beziehungsweise – weiterdenken

Forum für Philosophie und Politik

Rubrik heilen

Corona. Care. Gott.

Von Anne Claire Mulder

Dieser Text basiert auf einem Vortrag, den Anne Claire Mulder auf einem Studientag “Raus aus dem Griff des Virus” am 5. März 2021 gehalten hat. Inspiriert ist er von den Arbeiten der ABC-Autorinnen sowie Maaike de Haardt, Carter Heyward, Luce Irigaray, Catherine Keller, Emmanuel Lartey, Trees van Montfoort und Ina Praetorius. Ins Deutsche übersetzt haben ihn Anne Claire Mulder und Ina Praetorius.

Die Wogen der Coronakrise glätten sich allmählich. Wir hören und lesen immer noch von Infektionen, aber wir sehen keine Bilder mehr von müden Ärzt*innen oder Pflegenden. Es kostet auch immer mehr Mühe, sich daran zu erinnern, was eine zu Beginn der Krise gefühlt oder getan hat. Dennoch erinnere ich mich sehr gut an ein Ereignis aus dem Jahr 2020. Damals stand ich am Fenster und applaudierte für die Pflege. Ich klatschte Beifall für alle Pflegekräfte, die sich in diesem Moment mit aller Kraft für Corona-Patient*innen einsetzten. Aber als ich so dastand, fragte ich mich: Warum mache ich das eigentlich?

Ja, warum? Ich vermute, ich habe vor allem applaudiert, um zu unterstreichen, wie wichtig Care und Fürsorge sind. Immerhin war diese Bedeutung durch Covid-19 sehr deutlich geworden. Die Vlogs der Sendung ‚Frontberichte‘ – so hieß ein Programm im niederländischen Fernsehen, in dem Ärzt*innen und Pflegende über ihre Erlebnisse berichteten – haben dieses Bild noch verstärkt. Sie zeigten das Engagement der Pflegekräfte für all die gefährlich kranken Menschen. Sie machten auch die Komplexität von Care und Sorge sichtbar.

Und doch habe ich mich auch gefragt: Warum wird jetzt plötzlich für den Care-Sektor geklatscht? Wussten wir nicht schon immer, dass Care wichtig ist? Die Feministin in mir murrte, dass der Beifall für CARE – in Großbuchstaben – vor allem ein Beifall für die Pflegeberufe war, während Care doch so viel mehr umfasst als nur Krankenpflege. Schließlich ist die (menschliche) Existenz ohne Care/Fürsorge gar nicht möglich: Care für sich selbst, für andere, für die Welt. Diese umfassende Bedeutung von Care blieb meines Erachtens beim Applaudieren für das Pflegepersonal ausgeblendet.

Ein unentwirrbares Netz von Beziehungen

Niemand ist ein selfmade man oder eine selfmade woman. Im Gegenteil: alles und jede*r ist in einem unentwirrbaren Netz von Abhängigkeits- und Betreuungsbeziehungen verbunden: mit Sauerstoff zum Atmen, mit Wasser gegen den Durst, mit Feuer, das wärmt, mit der Erde, die mit Nährstoffen versorgt, mit der Sorge anderer Menschen für die Bedürfnisse und mit engagiertem Handeln, damit dieses Beziehungsnetz erhalten bleibt und sich erneuert.

Diese Vorstellung von gegenseitiger Abhängigkeit und Verbundenheit klingt einerseits vertraut. Sie ist die Grundvoraussetzung der Ökologie. Sie taucht immer wieder in Berichten über biologische Vielfalt und Klima auf. Andererseits ist sie ein neuer Gedanke im westlichen Denken. Denn wenn eine genau hinsieht, stellt sie fest, dass man gewöhnlich vom Menschen als einem selfmade man ausgeht. Unser Menschenbild stellt das Individuum ins Zentrum, das autonom, selbstverantwortlich, „Krone der Schöpfung“ ist, also jemanden, der selbständig an der Gesellschaft teilhaben kann, jemanden, der in seinen oder ihren Lebensbedürfnissen nicht von anderen abhängig ist.

Mit dem Anfang beginnen

Die Vorstellung, dass alles und alle in einem Netz von Abhängigkeits- und Betreuungsbeziehungen verbunden sind, scheint also neu zu sein. Allerdings haben mehrere – meist weibliche – Denker*innen diese Idee in den letzten 50 Jahren artikuliert, darunter auch Theolog*innen. Sie beginnen oft am Anfang: nicht mit einer Schöpfung aus dem Nichts, sondern mit dem physischen, materiellen Werden. An sie anknüpfend beginne auch ich am Anfang, und zwar in der pränatalen Phase der Menschwerdung:

Jede*r von uns war am Anfang neun Monate lang in einer sehr intimen Beziehung mit einer anderen Person, die dem wachsenden Wesen – manchmal mit Widerwillen – einen Platz, einen Raum in ihrem Körper geboten hat. So sorgte sie dafür, dass das Kind alles bekam, was es brauchte, um zu werden.

Es ist wichtig, daran zu denken, dass es sich dabei um zwei Wesen handelt. Schließlich sind die schwangere Frau und der Fötus durch die Plazenta getrennt (und verbunden!). Sie sind also nicht symbiotisch verschmolzen, auch wenn es von außen so aussehen mag. Denn die Plazenta, in der Nähr- und Abfallstoffe zwischen den beiden ausgetauscht werden, trennt und verbindet beide.

Wenn wir von diesem Anfang ausgehen, wird deutlich, dass unser Sein von Anfang an ein In-Beziehung-Sein ist. Nach der Geburt wird dann noch einmal deutlich, wie wichtig dieses In-Beziehung-Sein für das Leben und Überleben der Neugeborenen ist. Denn wenn niemand das Neugeborene nährt, wärmt, anzieht und wickelt, stirbt es. Oder anders gesagt: Durch Care, Aufmerksamkeit und die Sorge um das neugeborene Wesen wird einmal mehr deutlich, dass die menschliche Existenz immer in Beziehung steht.

Hauthunger

Die Fürsorge für die Neugeborenen geht jedoch über die Sorge für Essen und Trinken hinaus. Es geht auch darum, dem Gefühlsleben des Menschenkindes Aufmerksamkeit zu schenken: um Berühren und Berührtwerden. Die Bedeutung der Berührung wird durch das COVID-Wort “Hauthunger” anschaulich ausgedrückt. „Hauthunger“ ist ein psychologischer Begriff, der auch als „Berührungshunger“ bezeichnet werden kann. Im Internet sind viele Texten über Hauthunger zu finden. Dieses Wort macht deutlich, dass der Mangel an Berührung dem Hunger nach Nahrung gleicht. Berührung kann durchaus als eine Lebensnotwendigkeit angesehen werden.

Auch die Geschichten der Pflegenden in den ‚Front-Berichten‘ unterstreichen dies. Sie zeigten, wie sehr das Verbot, Kranke oder Sterbende zu berühren, die Pflegenden – als Menschen und als Fachleute – berührte. Auch dies unterstreicht, wie grundlegend Beziehungen für die menschliche Existenz sind.

Erneuerte Tradition

Schließlich bietet das Beziehungsnetz auch Orientierung im Werden. Neugeborene werden nicht nur in ein Netz von Menschen hineingeboren, die sich um sie kümmern. Sie wachsen auch in einem beweglichen Netz von Wörtern, Gewohnheiten, Beziehungen, Bildern, Traditionen und Erzähltraditionen auf. Wenn sie sprechen, lernen sie, sich zu diesen Traditionen in Beziehung zu setzen: indem sie sie fortsetzen, entstellen, ablehnen oder erneuern.

Die These, dass alle Lebewesen in einem Netz von Beziehungen miteinander verbunden sind, ist eine solche Neuerung in den Erzähltraditionen des Westens. Sie bietet eine andere Sichtweise auf das, was in der Welt um uns herum geschieht: Aufmerksamkeit für Zusammenhänge, Unterschiede, Bewegung, für das Werden…

Gottesbild im Wandel

Dieses Anfangen mit dem Anfang gibt auch der Frage, wie Menschen leben sollen, eine andere Richtung: mehr auf das Hier und Jetzt, auf den Anfang, auf das, was sich zwischen allem und allen abspielt. Sie setzt auch das Gott-Denken in Bewegung. Gottesbilder werden jetzt häufiger als vorläufig und im Wandel begriffen angesehen, was eine Vielzahl von Bildern hervorgebracht hat und weiter hervorbringt:

Vor vierzig Jahren bezeichnete die Theologin Carter Heyward in ihrem Buch „Und sie rührte sein Kleid an“ Gott als “Macht in Beziehung”. Dieses Bild ist mir immer im Gedächtnis geblieben, weil sie damit Gott mit Nachdruck in unsere Mitte und nicht über uns stellt. Sie stellt diese Macht in Beziehung als schöpferische Macht dar, als die Macht, die in menschlichen Beziehungen, die auf Gerechtigkeit und Wohlbefinden ausgerichtet sind, “Fleisch” wird.

Die Theologin Catherine Keller geht noch einen Schritt weiter und spricht davon, dass Gott in alles Lebendige, ja in den Kosmos eingefaltet ist. Sie entwickelt diesen Gedanken im ersten Teil ihres 2015 erschienenen Buches “Cloud of the Impossible: Negative Theology and Planetary Entanglement”. Nicht der Mensch steht demnach im Mittelpunkt, auch nicht die Beziehung zwischen Gott und Mensch, sondern die Beziehung zur gesamten materiellen Existenz. Keller verwendet eine rätselhafte Sprache, wie zum Beispiel dieses “Eingefaltet-Sein”, um darauf hinzuweisen, dass sie nicht mit Gewissheit von Gott sprechen kann. Das göttliche Geheimnis lässt sich nicht festlegen und zeigt sich dennoch in diese Welt der Beziehungen verwoben.

Gott ist Care…

Diese Art und Weise, von Gott zu sprechen, hat mich zu der Überzeugung gebracht, dass diese Macht oder das göttliche Geheimnis in Care, als Care und in der Fürsorge erfahren werden kann. Sie ist eine Form des Handelns und Urteilens mit Aufmerksamkeit für die anderen, für die Situation, für die Welt um uns herum. Es ist ein Handeln, das darauf reagiert, was sich in einer Situation zeigt, das in unentschiedenen Situationen geduldig ist und versucht, durchzuhalten. Außerdem ist es eine Handlung, die in der Erkenntnis wurzelt, dass alle die Fürsorge von Anderen brauchen, weil sie abhängig und begrenzt sind. Dies macht deutlich, dass sich das Handeln mit Care nicht auf den Pflegesektor oder die Pflegeberufe oder auf das, was wir gewöhnlich als “Pflege” bezeichnen, beschränkt. Bei Care geht es um alles menschliche Handeln in der Welt, das darauf abzielt, das Beziehungsnetz, in das alles und alle eingebettet sind, zu erhalten und zu erneuern.

Care ist auch die Art und Weise, wie Gott nach der biblischen Tradition in dieser relationalen Existenz gegenwärtig ist. Diese Tradition ist voll von Geschichten über eine*n Gott, die sich um die Menschen kümmert, der darauf achtet, was geschieht, und darauf reagiert, die Weideplätze zur Verfügung stellt (Ps. 23: 2), der als Feuer in der Nacht und als Wolke am Tag gegenwärtig ist (Ex.13: 21), die im und als das Wehen des Windes – als ein sanftes Streicheln – erfahren wird (1 Kön.19:12). Es ist ein Da-Sein, das alle Lebewesen einschließt, nicht nur Menschen.

Gott ist Care, das ist auch eine Variante zu Gott ist Liebe (1 Joh. 4). Es drückt aus, dass Für/sorge so wichtig, so zentral ist, dass sie mit dem Höchsten, mit Gott und dem Göttlichen verbunden sein muss – oder mit anderen Worten: Gott ist Fürsorge/Care und Care ist von Gott. Gott ist Care. Diese Worte geben dem Handeln eine Richtung, und diese Richtung ist notwendiger denn je.

Amor Mundi

Die Krisen, mit denen wir heute konfrontiert sind, erfordern ein care-ful, ein sorgsames und umsichtiges Handeln und Urteilen. Ich würde diese Art des Handelns als eine Interpretation der Nächstenliebe bezeichnen, vor allem wenn die Vorstellung davon, wer der oder die “Nächste” ist, über die Mitmenschen hinausgeht. Es ist amor mundi: die Liebe zur Welt, zu allen Lebewesen, eine Liebe zum anderen und zu den anderen, die zugleich Ausdruck der Liebe zu Gott ist.

Gott ist Care bezieht sich, kurz gesagt, auf eine Handlungsweise, durch die Gottes Verheißung Ich werde da sein, Ich werde bei dir sein in menschlicher Care und Fürsorge erfahren und geglaubt werden kann, das heißt in der Fürsorge, in Care für das komplexe und komplizierte Gewebe, durch das alles und alle miteinander verbunden sind.

Autorin: Anne Claire Mulder
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 08.11.2022
Tags: ,

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Claudia von der Tauber sagt:

    Ich werde ungeduldig . Wieso konstruiert ihr jetzt in den
    Begriff “Gott ” Care?
    Ist die Erde nicht schon seit Anfang der Zeit unsere Mutter mit den kosmischen Energien. Und gibt SIE uns nicht alles was wir brauchen? Wir müssen uns nur wieder erinnern und Liebe und Verbindung mit ihr aufnehmen . SIE Ist immer bei uns und schöpferisch, kreativ tätig in uns. Hier sind wir aufgehoben. Wieso sehen wir das nicht.?
    Grüße von der Tauber

  • Ulrike Loos sagt:

    Grade habe ich einen sehr zustimmenden Kommentar geschrieben, aber er ist mir wohl davon gerutscht… ob ihn eine wiederfinden kann???ul

  • Ulrich Wilke sagt:

    “Es rettet uns kein höh`res Wesen:
    kein Gott, kein Kaiser, kein Tribun.
    Uns aus dem Elend zu erlösen ,
    da können nur wir selber tun.”

  • Antje Schrupp sagt:

    Liebe Ulrike – leider nicht, ich habe im System geschaut, aber deinen Kommentar nicht gefunden!

  • Antje Schrupp sagt:

    @Claudia – ich finde deinen Kommentar, ehrlich gesagt, etwas “glaubenskriegerisch”. Nur weil du mit dem Begriff “Gott” nichts anfangen kannst, soll sich auch niemand anderes damit beschäftigen? Anne Claire, die Autorin dieses Textes, ist Theologin. Natürlich schreibt sie über Gott. Ich persönlich finde die Vergöttlichung des Mutter-Begriffs problematisch und deine Mail ziemlich esoterisch, aber es wäre doch interessant, über solch unterschiedlichen Zugänge miteinander ins Gespräch zu kommen. Wenn man aber den eigenen Denkhorizont absolut setzt, geht das natürlich nicht.

  • Caroline sagt:

    Liebe Anne-Claire, danke für den Artikel, den ich mit Interesse gelesen habe. Dabei habe ich an meine Idee, dass Care ein Kriterium sein könnte für alles, was wir tun…Wenn du Gott als Care siehst, meinst du damit, dass Care überall ist oder srin sollte? Care nicht im engeren Sinn, sondern in einer breiten Bedeutung? Mir steht “Gott” in meinem Denken nicht zur Verfügung, ich habe aber den Eindruck, care als Kriterium zu sehen, ist ähnlich. Auch innerweltlich ist ja nicht alles verfügbar… danke für die Anregungen! Hauthunger kannte ich nicht als Wort, gefällt mir auch.

  • Anne Newball Duke sagt:

    @Antje: ich verstehe nicht: warum ist Claudias Annäherung an die vielfältigen Bindungen an die Welt esoterisch (und warum ist diese Form – wenn du sie schon esoterisch nennen willst – negativ konnotiert?), und die über Gott ganz unproblematisch? Ist Gott nicht auch eine (westlich geprägte) kulturelle Imagination, die uns Europatriarch*innen eine Menge Ursprungsgeschichten geliefert hat mit für Frauen oft unverdaulichen Inhalten, die bis heute in unseren Körperinnen auf weiterhin ungute Art wirken?
    Mir ist der Zugang über Gott leider auch total verschlossen. Die Inhalte dessen, was wir uns wünschen oder anstreben, sind dabei ja gleich. Ich weiß nicht… ich habe immer das Gefühl des Ausgeschlossenseins, wenn der Weg über Gott gegangen wird. Als müsste ich mir noch eine Menge Bibel usw. anlesen, um hier mitreden zu können. Am Wochenende habe ich es mal wieder versucht, aber ich komme schon über “der HERR” und “Der Mensch im Garten Eden” nicht hinaus. “Zu der Frau sprach er: Ich werde sehr vermehren die Mühsal deiner Schwangerschaft, mit Schmerzen sollst du Kinder gebären! Nach deinem Mann wird dein Verlangen sein, er aber wird über dich herrschen!” Ich weiß, die Theolog*innen werden jetzt tief seufzen und nicht wissen, wo sie anfangen sollen, mir irgendetwas zu verdeutlichen. Aber das ist die Hürde, da ist das Unverständnis, hier beginne ich zu stottern und mich klein zu fühlen.
    Was ich aber verstehe: was für mich ein anstrengender Umweg wäre, den ich nicht bereit bin zu gehen, ist für andere ein Zugang zum Verstehen, eine Erleichterung des Verstehens, weil Gott schon tief in der Körperin und im Denken verankert ist.
    Mir ist der Zugang über “Mutter Erde” auch nicht sonderlich eingängig. Das liegt aber auch daran, dass ich mich zu den Verbindungen zu belebter und unbelebter Welt bisher wenig in Beziehung gesetzt habe. Ich finde das geradezu erschreckend. Ich erarbeite es mir jetzt mit viel Energie und großer Lust über verschiedenste feministische Philosoph*innen, von denen viele ihr Wirken und Denken in den Naturwissenschaften begonnen haben, dann u.a. über die Wissenschaftskritik gegangen sind, und dann auch begonnen haben, über die Verbindungen auf der in der von der Welt zu philosophieren. Das ist einer meiner Zugänge. Aber ehrlich gesagt bin ich mittlerweile auch gar nicht mehr abgeneigt, auch andere Wege auszuprobieren, wozu einige Praktiken zählen, die bisher immer mit dem schwabbeligen Begriff “esoterisch” kleingemacht wurden. Hier braucht es einfach auch viel mehr Weiten des Denkblickwinkels und Ausdehnung der Forschung (gerade der westlich geprägten) in noch unbekannte Denk-Galaxien. ;).

  • Anne Newball Duke sagt:

    Mir lässt das immer noch keine Ruhe. Was bedeutet “Vergöttlichung des Mutter-Begriffes”?
    Ailton Krenak (ein “indigener Vordenker”, steht auf dem Buchcover) schreibt: “Alle alten Geschichten nennen die Erde Mutter, Pacha Mama, Gaia. Eine vollkommene, unsterbliche Göttin, ein Quelle der Gnade, der Schönheit und des Überflusses. Man denke an das griechische Bild von der Göttin des Wohlstands mit ihrem Füllhorn, aus dem sich ununterbrochen Reichtum über die Welt ergießt… In den anderen Traditionen, in China und Indien, in Nord- und Südamerika, in den ältesten Kulturen ist der Bezug eine mütterliche Versorgerin. Keine Spur von einer männlichen oder Vaterfigur. Wenn das Bild eines Vaters dort einbricht, dann immer zum Plündern, Zerschlagen oder Herrschen.” (In: “Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen”, S.46)
    Jedes Mal, wenn ich gerade versuche, mir die “Vergöttlichung des Mutter-Begriffes” schreibend aufzudröseln, klingt das dumm, deswegen lasse ich jetzt nur mal das Zitat wirken, und vielleicht kann eine andere damit was anfangen und das weiterdenken.
    Irgendwie blieb mir auch das mit dem “Glaubenskrieg” hängen… Ich meine, ich kann mir vorstellen, dass es zwei gleichwertige Annäherungen daran sind, wie Care für die Welt im Körper ankommen kann.
    Ich mache hier übrigens eher Kommentare zu Kommentaren und nicht so sehr zum Text. Vielen Dank für diesen, Anne Claire Mulder! Er eröffnet mir wieder die Möglichkeit zu verstehen, was Gott für andere Menschen bedeuten kann.

  • @Anne: Danke für deine Anfragen, die ich sehr interessant finde, aber das ist wirklich schwer zu versprachlichen. Ich glaube, der Punkt ist bei mir der Versuch, Gott als Transzendenz zu erhalten. Ich brauche einen Begriff für den Umgang mit dem nicht Verfügbaren, mit dem, was über das Weltimmanente hinausgeht, was nicht in ihm aufgeht. Das ist für mich der Sinn des Wortes „Gott“.

    Mütterlichkeit, gegenseitige Abhängigkeit, Verwobenheit aller Erscheinungen der Natur usw. hingegen sind für mich „irdische“ Dinge, und ich halte die Überhöhung bzw. „Vergöttlichung“ des Mütterlichen für einen patriarchalen Move, der dazu diente, dies abzuspalten und aus dem Bereich der Politik, des Verhandelbaren, des Relativen zu verbannen ( wobei dann die monotheistischen Religionen genauso wie du schreibst ihren Anteil hatten). Ähnlich ist wohl meine Abneigung gegen alles „Esoterische“ zu verstehen, das auch oft eine Argumentationsfigur ist, bei der bestimmte Zusammenhänge behauptet werden, ohne der politischen Verhandlung ausgesetzt zu sein.

    Zum Beispiel – weil du nach meiner Reaktion auf Claudias Kommentar fragtest, dass „die Erde uns alles gibt, was wir brauchen“. Das ist ja nun einfach nicht wahr. „Gott“ gibt uns alles, was wir brauchen, aber die Erde eben faktisch gerade nicht. Die Erde bewirkt, dass Menschen verhungern, getötet werden, leiden usw, und zwar auch ohne Klimakatastrophe. Das ist eben so auf der Erde. Sie gibt natürlich auch vieles Schöne und Gute, aber auch vieles Schreckliche usw. Auch Mütterlichkeit ist nicht ungebrochen gut, auch Mütter können Schlimmes machen (dazu haben die Italienerinnen ein ganzes Buch mal gemacht: Der Schatten der Mutter).

    Um das „Alles was wir Brauchen“ fassen (und daran glauben) zu können, brauche ich daher einen Bezug auf ein „Mehr“ (=Gott), das nicht verfügbar, greifbar, erfassbar usw. Ist, etwas Jenseitiges, im Unterschied zur Erde, der Mutter usw. Die alles „diesseitige“ Phänomene sind.

    Ist das irgendwie verständlich?

  • PS: Wobei Gott, um das nochmal klarzustellen, für mich nichts Mysteriöses oder so sein muss, sondern ich kann mir Gott auch als das „alles der Welt“ vorstellen, oder das „große Umunsherum“, wie Ina mal sagte, also es muss nichts Außer-Physikalisches oder Wunderhaftes sein. Ein Problem habe ich nur, wenn ein Teil der Welt vergöttlicht wird und ein anderer eng-göttlicht, so etwa: Mütterlichkeit ist göttlich, Väterlichkeit nicht, oder Natur ist Göttlich, Technik nicht. Denn mit dieser Unterscheidung ist Gott dann „verweltlicht“ worden, indem wir Menschen anfangen, Gott mit irdischen Maßstäben zu definieren. Damit ist dann sozusagen „der Witz“ von Gott weg und das Prinzip funktioniert nicht mehr für mich, sondern wird banalisiert (oder eben esoterisch, indem da ein „Geheimnis“ reinbehauptet wird, zu dem eben nur Eingeweihte oder Initiierte Zugang haben).

  • Fidi Bogdahn sagt:

    „…damit ist dann sozusagen „der Witz“ von Gott weg…“
    Gott ohne Humor, Lust und Freude zu sehen,
    erscheint mir jedenfalls witzlos.

  • Anne Newball Duke sagt:

    Liebe Antje, seit Ewigkeiten will ich antworten auf deine zwei Kommentare nochmal, ich bin immer noch nicht fertig mit Denken (ich denke ja auch nicht unablässig dran natürlich, aber ich ringe immer noch mit Worten und Formulierungen tatsächlich), aber es kommt bald nochmal was. (War das gerade eine Art Trailer? ;)

Verweise auf diesen Beitrag

Weiterdenken