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„Die schönste Revolution des 20. Jahrhunderts“

Von Antje Schrupp, Gabriele Schärer

Vor zwanzig Jahren erschien der FIlm „Sottosopra – Die schönste Revolution des 20. Jahrhunderts“ von Gabriele Schärer. Er handelt vom Ende des Patriarchats, also davon, wie Frauen ihre Freiheit entdecken und die bisherige symbolische Ordnung der Männerherrschaft in Frage stellen. Genau das verbindet die vier Protagonistinnen: die Gewerkschafterin Christiane Brunner, die Theologin Marga Bührig, die Krankenschwester Heidi Ensner und die Philosophin Luisa Muraro.

Der Film kann derzeit über den Streamingdienst Playsuisse kostenlos angeschaut werden.

Aus Anlass des Jubiläums hier ein Interview mit der Regisseurin Gabriele Schärer.


Gabriele, erzähl nochmal kurz, wie es damals zu dem Film kam

1995 dachte ich zum ersten Mal darüber nach, einen Film über die Frauenbefreiung zu machen, doch ich fand keinen roten Faden oder ein Motto, das mich hätte leiten können. Bis 1996 das neue Buch des Kollektivs aus dem Mailänder Frauenbuchladen herauskam: «Das Patriarchat ist zu Ende. Es ist passiert und nicht aus Zufall». Da mich «Wie weibliche Freiheit entsteht» aus der gleichen Küche schon so inspiriert hatte, las ich es gleich. Damit war das Motto meines nächsten Films klar, und ich begann mit der Suche nach den Frauen, die das Ende des Patriarchats verkörpern. Es sollten Frauen sein, die jenseits der Regeln des Patriarchats leben und deren berufliche Praxis sich auf Frauen bezieht. Ich wollte einen Diskussionsbeitrag zum Ende des Patriarchats und damit zur Jahrtausendwende die Frauenbefreiung feiern.

Wenn du den Film jetzt, mit einem Abstand von 20 Jahren schaust, was fällt dir ein/auf?

Dass damals, in den 70er bis vielleicht Ende 80er Jahre, die Gesellschaft durchlässiger war. Es gab eine Presselandschaft, die unterschiedliche Sichtweisen darstellte und viele Gruppen, in denen diskutiert wurde.

Marga Bührig konnte eine evangelische Bildungsstätte zusammen mit ihrer Freundin leiten und einiges an basisdemokratischen Konzepten umsetzen. Die Möglichkeiten an den Universitäten wurden nicht durch ein Punktesystem eingeschränkt, die Pflegefachfrau konnte im Rahmen einer staatlich finanzierten Institution für das Recht auf Abtreibung kämpfen, die damals noch verboten war. Und an die Spitze der männlichsten aller Schweizer Gewerkschaften wurde eine linke Frau gewählt.

Damals waren wir selbst in der Stadtteilgruppe engagiert und haben die Themen bestimmt. Heute ist das Quartierforum in meinem Viertel von der Parteipolitik und NGOs besetzt, die ihre Leute dafür bezahlen, dass sie für uns die Themen setzen.

Ich denke mit Freude daran, wie sehr mich die vom italienischen Frauenkollektiv ausgehenden Haltungen jenseits des Patriarchats geprägt und inspiriert haben: zuerst mal war ich sehr erleichtert zu lesen, dass wir «Schwestern», so nannten sich feministisch engagierte Frauen in den 70er Jahren, nicht gleich sind, sondern dass grade die Unterschiedlichkeit uns weiterbringt. Ich habe mich ausführlich mit der Konkurrenz unter Frauen beschäftigt, und gute Erfahrungen gemacht, diese in meinen Beziehungen zu thematisieren. Wenn ich davon ausgehe, dass das Patriarchat zu Ende ist, übernehme ich Verantwortung und löse mich von der Opferrolle. Wenn das keine Revolution ist! Ein immer noch aktueller Gedanke, der sehr viele Identitäten heute anregen könnte, sich weniger egoistisch zu benehmen und sich nicht ständig darauf zurückzuziehen, als Opfer hätten sie jedes Recht dazu. Vielen Frauen hingegen haben sich aus der Opferrolle verabschiedet, dafür steht auch die MeToo Debatte.

Haben sich Hoffnungen auf “Sottosopra”, also Umkehrung schlechter Verhältnisse erfüllt?

Mit dem Ende des Patriarchats haben die Frauen sich auch von der Verpflichtung gelöst, die Versorgung im Privaten zu übernehmen. Die aktuelle Caredebatte verlangt Respekt für die berufliche Carearbeit, dabei geht es nicht nur um bessere Bezahlung, im Berliner Streik der Pflegekräfte etwa standen zuerst die Arbeitsbedingungen im Mittelpunkt. Das Pflegepersonal setzt sich Schritt für Schritt durch. Das ist ein Lichtblick in einem sehr düsteren Szenarium, ich habe selbst lange in der Pflege gearbeitet. In Hamburg sind alle Krankenhäuser, ausser der Uniklinik, privatisiert. Es herrschen schockierende Verhältnisse, die Leslie Franke und Herdolor Lorenz in ihrem Film «Der marktgerechte Patient» (2018) dokumentiert haben.

Das Netzwerk Care Revolution ist ein Zusammenschluss von über 80 Gruppen und Personen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die in verschiedenen Feldern sozialer Reproduktion – Hausarbeit, Gesundheit, Pflege, Assistenz, Erziehung, Bildung, Wohnen und Sexarbeit – aktiv sind. «…Wirtschaften ist eine gesellschaftliche Veranstaltung zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse der Lebenserhaltung und der Lebensqualität», schreibt die Autorin Ina Praetorius schon 2015 in ihrem viel zitierten Essay ‹Wirtschaft ist Care oder: Die Wiederentdeckung des Selbstverständlichen›

Diese Debatten werden in einem sehr breiten Feld weitergeführt und stimmen mich hoffnungsvoll.

Doch das Feiern ist vorbei. Freiwillig tritt das Patriarchat nicht ab. Wie vorauszusehen war, provoziert die neue weibliche Freiheit viele Männer, weil sie nur den Verlust an Machtpotenzial und nicht den Gewinn von gutem Leben sehen. Die Rechtskonservativen und ähnliche Denkweisen, die Frauen in patriarchale Schranken weisen, sind weltweit erstarkt. Für das Patriarchat gerade noch rechtzeitig kam die Pandemie, dann der Krieg – eine totalitäre Entwicklung wie aus dem Lehrbuch. Die Politik hat sich bereits vor Jahren aus der Politik verabschiedet. Doch heute wollen viele auch im Privaten keinen Dialog mehr führen, sondern sich nur noch durchsetzen mit ihrer Meinung. Als ich kürzlich eine knapp Vierzigjährige fragte, was ihre Kritik, von der ich hörte, an einer bekannten Frau denn konkret sei, meinte sie, dass sie mit mir nicht darüber reden wolle. Solche Verweigerung macht auch meine Arbeit als Filmemacherin schwierig.

Anlässlich der Denkumenta2 schrieb Anne-Claire Mulder:  «Die Leidenschaft des Staunens bringt den Zwischenraum, den Raum des Dazwischen, hervor. Dieses ‹Wir›, das im Dazwischen geschaffen wird, kann selbst als ein Dazwischen aufgefasst werden. Es ist buchstäblich ein Inter-esse – und widerspiegelt die Interessen der Teilnehmenden am Dialog. Dieses Hervorbringen eines Dazwischen, eines ‹Wir› zwischen dem ‹Ich› und dem ‹Du› ist daher eine gemeinsame Kreation, etwas, das gemeinsam geschaffen wird, etwas, von dem niemand behaupten kann, es allein geschaffen zu haben, denn solch eine Behauptung würde das Dazwischen auslöschen.»

Das in Pandemie- und Kriegszeiten breit gewordene Desinteresse an den Zwischenräumen und dessen Dialogmöglichkeiten weckt grosse Ängste in mir.

Was hat sich an feministischen Herausforderungen geändert?

Die neue Praxis der Beziehungen unter den Frauen liess sich nicht kapitalistisch vereinnahmen. Vieles hat sich verändert, grade was unseren Körper betrifft. Weltweit und auf unterschiedlichste Art und Weise entziehen Frauen ihren Körper den patriarchalen Projektionsflächen. Diese neue Freiheit, das Recht auf meinen Körper, hat eine grosse symbolische Wirkung. Auch wenn das Patriarchat darauf mit Hass und einer nie dagewesenen Aggression antwortet, ist diese Bewegung – der sich auch viele jüngere Männer anschliessen – nicht aufzuhalten.

«Das Bewusstsein über das Ende das Patriarchats lässt es nicht mehr zu, Konflikte zu vermeiden, denn wer Autorität übernimmt, übernimmt auch den Konflikt», schreibt die Libreria delle Donne 1996 im roten Sottosopra.

Als der Film SOTTOSOPRA rauskam, war feministisch zu sein für die Mehrheit so ziemlich das Allerletzte. Heute ist es für viele auch einfach schick, sich mit diesem Begriff zu verbinden. Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock ist eine typische Vertreterin ihrer Generation, sie konzentrierte sich in ihrem Leben auf ihre Karriere und hatte, so präsentiert sie ihren Lebenslauf, nie eine feministische Praxis. Trotzdem möchte sie Teil des Konzepts einer feministischen Aussenpolitik sein. Das ist die positive Seite dieses Populismus.

Warum ist der Film heute noch sehenswert?

In SOTTOSOPRA werden Etappen aus fünfzig Jahren Frauengeschichte reflektiert. Ich bin sicher, dass dieses Wissen uns befähigt, bessere Debatten zu führen und in Konflikten mit unseren Anliegen zu überzeugen. Nicht umsonst sprechen die vier porträtierten Frauen sehr viel über Selbstorganisation. Damit ermutigen sie uns, unsere Sache vermehrt selbst in die Hand zu nehmen. Die Protagonistinnen im Film räumen dem Gedanken des Endes des Patriarchats einen Platz ein, und das schafft nicht nur «einen geschärften Blick auf die tausend Aussagen über die heutigen Zeiten, sondern auch einen symbolischen Schutz für den weiblichen Körper.» (Luisa Muraro, in Freudensprünge, zitiert im roten Sottosopra.)

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