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Respectful Care

Von Cornelia Roth

Ich möchte dem Motto „Wirtschaft ist Care“ den Respekt hinzufügen. Und dabei das Wort „Wirtschaft“ durch das Wort „Wirtschaften“ ersetzen.

Hausvater und Hausmutter

Immer noch ist mir die Soul-Sängerin Aretha Franklin Ende der 70iger Jahre in den Ohren. Ich war damals 15, Hippiekultur und Studentenbewegung schwappten auf die Schulen über. Sie sang mit feurig-gefühlvoller Stimme: „Respect!“ mit allem Zorn und Entschlossenheit darin. Es wurde das Lied der schwarzen feministischen Bewegung in den USA.

Einige Jahre später entstand in Deutschland die Behindertenbewegung. Protestaktionen gegen Ausschluss vom öffentlichen Leben fanden statt, initiiert von Ernst Klee und Gusti Steiner. „Selbstbestimmung“ stand auf den Plakaten. Mir wurde dieses Thema erstmals bewusst, als ich Ende der 70iger Jahre in einer Einrichtung für geistig behinderte und psychisch kranke Erwachsene eine Stelle anfing. Es war eine kirchliche Einrichtung im Schwäbischen, gegründet von frommen evangelischen Diakonen, die ihr Leben über Generationen dieser Sorge-Arbeit widmeten. Es gab einen „Hausvater“ und eine „Hausmutter“. Zum Essen kamen alle zusammen in den großen Speisesaal, der Hausvater betete. Es wurde gearbeitet in der Küche, in der Wäscherei, in der Nähstube und auf dem Feld unter der Vorgabe von „Vater“ und „Mutter“, die immer da waren. Alle behinderten Menschen wurden mit Vornamen genannt, man kannte sich seit vielen Jahren, und wer frech war, bekam auch mal eine Watschn.
Wir jungen Mitarbeiterinnen waren entsetzt. Wir verlangten mehr Entscheidungsfreiheit für die Bewohner:innen des Heims, Privatheit, Förderpläne und respektvollen Umgang. Es gab Beschwerden und Proteste, die Dinge nahmen ihren Lauf. Ein pädagogischer Leiter wurde eingestellt, die „Hauseltern“ mussten gehen. Die Atmosphäre wurde lockerer und freier, auch die Qualität der pädagogischen Betreuung wurde besser. Allerdings gab es niemanden mehr, die oder der immer da war. Um diese Zeit gab es eine intensive Diskussion um Konzepte der Selbstbestimmung und des Respekts in der Care-Arbeit überhaupt.

Care-Revolution

40 Jahre sind seitdem vergangen. Seit 2012 hat sich eine starke Care-Bewegung aufgebaut.  „Care-Revolution“, „Care.Macht.Mehr“ und andere wurden gegründet. Es geht um die gesellschaftliche Anerkennung des Werts dieser Arbeit, um ihre Bezahlung, ihre Arbeitsbedingungen und die Bedingungen für die Menschen, die darauf angewiesen sind. Quelle der Bewegung, die immer mehr an Fahrt aufgenommen hat, sind die sich zuspitzende Care-Krise und die feministische Bewegung. Um es kurz zu fassen: die neoliberale Privatisierungswelle staatlicher Wohlfahrt in den 80igern hat die staatliche Care-Arbeit unter Profitdruck gebracht. Und Frauen* wollen mit ihren Tätigkeiten weniger denn je die nicht oder schlecht bezahlte „Schattenarmee“ des Patriarchats sein.

“Orsche sei ganz vorn im Zweiradbereich, hören wir aus dem bekannten Traditionshaus. Der Automobilbereich sei von gestern. Die Kunden wollten heute innovative Vorreiter sein. Nur zu gern seien sie bereit, Testmodelle für die Massenproduktion vorab zu erstehen. ‚Rolex Out – respectful Care In‘ sei die neue Devise. In der Testphase sei momentan ein Klapprad aus Bambus aus dem Anbau einer Kooperative im Po-Delta. ‚Leicht wie eine Feder – bergauf fast wie ein E-Bike‘ wird geschwärmt. Die Massenproduktion zu erschwinglichen Preisen sei schon in Vorbereitung.“ (aus der Verschrobenhausener Zeitung vom 21.09.2032)

„Care-Arbeit ist als Teil der Wirtschaft anzuerkennen!“ ist eine der Kernaussagen dieses Kampfes. Gegen die Ignoranz und Verweigerung der traditionellen Ökonomielehre haben Mascha  Madörin und andere Ökonominnen in den letzten Jahren in den deutschsprachigen Ländern den Anteil der häuslichen und ehrenamtlichen Care-Arbeit im Bruttosozialprodukt berechnet: er beträgt über 50 Prozent! In der Schweiz wurde diese Care-Arbeit endlich in die offizielle Berechnung des BIP aufgenommen.

Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, in der ich mit meinen drei kleinen Kindern nur wenig beruflich tätig war. Party: „Und was arbeitest Du?“ „Ich bin zu Hause bei meinen drei Kindern“. „Echt? Du arbeitest NICHTS?“ Mitleidvoller Blick

Rolle vorwärts: Wirtschaft ist Care

Die Autorin Ina Praetorius hat sich mit den geschichtlichen und gesellschaftlichen Hintergründen dieser Abwertung der Care-Arbeit wie auch der Frauen beschäftigt. Die „private“ Care-Arbeit kommt in den Lehrbüchern der Ökonomie in der Regel nicht vor. Meistens lautet aber der erste Satz auf Seite 1 in diesen Büchern so oder ähnlich: „…Wirtschaften ist eine gesellschaftliche Veranstaltung zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse der Lebenserhaltung und der Lebensqualität.“ (zit. aus Ina Praetorius 2015).

Ach ja? Wirklich? Dann ist nicht nur Care-Arbeit Teil der Wirtschaft, sondern Wirtschaft ist Care-Arbeit, schlussfolgert Ina scheinnaiv. Denn die Befriedigung der grundlegenden menschlichen Bedürfnisse ist das Kerngeschäft der Care-Arbeit, wie jeder und jede weiß. „Wirtschaft ist Care!“ ist die neue Devise! Es ist natürlich ein provokativer Satz und soll der profitorientierten kapitalistischen Wirtschaft neue Maßstäbe anlegen. Aber es spiegelt auch wider, wie viele Arbeitstätigkeiten schon heute im Kern Care-Tätigkeiten wie auch Teil der Wirtschaft SIND. Und das ist nicht nur der häusliche oder institutionelle Care-Bereich. Dazu gehören die Wasserversorgung, die Feuerwehr, die Versorgung der Haushalte mit Heizung, die für den örtlichen Markt produzierten Lebensmittel, um nur einige Beispiele zu nennen.

Engagierte Feministinnen sagen manchmal, dass die Reproduktionsarbeit der Frauen das Fundament ist, auf dem die ganze Wirtschaft ruht. Auch wenn es berechtigt ist, die Dinge endlich zurechtzurücken: ich glaube, so stimmt es nicht. Die natürlichen Akteure (“Ressourcen” wie Wasser, Luft, Boden, Tiere, Pflanzen) sorgen ebenso für dieses Fundament wie auch die oben gerade genannten Tätigkeiten. Die Frage ist, WIE das bereitgestellt wird. Nach Care-Gesichtspunkten?

Die Wirtschaft

Fotos: Cornelia Roth

Wenn ich an „Die Wirtschaft“ denke, habe ich meistens Schornsteine vor Augen, eine Ölraffinerie, eine DAX-Kurve, ein Bankhochhaus. In den Nachrichten „fordern Vertreter der Wirtschaft“, „die Wall Street ist nervös“, „die Öl-Lobby protestiert“… In meiner Phantasie erscheinen mächtige alte und drahtige junge Männer, superschlanke Frauen, Zynismus, Luxus, Business-Class. Wie ein frei schwebendes Konstrukt, ein kapitalistischer Elefant mit viel Hunger.
Deswegen nenne ich es lieber „Das Wirtschaften“. Es ist näher dran an der Arbeit, die Menschen wirklich leisten und an der gesellschaftlichen Notwendigkeit von Tätigkeiten, auch wenn ich die wirtschaftlichen Machtverhältnisse nicht ausblenden kann.

Rote Fäden

“Wirtschaft ist Care” – die Care-Arbeit als roter Faden für das Wirtschaften?
Darunter kann ich mir vorstellen: Fürsorglichkeit. Verlässlichkeit. Sicherheit. Die körperlichen, geistigen und seelischen Bedürfnisse des Anderen erkennen und darauf eingehen. Vor Gefahren warnen. Nicht mehr nehmen, als man gibt. Fehler korrigieren. In Beziehung sein. Menschlich sein.

Für „Die Wirtschaft“ könnte das z.B. bedeuten: die „Fürsorgepflicht des Arbeitgebers“ wird ernstgenommen. Die Löhne werden entsprechend der Inflation erhöht, Betriebswohnungen und betriebliche Gesundheitsversorgung sind Standard. Es gibt soziale und ökologische Standards für die Produktion. Beim Produktdesign werden Reparaturen sowie die sozialen und die ökologischen Folgen mitgedacht bzw. simuliert. Die Firmen fragen bei ihrer Marktforschung, was die Menschen benötigen. Sie haben einen guten Kundendienst und sorgen für Reparaturen, die erheblich günstiger ausfallen als Neuerwerb. 

Klingt gut – oder doch nicht so sehr? Dazu fällt mir ein Erlebnis Ende der 80iger Jahre ein.
Als wir unsere Kinder bekamen, wollten mein Mann und ich uns die Sorge für Kinder und  Beruf teilen. Er arbeitete in einer sozialen Institution und wollte auf eine halbe Stelle wechseln. Es gab die größten Bedenken und drohte zu scheitern, und zwar wegen der Fürsorgepflicht. Eine halbe Stelle bedeute ein halbes Einkommen und damit könne er seine Familie nicht ernähren… Patriarchalische Vorstellungen lassen grüßen! Letztlich konnten wir nach etlichen Gesprächen unser Ziel erreichen und hatten mit unserem Modell eine richtig gute Zeit.

Respekt

Fürsorglichkeit umfasst nicht von vornherein Respekt, öfters sogar das Gegenteil. Das war ein wichtiges Ergebnis der Debatten und Kämpfe der 70iger Jahre im sozialen Bereich. Selbstbestimmung ist ein wichtiges Stichwort, das aber auch nicht alles umfasst. Respekt hat viel damit zu tun, dass das Anderssein der Anderen akzeptiert wird. Das Anderssein eines anderen Menschen, das Anderssein von nichtmenschlichen Lebewesen. Respekt bedeutet, dass meine Vorstellungen nicht einfach gelten. Und dass ich wissen will, was der oder die Andere selber äußert. Respekt ist besonders da nötig, wo Diskriminierung vorhanden ist, und diese muss von vornherein mitgedacht werden. Was könnte das für das Wirtschaften bedeuten?

Respekt vor Mädchen, das heißt z.B., sie nicht mit rosa Spielzeugküchen in die übliche Rollenverteilung zu drängen. Respekt vor farbigen Menschen, d.h. z.B., sie auf Abbildungen ohne Klischees präsent sein zu lassen. Respekt vor Menschen mit traditionell geringem Einkommen, deren Arbeit höher bezahlt und besser gestaltet werden muss. Respekt vor Menschen mit Behinderung bei der Planung von Produkten. Respekt vor dem jeweiligen lebendigen Ökosystem, dem etwas entnommen werden soll, einschließlich der dort lebenden Menschen. Respekt vor dem oder der Schwächeren, indem allgemeingültige Maßstäbe in Frage gestellt werden. Gute Ideen dazu finden sich in einer „Vision für 2048“ des „Konzeptwerks Neue Ökonomie“.

Respekt bedeutet auch, Geschichte im Bewusstsein zu haben. Der Reichtum der Industrieländer beruht auf der jahrhundertelangen Ausbeutung kolonisierter Menschen. 
Die Umweltkrise beruht ebenfalls auf jahrhundertelangem Raubbau. In beiden Fällen geht es nicht nur um einen Ausgleich zwischen Nehmen und Geben, sondern um einen zusätzlichen Ausgleich. Einen Schuldenerlass. Zusätzliche aufmerksame Renaturierung. 
Die wirtschaftliche und politische Dominanz der ehemaligen BRD hat bei der Wiedervereinigung Deutschlands soziale und kulturelle Errungenschaften in der damaligen DDR verschwinden lassen. Auch das ist mit zu bedenken.

Care und Respekt gehören beim Wirtschaft(en) zusammen. Respectful Care.

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Autorin: Cornelia Roth
Redakteurin: Dorothee Markert
Eingestellt am: 01.10.2022
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Esther Gisler Fischer sagt:

    Liebe Claudia Roth

    Danke herzlich für diesen ‘Tour d’Horizon’ über fürsorgliches Wirtschaften, die Wirtschat der Sorge od. einfach Care-Arbeit als eigentliche Wirtschaft.
    Leider stimmt die Aussage nicht, dass diese in der Schweiz im BIP mitgerechnet wird. Dies entgegen der Produktion von Waffen, wird sie vom Bundesamt für Statistik zahlenmässig erhoben und dreht sich als sog. ‘Satellitenkonto’ um das BIP.

    Freundlich grüsst
    Esther Gisler Fischer.

  • Cornelia Roth sagt:

    Liebe Esther Gisler Fischer,
    vielen Dank für die Berichtigung! Der Fortschritt ist also nur, dass die gesamte Care-Arbeit in der Schweiz vom Bundesamt für Statistik erhoben wird. Wenig, aber immerhin das würde erkämpft.
    Einen herzlichen Gruß von
    Cornelia Roth

  • Cornelia Roth sagt:

    Als Nachtrag zu Wirtschaft als Respectful Care hier die Forderungen von Franziska Schutzbach:
    “Auf der ökonomischen Ebene wäre meine Forderung: Teilzeit für alle, damit genug Zeit für Care-Arbeit ist. Wir brauchen Lohnerhöhungen, damit genug verdient werden kann, um auch Zeit und Energie für Sorgearbeit zu haben. Alle Menschen brauchen genug Zeit und Ressourcen, um Fürsorge für andere leisten zu können, aber es braucht auch Zeit für Selbstfürsorge und für politische Arbeit – all das sind wirtschaftsrelevante Tätigkeiten. Wenn wir Demokratie ernst nehmen, brauchen Menschen auch Zeit, um sich zu engagieren. Wir brauchen also eine andere Definition von Arbeit und neue Zeitmodelle, in denen wir Care-Arbeit endlich ins Zentrum stellen.” (Interview in qiio.de vom 22.09.22)

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