zusammengefasst.

Mit ein bisschen Pathos und Wut im Herzen, einem im Herbst 2022 zu gebärenden Kind im Bauch und den Bildern der iranischen Proteste im Kopf, erlaube ich mir folgende Blitzlichterinnerung: Wenn Frauen nicht selbstverständlich als Menschen gedacht werden, gefährdet das in oft sehr unterschiedlicher Weise, aber eigentlich immer existenziell, menschliches Leben und menschliche Zivilisation insgesamt.

Autorin: Maria Coors
Eingestellt am: 27.10.2022
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Danke für diesen erhellenden Beitrag und die Verlinkung zur Positionspapier der Hebammen. Diese Neuerungen müssen einfach bekannt werden. Als ob die Entwicklung der vergangenen Jahre innerhalb des Hebammenberufes nicht schon gereicht hätten! Nun auch noch die neuerlichen erheblichen Einschränkungen durch die PpUGV (allein dieses Wort-Ungetüm: Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung)! Das ist eine Gesundheitspolitik, die völlig in die falsche Richtung geht, ich bin empört, und ich hoffe auf einen Aufschrei gerade auch der jungen Frauen – aber nicht nur dieser!

    Rosemarie Kaiser, 70 Jahre, Heilpraktikerin mit Schwerpunkt Frauengesundheit (u.a. auch mit dem Thema unerfüllter Kinderwunsch)

  • Danke für diesen erhellenden Beitrag und die Verlinkung zur Positionspapier der Hebammen. Diese Neuerungen müssen einfach bekannt werden. Als ob die Entwicklung der vergangenen Jahre innerhalb des Hebammenberufes nicht schon gereicht hätten! Nun auch noch die neuerlichen erheblichen Einschränkungen durch die PpUGV (allein dieses Wort-Ungetüm: Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung)! Das Risiko von traumatisierenden Geburtserlebnissen, Gewalt unter der Geburt zu erleben, wird durch diese politischen Entscheidungen noch verschärft. Das ist eine Gesundheitspolitik, die völlig in die falsche Richtung geht, ich bin empört, und ich hoffe auf einen Aufschrei gerade auch der jungen Frauen – aber nicht nur dieser!

    Rosemarie Kaiser, 70 Jahre, Heilpraktikerin mit Schwerpunkt Frauengesundheit (u.a. auch mit den Themen unerfüllter Kinderwunsch und Traumatisierung in medizinischen Kontexten)

  • Elfriede Harth sagt:

    Liebe Maria, wir haben es hier mit einer der Facetten der reproduktiven Gerechtigkeit zu tun. Da – trotz allen “Fortschritts” immer noch Frauen, oder zumindest die Personen, die heute “Menschen mit Uterus” bezeichnet werden, schwanger werden (koennen) und Kinder gebaeren, ist ihr (mit einem Uterus ausgestatteter) Koerper das Territorium, in dem die zukuenftigen generationen “produziert” werden. (Noch sind wir nicht in der “Schoenen neuen Welt” von Aldous Huxley angekommen, wo Sexualitaet und Reproduktion total getrennt sind – und daher auch Geslchechtlichkeit – und Schwangerschaft extrauterin in Flaschen stattfindet, obwohl wir uns dorthin bewegen.) “Mutterschaft” hoert nicht auf mit der Entbindung. Aber die Bedingungen der Mutterschaft – in aller erster Linie eine Sache von Beziehungen und der sozialen Moeglichkeit, diese Beziehungen zu gestalten sind ganz unterschiedlich. Eben, Thema der Gerechtigkeit. Unser Gesundheitssystem ist leider dabei immer mehr von einem Bereich der Heilkunst zu einem Geschaeftsmodell mit Profiorientierung zu werden.

  • Anne Lehnert sagt:

    Danke für diesen Beitrag und den Link zum Positionspapier!
    Es ist ein Jammer, dass die Geburtshilfe durch Hebammen, wie sie sein könnte und sollte, durch eine solche Politik nicht mehr möglich ist. Mein erstes und mein viertes Kind kamen im Geburtshaus zur Welt – jeweils als eines der letzten, bevor das Geburtshaus geschlossen wurde. Die beiden mittleren kamen, da Zwillinge, im Krankenhaus mit einer Beleghebamme zur Welt. Auch sie macht keine Geburten mehr. Ich finde es skandalös, dass eine gute Betreuung der Gebärenden und eine selbstbestimmte Geburt durch das Gesundheitssystem verhindert werden.
    Das Gesundheitssystem insgesamt leidet unter den Fallpauschalen und der Profitorientierung der Kliniken. Meine Hoffnung, dass sich daran durch die Pandemie und die Aufmerksamkeit für diesen wichtigen Bereich grundsätzlich etwas ändert, war naiv. Nur bin ich etwas ratlos, was ich tun könnte.
    Das Positionspapier verbreiten und darüber sprechen ist mal mein erster Schritt.

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