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Mit Herzblut gelesen: Chelsea Mannings „README.Txt“

Von Brigitte Leyh

Das Schicksal der Whistleblowerin Chelsea Manning, die mit 35 Jahren Gefängnis in den USA bestraft wurde, weil sie die Wahrheit über den Krieg in Irak und Afghanistan leakte, machte mich neugierig auf die Autobiographie „README.txt“.

Die Kindheit verbrachte Manning in Oklahoma City, wo sie als Junge Bradley Edward Manning aufwuchs. Schon früh liebäugelt sie mit den Sachen der Schwester, Schulkameraden nennen das Kind „Schwuchtel“. Mit dem vom prügelnden Vater 1973 geschenkten Computer beginnt nicht nur Mannings Karriere bis zum späteren Spitzendatenanalytiker, sondern auch ein heimlicher Ausweg ins Reich des in Oklahoma gesetzlich Verbotenen. Manning sucht und findet queere Kontakte und Chatgroups sowie andere Computernerds, mit denen sie sich anfreunden kann.

Zu Beginn der Pubertät erfährt Manning im Laufe intensiver Recherchen, dass es Menschen gibt, die nicht schwul, sondern trans sind. Die familiäre Situation mit den Eltern, die sich ständig alkoholisiert streiten, wird durch eine Scheidung nicht besser. Die Mutter kann Manning nicht versorgen, und der Vater will den vermeintlich „missratenenen Sohn“ nur loswerden und finanziert trotz erstklassiger Abschlüsse an der Highschool kein Studium.

Eine Tech Firma stellt Manning ein, aber spannend sind für den jungen Menschen nun vor allem erste sexuelle Begegnungen zu Männern, die jetzt nicht mehr nur im Netz stattfinden, sondern zu heimlichen Begegnungen in anderen Städten führen. Aber der ständige Streit mit der Stiefmutter eskaliert, Manning kann nirgendwo sonst unterkommen und nimmt schließlich den Pick-up des Vaters und schlägt sich durch bis Chicago.

Dort hält Manning sich so viel wie möglich in Chicagos liberalerer Schwulenszene auf, lässt sich Drinks spendieren und mitnehmen. Das Begehrtwerden ist eine ganz neue Erfahrung, dabei lebt Manning in dem Pick-up, sucht Essen im Müll und magert ab bis auf 42 Kilo. Doch dann schickt eine Tante Geld und bietet Unterkunft in Potomac, Maryland. Von diesem wohlsituierten Leben aus probiert Manning weitere Jobs, aber diesmal mit College-Besuch und dem Ziel, eines Tages einen Abschluss in Physik an der Universität zu machen. Manning kauft – angeblich für eine Freundin – Frauensachen, Make-up und dergleichen, probiert diese heimlich aus, ständig in Angst, auch die liberale Tante Debbie zu überfordern. Auch finanziell will Manning es sich mit ihr nicht verderben und versucht, neben dem Studium, in mehreren Jobs Geld zu verdienen.

Schließlich reift der Entschluss, Soldat zu werden: Es gibt für Militärs beachtliche Anreize wie etwa die Finanzierung eines Studiums. Außerdem verbindet sich damit die Hoffnung auf „männliche Normalität“: Der Vater wäre zufrieden, und im Militär vergeht womöglich auch die Lust, Frauenkleider zu tragen. Und gerecht ist der Krieg im Irak und in Afghanistan ja wohl auch.

2007 landet Manning bei der Army. Homosexualität ist beim Militär offiziell verboten, aber es gibt die allseits bekannte der Regel „Dont’t ask, don’t tell“ – nicht danach fragen, nicht darüber sprechen. Der sehr männliche und betont heterosexuelle Habitus des Militärs macht es Manning mit 1,58 Metern Körpergröße schwer, als Kumpel anerkannt zu werden, trotz guter sportlicher Leistungen und hervorragender Computerkenntnisse. Letztere ermöglichen immerhin eine Position im Nachrichtendienst mit weniger Drill und mehr Privatheit.

Manning kann jetzt die früheren Netzbeziehungen wieder aufnehmen. Rückkehrer aus dem Krieg schreiben darüber, dass es schon gar nicht mehr um den Sieg gehe, sondern nur noch um das Überleben der amerikanischen Kameraden. Neben dem zerplatzten Traum vom vermeintlich sinnvollen Krieg muss Manning nach dem Amtsantritt von Barack Obama 2008 erleben, dass auch der neue Präsident sich nicht für mehr Gleichberechtigung für Homosexuelle einsetzt.

Der Zwang zur ständigen Tarnung belastet und macht erpressbar. Dennoch findet Manning beim Militär eine große Liebe, die im Buch Dylan heißt. In vielen zärtlichen Stunden entwickelt sich eine enge Beziehung über Jahre. Doch trotz Dylan kann Manning das Empfinden, eine Frau zu sein, nicht unterdrücken. Über das Internet findet sie Kontakt zu anderen trans Frauen und spielt mit dem Gedanken einer Transition. Denn nur wenn sie heimlich Kleider anzieht, fühlt sie sich entspannt und authentisch.

Aber jetzt wird Manning in ein richtiges Kampfgebiet versetzt und glaubt, sich durch diesen Einsatz vor der der Welt – und beim Vater – Respekt verschaffen zu können. Im Irak muss Manning 17 Stunden täglich Datenanalysen und Überwachungsvideos anfertigen, Zielgebiete erkunden und Einheimische ausspionieren. Die Videos bestärken sie immer mehr in der Erkenntnis, Teil eines Apparates zu sein, der „jede Minute Menschen entmenschlicht“. Nichts davon erscheint in den US-Nachrichten, während weiter Soldaten für diesen „Schwachsinn“ sterben.

Die aberwitzige Arbeit führt einerseits zu Angstzuständen und Depressionen, andererseits zu Wutanfällen, wenn etwa lächerliche Vorschriften eingehalten werden sollen, während der Anblick sterbender Iraker auf dem Bildschirm von anderen Soldaten als Kollateralschaden und Sieg ihrer Arbeit gefeiert wird.

Manning beginnt, heimlich umfangreiches Beweismaterial zu sammeln und versendet es 2010 anonym während eines kurzen Urlaubs in den Staaten an verschiedene Medienhäuser. „Ich wollte der Welt zeigen, was ich zu sehen bekam.“ Nach der Rückkehr in den Irak wartet Manning vergeblich auf den Aufschrei der Öffentlichkeit und sendet schließlich das weltberühmte Video „Collateral-Murder“ an WikiLeaks. Es zeigt, wie aus zwei Helikoptern Zivilisten und zwei Reuters-Journalisten getötet werden.

Mannings Verhaftung 2010 ist der Beginn einer quälenden Gefangenschaft. Heerscharen von Anwälten versuchen nachzuweisen, dass die Veröffentlichungen dem Land riesigen Schaden zugefügt hätten. Drei Jahre später wird Manning zu 35 Jahren Haft im Militärgefängnis Fort Leavenworth, Kansas, verurteilt und der Verfügungsgewalt rachsüchtiger Gefängniswärter überantwortet.

Im Laufe des Prozesses wird auch Mannings Transidentität verraten, weshalb sie in der Haft alle Möglichkeiten der Transition wahrnehmen und eine Hormontherapie beginnen will. Hormone sind bei aktenkundiger Geschlechtsidentitätsstörung als medizinische Notwendigkeit anerkannt, trotzdem werden sie Manning mit anwaltlicher Hilfe und viel Unterstützung erst 2015 ermöglicht. Da ist sie schon 28 Jahre alt, und ihr Körper rebelliert monatelang gegen die Umstellung. Sie weint tagelang und braucht immer wieder Unterstützung von außen.

Vom Wachpersonal wird sie schlecht behandelt. 2016 unternimmt Manning einen Suizidversuch, nachdem eine Operation zur Geschlechtsumwandlung nicht erlaubt wird. Um die Ernsthaftigkeit ihres Anliegens zu unterstützen, tritt sie in einen Hungerstreik, verbunden mit einem Hilferuf in der Presse. Am fünften Tag sagt man ihr die Operation zu, damit sie wieder isst, doch stattdessen kommt sie erneut in Isolationshaft. Ein erneuter Suizidversuch führt zu schärferer Kontrolle und weniger Kontakten.

Nach der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten 2016 befürchtet Manning, dass man sie nach Guantanamo verlegen könnte. Sie und ihre Anwälte setzen Himmel und Hölle in Bewegung, damit Obama in den letzten Tagen seiner Amtszeit einem Gnadengesuch stattgibt, Freund*innen sammeln Unterschriften, die durch Amnesty International verstärkt werden. Tatsächlich ordnet Obama am 17. Januar 2017 Mannings Freilassung an, doch das Militär lässt es sich nicht nehmen, sie bis zur letzten Sekunde auf die Folter zu spannen. Tatsächlich kommt sie erst am 17. Mai 2017 frei.

Seither ist Manning zur Berühmtheit geworden. Sie engagiert sich – trotz aller Anfeindungen – für die Rechte von LGBT Menschen und hofft, dass die geleakten Dokumente viele Menschen zum Nachdenken bringen.

Chelsea Manning: Readme.txt. Meine Geschichte. Harper Collins 2022, 336 Seiten, 22 Euro.

Autorin: Brigitte Leyh
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 31.12.2022

Kommentare zu diesem Beitrag

  • atemberaubend stark, welch ein Mut, merci fürs aufmerksam machen, frohen Mut fürs neue Jahr, herzliche Grüsse Adelheid

  • Ulrich Wilke sagt:

    Ein erschütterndes Schicksal, eine schlimme soziale Umwelt. Ich hatte beim Lesen nicht das volle Verständnis, weil ich nicht weiß, was Frau Leyh mit “Pick-up” meint: In meinem Wörterbuch steht: “Empfänger, Tonabnehmer, Schalldose, Plattenspieler”.

  • Brigitte Leyh sagt:

    Entschuldigung: Der Pick-up ist das Auto mit Ladefläche, in dem Chelsea zeitweise lebte

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