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Rubrik denken

Welcher Norm folgt “normalerweise”?

Von Andrea Günter

Bezugnehmend auf das hier im Forum veröffentlichte Gespräch zwischen Antje Schrupp und Jutta Pivecka über Geschlecht und Körper schlägt Andrea Günter vor, Frausein genealogisch zu verstehen.

Was macht wen wozu? Foto: Andrea Günter

Was macht wen wozu? Foto: Andrea Günter

Liebe Antje, liebe Jutta Pivecka,

Ich habe Euer Gespräch aufmerksam verfolgt und merke, dass ich nach nunmehr beinahe 30 Jahren philosophischer Arbeit zum „Paradigma Geschlechterdifferenz“ doch immer wieder verblüfft bin, wie sich die alten Diskursprobleme fortschreiben, die Simone de Beauvoir schon eindrücklich bemängelt hat.

Am deutlichsten lässt sich mein Unbehagen an dem Gesprächsverlauf gleich entlang des ersten Dialogschritts festmachen:

Antje: „Normalerweise ist, wenn jemand das Wort ‚Frau‘ benutzt, fast immer die soziale Konstruktion ‚Frau‘ gemeint…“ Jutta: „Das stimmt.“

Es handelt sich um Schlüsselsätze für die vielen ungereimten Äußerungen zum Wortgebrauch „Frau“, die die folgenden Fragen stellen lassen: Was besagt das Wort „Frau“? Verweist es auf ein Signifikat, das uns sagen lässt „eine Frau ist“? Oder verweist es nicht vielmehr zuallererst auf Theorie, hier „soziale Konstruktion“? Dann leitet die Theorie „sozialer Konstruktivismus“ (oder eine andere Theorie, welche, das ist egal) das, was wir unter „ist“ verstehen können und wollen. Damit hätten wir statt einer göttlich gestifteten nun eine konstruktivistische Onto-theologie. Denn was die Wirkweise betrifft, unterscheiden diese sich nicht: Beide setzen einen absoluten Ursprung und Grund voraus, geben Bestimmbarkeit vor und sind auf diese Weise deterministisch. All das läuft auf das Folgende hinaus: Was Frau „ist“, ist eine Theorie, der Effekt einer Theorie über Theorien. So hatte Beauvoir festgehalten, dass die Biologie (die Psychologie, Geschichtswissenschaft usw.) eine theoretische Wissenschaft ist. Statt Natur „ist“ (wäre) Frau also nichts anderes als Biologie, Psychologie, Soziologie, Geschichte/Naturrecht, Sprache und so weiter: nichts anderes als der Effekt einer Theorie.

Dabei handelt es sich außerdem im Falle des Konstruktivismus ebenso wie im Falle der Gott-Ursprungs-Onto-theologie lediglich um eine Theorie über Theorien. Ziehen wir unsere historischen Erfahrungen mit den Entwicklungen von Theorien heran, dann können wir bedenken, dass diese Entwicklungen auch ganz anders hätten vonstatten gehen können. Und wenn ein „neues“ theoretisches Paradigma entdeckt wird, erlauben wir uns den Blick zurück in die Geschichte, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass immer schon einiges in diese Richtung gedacht wurde und wir dies wiederentdecken können. In der Regel wird also nicht bloß ein Paradigma gebraucht, sondern mehrere nebeneinander.

Vor dem Hintergrund unserer historischen Erfahrungen mit Theorien können wir uns dem folgenden Gedankenspiel widmen: Wäre im 20. Jahrhundert nicht die Theorie „Konstruktivismus“ erfunden worden, was würden wir dann etwa über die Biologie denken? Welche anderen Theoreme stünden uns zur Verfügung? Was denken wir anders, wenn wir die Kritik der Onto-theologie ernst nehmen würden, in der es nicht den Menschen, auch nicht die Gleichheit der Menschen, sondern wie etwa bei Hannah Arendt einfach Menschen, nämlich in ihrer Pluralität und genealogischen Bezogenheit gibt? Wovon, von welcher Theorie über Theorien/Wissenschaften würden wir heute abhängig machen, was Frau „ist“? Sprachlich präziser müsste es dann heißen, was „Frauen (in ihrer Pluralität und genealogischen Bezogenheit) sind“.

Was also heißt „Normalerweise ist, … fast immer gemeint“? Der Blick in die Geschichte zeigt, dass das, was wir heute als „normalerweise“ betrachten, eine historische Erscheinung ist, die kam und die wieder vergehen wird, so wie andere Wissenschaftszweige und Theorien über Theorien auch. Diese Aussage mag sich wie selbstverständlich anhören, sie muss sich aber in der Behandlung der Fragestellung niederschlagen, wenn sie ernst gemeint ist. Zum Beispiel: Wenn wir davon ausgehen, dass „Frau“ manchmal als Konstruktion, und manchmal nicht als soziale Konstruktion gemeint ist, wie gehen wir dann damit um, wenn nicht eigens gekennzeichnet ist, welchem Theorem die Aussage folgt? Ist es nötig, ein solches zu vereindeutigen? Vor allem aber, was heißt es, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse und Ordnungsgebilde immer nur vorläufig sind, und unsere Aussagen über Frauen, Männer usw. des Gleichen so sehr und so wenig vorläufig wie diese? Etc.

Geschlechterverhältnisse neu ordnen ist nicht so einfach... Foto: Andrea Günter

Geschlechterverhältnisse neu ordnen ist nicht so einfach… Foto: Andrea Günter

„Normalerweise“ zeigt gerade an, dass es auch nicht Allgemeingültiges gibt. Was nun speziell den Konstruktivismus betrifft, so würde es mir persönlich schon reichen, wenn statt der platten populärwissenschaftlichen Konstruktivismusrezeption im Feminismus wenigstens die Kontur des Radikalen Konstruktivismus ernst genommen würde, dessen Autoren genau dieser populistischen Vereinfachung entgegentreten wollten. So zählt etwa zur Theorie des Radikalen Konstruktivismus, das Flüssige und Bewegliche zusammen mit der Aktivität und Prozesshaftigkeit des menschlichen Tuns als „organisches“ Geschehen zu verstehen. Mit der Charakterisierung „organisch“ haben Autoren wie Humberto Maturana und Siegfried Schmidt betont, dass der menschliche Beitrag zu Prozessen und Selbstverständnissen als organisch eingebunden, als Re-Aktion auf organische Gebilde zu verstehen ist, zu denen auch die Menschen selbst gehören. Die menschlichen Beiträge unterliegen also nicht der Willkür und Machbarkeit von einzelnen oder einer Epoche, sondern bilden sich (reflexiv!) innerhalb eines vorhandenen Gefüges aus, also inmitten der Natur (Kant) und Gesellschaft sowie deren Schnittstelle.

Um auf die komplexen und verschiedenartigsten Verbindungen zwischen Natur, Gesellschaft und Individuum/Einzelerscheinung aufmerksam zu machen, hat Beauvoir, an Platon und Hegel anschließend, von „Sitte und Sexus“ gesprochen. Ferner ist mit dem Radikalen Konstruktivismus die Kybernetik 2. Ordnung verbunden. Dazu später nochmals genauer, denn die theoretische Dimension kann nicht einfach ausgeschaltet werden, sie bedarf der Präzisierung.

Menschen sind dem radikalen Konstruktivismus zufolge also nicht Konstrukteure, sie sind höchstens Mitkonstrukteure der Wirklichkeit. Mit dieser relativen Sichtweise kann nun unterschieden und muss immer wieder neu zusammengesetzt werden, welchen Anteil Menschen aktiv konstruierend haben, und welchen passiv reagierend, Vorhandenes aufgreifend.

Genealogie und geschlechtliche Identität

Damit zurück zum „Ist“, das die Prädikation „Frau“ leitet. Wenn es nicht die Metatheorien, aber auch nicht die Begrenzungen menschlicher Erkenntnisfähigkeit sind, die es ermöglichen, ein „Ist“ auszusagen, wie ist „Ist“ dann zu füllen, wie kann es vor allem aber auch offen gehalten werden?

Sei es in der jüdischen, der griechisch-philosophischen, der christlichen Tradition: Die weitreichendste Alternative, die die abendländische Kultur hierzu hervorgebracht hat, ist die Denkform der Genealogie; die Denkform, die das Nachdenken über das menschliche Generationengefüge und dessen Wirkungszusammenhänge zu entwickeln herausfordert, aber auch zu entwickeln erlaubt. Hannah Arendt (oder Hegel, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Max Horkheimer) zufolge kann man die Genealogie sogar als conditio humana des menschlichen Denkens selbst bezeichnen. Menschen entwickeln sich denkend mit Hilfe und in Form des Generationengefüges und zugleich inmitten von diesem. Diese Entwicklung ist das genealogisch-pädagogische Moment des Denkens. Denn das Besondere des Menschseins besteht darin, dass ein Mensch als Neuankömmling mitten in das schon vorhandene menschliche Beziehungsgefüge hineintritt. Hierbei stellt er sich einerseits als einzigartig heraus, ist von allen anderen Menschen unterschieden. Zugleich teilt er mit allen anderen Gemeinsames, einmal grundsätzlich das gemeinsame Menschsein, anderes wiederum in unterschiedlichsten Konstellationen und Gebilden. Er ist mit anderen des Weiteren verbunden, will mit anderen verbunden sein und kann dies sprechend, denkend, handelnd aktiv gestalten (Vgl. Drygala/Günter, Paradigma Geschlechterdifferenz, 2010, v.a. 30-32, 152-160).

Was nun Geschlechtertheoreme betrifft: Was könnte besser geeignet sein als das Denkgebäude der Genealogie, um die Metaphysik der Ursprungsontotheologie zu ersetzen? Eine Metaphysik des Inmittens wird konturierbar, sie bildet eine starke, wenn auch in der Regel übersehene Tradition abendländischen Denkens. In diesem Sinne greifen Platon, Hegel, Nietzsche, Feuerbach, Freud, Foucault, Arendt, Derrida, Irigaray, Muraro die Metaphysik der Genealogie auf, und zwar gerade für ein neues Denken der Geschlechterdifferenz.

In die genealogische Denkrichtung verweist auch Eure Argumentation, wenn ihr „Schwangerschaft“ als Maßstab wählt, um die Möglichkeit, Geschlechteridentitäten zu fokussieren, abzustecken Eine Schwangerschaft bildet das Scharnier für die Definition des gemeinsamen Menschseins aller Menschen. Allerdings, ist dieses Kriterium präzise genug? Muss es nicht das Geborensein sein? Denn mit der Schwangerschaft ist schon etwas entschieden, was mit dem Geborensein noch offen ist und bestimmt, erkannt, differenziert werden muss.

Mensch ist, wer von einer Menschenfrau geboren ist, sagt die jüdische Tradition, wobei das deutsche Verfassungsgericht betont, dass das gilt, gleichgültig wie missgebildet ein Neugeborenes ist, um die unzureichende Argumentation, „richtiges“ menschliches Leben sei nur solches von vernunftbegabten Geborenen, zurückzuweisen. Bei dem Kriterium „Schwangerschaft“ handelt es sich um eine genealogische Bestimmung, die allerdings impliziert, dass „Frau“ im Unterschied zu Eurem Gebrauch daraus nicht direkt, höchstens indirekt abgeleitet werden kann: als Geborene von einem Körper, der schwanger geworden ist und manchen seiner Geschöpfe die in einem bestimmten Rahmen durchaus variantenreiche Möglichkeit mitgibt, selbst schwanger werden zu können. Indirekt ist diese Bestimmung, weil ein Neugeborenes im Vergleich mit der Mutter als möglicherweise gebärfähig genannt wird, wir darum vom gleichen Geschlecht ausgehen und wir diesen mit dem Geschlechtsnamen „Frau“ benennen.

Aus einem solchen genealogischen Verständnis folgt: Wer von einer Menschfrau geboren ist und das gleiche Geschlecht hat, ist gebärfähig, „weiblich“. Wer nicht das gleiche Geschlecht hat, ist „nicht-weiblich“. „Frau“- oder „Nicht-Frau“-Sein resultiert demnach nicht aus einer vereindeutigten weiblichen (Körper)Substanz im Unterschied zu einer vereindeutigten männlichen (Körper)Substanz (zum Beispiel die „Trägerin einer Gebärmutter“ im Unterschied zu dem „Träger eines Hoden“). Es resultiert hingegen aus einem Vergleich des neugeborenen Körpers innerhalb der Generationengefüge, wobei sich dessen Spezifizität allerdings erst noch genauer herausstellen muss. Das wissen und beachten wir heute (hoffentlich) um Vieles präziser als zu Zeiten, die nach Eindeutigkeit, Determiniertheit, Absolutheit verlangten.

Es sich zwischen Sitzfläche und Lehne bequem machen ist manchmal gar nicht so einfach. Foto: Andrea Günter

Es sich zwischen Sitzfläche und Lehne bequem machen ist des Weiteren nicht so einfach. Foto: Andrea Günter

In diesem Vergleich spielt (Körper)„Substanz“ nun keine absolute, aber auch nicht überhaupt keine, sie spielt vielmehr eine relative Rolle. Diese Relativität gibt die Tätigkeit des Vergleichens vor, die etwas Drittes ins Spiel bringt. Aristoteles nennt dies das „intermediäre Gleiche“ und erklärt dessen Gebrauch als Frage der Ungerechtigkeit bzw. Gerechtigkeit. Dieses „Dritte“ ist das Kriterium, nach dem Einteilungen vorgenommen und gewichtet werden, in diesem Falle: die Gebärfähigkeit. Von der Gebärfähigkeit her wird Muttersein benannt, sie zeichnet den gebärenden Körper als „Mutter“ aus. Wissenschaftstheoretisch handelt es sich um eine Induktion. Fatal kann es werden, wenn aus einer Induktion eine Deduktion gemacht wird. In diesem Fall heißt das: Wenn jemand als Frau bezeichnet wird, wird davon ausgegangen, dass dieser Menschen gebären kann, ohne dass etwa im Moment der Geburt, wenn das Geschlecht individualisiert wird, letztlich prüfbar ist. Wenn statt von der Gebärfähigkeit her die Zuschreibung Mann-Frau definiert wird, findet damit eine Verdrehung von Induktion und Deduktion statt, das Kriterium wird von der Benennung abgeleitet statt die Benennung vom Kriterium.

Denn der generative Vergleich beinhaltet Gleichheit und Differenz bzw. Nicht-Gleichheit und Differenz. Gleichheit besagt dabei das gleiche generative Geschlecht, also das gleiche Geschlecht mit der, die geboren hat: also auch Gebären Können, was dann als Frau identifiziert und „weiblich“ genannt wird; Nicht-Gleichheit besagt das nicht-selbe generative Geschlecht, folglich Nicht Gebären Können: was als nicht-weiblich, nicht-Frau betrachtet wird. Dieses nunmehr automatisch auf „männlich“, „Mann“ zu reduzieren, verstellt den Blick auf die unterschiedlichen konkreten Variationsmöglichen der nicht-XX-Chromosomenkombination.

Der Faktor „Differenz“ in diesem Vergleich entlang des Generationengefüges steht indessen bei jedem einzelnen Menschen für dessen Individualität. Die generative Sichtweise erlaubt daher, davon auszugehen, dass jede geschlechtliche Identität sich aus dem Vergleich mit der, die geboren hat, und der individuellen Differenz und genetischen Variation entwickelt. Diese Entwicklung nennt man Individuierung. Geschlechtlichkeitsbezogene Individualität beruht folglich auf dem hierzu zu Verarbeitenden, darüber hinaus aber gerade auch auf den hierbei praktizierten Verarbeitungsweisen. Körperliche, seelische, geistige Individualität ist eine Variante des geteilten Geschlechtlichen, hat eine Geschichte, stellt kein Absolutes dar, baut nicht auf einer Ontotheologie.

So wird heute ausgesagt, es gibt – „ist“ – den Sohn eines Transmannes. Sofern dieser Mann gebären konnte, ist er aber nicht der Vater eines Geborenen. Eine solche Identifikation setzt den Mann statt das „Trans“ und damit die persönlich als maßgeblich entwickelte Individuierung zum Mann absolut. Sie onto-theologisiert, statt die Genealogie und Geschichte eines Körpers zu erzählen. Sein Körper hat eine besondere Genealogie und Geschichte, seine Gebärfähigkeit kennzeichnet ihn als Mutter.

Narrative werden nicht verändert, wenn das Theoriegebäude nicht verändert wird, wenn man also den Erzählstil nicht verändert. Eine Vereindeutigung führt zu Verabsolutierung, letztlich zu Theologie. Diese Konstruktionsweise muss grundsätzlich – etwa durch genealogisches Sprechen und Denken – ersetzt werden. Eine genealogische Sichtweise hat viele Vorteile, verlangt aber auch eine neue Präzision. Den (in geschlechtlicher Hinsicht) gleichen Körper wie den derjenigen zu haben, die geboren hat, ist die gemeinsame Eigenschaft von Frauen. Zum Gebären braucht ein Körper vielfache Voraussetzungen, das ist nicht nur eine Gebärmutter, das ist ein ganzer komplizierter hormoneller und Stoffwechselprozess, organisiert in noch lange nicht verstandenen Gehirnaktivitäten. Wäre dies irgendwann einmal per medizinischem Eingriff herstellbar, bliebe es eine Anpassungsleistung, die einen Ursprung hat, den die Herstellung imitiert: den geboren habenden Körper.

Aufgrund der zugleich wirkenden generativen Differenz leiten sich aus der gemeinsamen Eigenschaft des Gebärens allerdings keine weiteren gemeinsamen Eigenschaften ab, weiteres verdankt sich der Individualität. So wird eine Tochter ihrer Mutter zwar durchaus ähnlich sehen können, aber sie wird niemals gleich aussehen. Körperliche Eigenschaften variieren von Mutter zu Tochter. Eine Tochter kann wiederum wissen, dass auch sie gebären kann, ohne diese Möglichkeit nutzen zu müssen oder tatsächlich zu können. Es kann sich herausstellen, dass sie aus welchen körperlichen oder gesundheitlichen Gründen dennoch nicht gebären kann, und so weiter.Was ferner die Bedeutung der Schwangerschaft als genealogischen Maßstab der Geschlechtereinteilung betrifft, so definiert sich Frausein damit nicht als zukünftige, sondern zuerst als vorausgegangene Möglichkeit, als eine Herkunft, die ein Weiterführen entlang der individuellen Dispositionen von Frauen beinhalten kann. Ferner wird eine Schwangerschaft erst im Nachhinein erkannt, identifiziert entlang von Zeichen des Körpers, die jemand an sich oder andere an jemandem wahrnehmen.

Die Existenz eines Menschen ist also ein faktischer Beleg der Gebärfähigkeit. Aus diesem Fakt kann nichts Absolutes (alle l sind), aber auch nicht nichts, allerdings kann daraus Relatives, Bedingtes abgeleitet werden.

Statt also von ontologischen Identitätsvorstellungen auszugehen, erlaubt die genealogische Denkform geradewegs das Denken, Sprechen, sich Verbinden und Unterscheiden der Einzelnen inmitten des gemeinsamen Menschseins, ermöglicht es, verlangt es regelrecht. Genealogisch das menschliche Geschlechtliche zu denken zeigt etwas an, das einerseits eine Kontinuität vorstellt – immer Vorgänger und Nachfahren zu haben – und zugleich offen, veränderlich, komplex ist. Zu ihm zählen auch die bewussten Stellungnahmen von Erwachsenen zur Möglichkeit einer Schwangerschaft vor den Nachwachsenden, wollen die Erwachsenen und sollen die Nachwachsenden verantwortlich mit dieser Möglichkeit umgehen.

Das heißt, genealogisches Denken setzt weder eine Position und deren Tradierung absolut, es bewegt sich vom Kriterium geleitet in zwei Richtungen zugleich, zurück zum Gebärenden Körper und nach vorne zu den Möglichkeiten eines geborenen Körpers. Damit ist es nicht binär angelegt. Außerdem individualisiert es nicht falsch, erhebt also nicht eine persönliche Individuierungsgeschichte zum Maßstab aller, sondern lässt jede einzelne Individuierung in Verbindung mit anderen erst kenntlich werden und bindet sie als Zusammenspiel von gleich&verschieden zusammen.

Was sage ich einer/m Heranwachsenden, was will eine Gesellschaft Heranwachsenden sagen, wenn es um die Möglichkeit einer Schwangerschaft, um Kinder-Bekommen und -Haben gerade auch vor dem Hintergrund der eigenen individuellen und gesellschaftlichen Erfahrungen mit Schwangerschaft geht? Die Pille fällt nicht irgendwann irgendwarum vom Himmel, sie ist eine mögliche Antwort gerade auf diese Frage. Außerdem funktioniert sie nur bei einem Körper mit einer bestimmten Hormondisposition, und das gilt auch dann, wenn zwei verschiedene Hormondispositionen („die Pille für den Mann“) entwickelt sind; sie muss den Körpern richtig zugeordnet werden, wenn sie wirken soll. Dazu kommt, dass unterschiedliche Frauen eine bestimmte „Pille“ sehr unterschiedlich vertragen, es ausprobiert werden muss, welche bestimmte Hormonvariation individuell am besten zu einer bestimmten Frau passt usw. – Die Notwendigkeit solcher Variationen sind ein gutes Beispiel dafür, was es meint, dass Biologie Theorie ist, dass Medizin von Idealen ausgeht, die individuell modifiziert werden müssen. Was auch immer diese Theorien besagen, letztlich entscheidet sich an den Antworten zu diesen Themenstellungen, wie über menschliche Geschlechtsidentität gedacht wird. Und solange Schwangerschaft und Gebürtigkeit eine Grundkonstante, im Leben der Einzelnen ferner eine Herausforderung für ihre Existenz darstellen, solange werden Menschen sich gegenüber gebären könnenden Körpern verhalten müssen – und wollen.

Geschlechteraussagen in ethischer Kausalität

In meiner Doktorarbeit „Literatur und Kultur als Geschlechterpolitik“ (Königstein/Ts. 1997) habe ich die sechs verschiedenen Weisen und Signifikanten herausgearbeitet, in denen die drei Faktoren Frau-Körper-Wort/Bild versprachlicht werden, die die feministische Kulturwissenschaft bis dahin entdeckt hatte. Nimmt man die Markierung der Autorin und Leserin explizit hinzu, sind es sogar fünf Faktoren, die miteinander kombiniert werden können, dann kommt man auf 25 Möglichkeiten. Nimmt man ferner die am meisten auftretenden Chromosomenvariationen – meines Wissens: 5 – dazu plus Eins für alle weiteren Möglichkeiten, handelt sich insgesamt um 112, also um 121 Möglichkeiten. Wozu führt es, wenn eine solche Vielfalt an Kombinationsmöglichkeiten, für welche auch immer sich man entscheidet, auf 2 reduziert wird? Die Problematik der richtigen Benennung ist nicht durch eine Faktenlage bestimmt, die Natur oder Gesellschaft vorgeben, sondern beruht auf dem Bedürfnis, zu vereindeutigen. Dieses Bedürfnis wird von dem Verständnis verstärkt, die Natur, die Gesellschaft oder auch Gott vereindeutige. Allerdings: Weder die Natur noch die Gesellschaft noch Gott stellen Wirkungszusammenhänge dar, die vereindeutigen, im Gegenteil.

Statt also dem Wunsch nach Vereindeutigbarkeit nachzugeben, könnten wir lernen, grundsätzlich die Komplexität der Signifikation „Frau“ offen zu halten. Wir sollten, so mein Vorschlag, aus der ontologischen Behauptung eine ethische Frage machen und die Haltungen entwickeln, die es uns erlauben, das Wort „Frau“ nicht (sozial)deterministisch und ontotheologisch absolut, sondern vielschichtig und gerade auch kausal offen zu gebrauchen. Das Ethische und Gerechte bildet dann die einzige Kausalität, die die Aussagen über Wirkungszusammenhänge des Geschlechtlichen leitet (s. Günter, Konzepte der Ethik, 2014, u.a. 107-123 u. 189-195).

Indem ich solche Vorschläge entwickle oder wie eingangs von der Theorie der Theorie spreche, bewege ich mich im Sinne des Radikalen Konstruktivismus in der Kybernetik Zweiter Ordnung. Diese besagt, dass eine „Konstruktion“ nicht unmittelbar als „ist“ wirksam ist. Zunächst ist das Konstruierende als Verhältnis und Haltung gegenüber dem „Ist“ wirksam. Nun stellen auch die Verhältnisse zu etwas, die Umgangsweisen mit etwas und die Haltungen gegenüber etwas, ein „Ist“ dar. Theoreme sind solche Verhältnisse zu, können wie gezeigt unterschiedliche Haltungen gegenüber etwas vorgeben.

Es sind die Haltungen, die den Ausgangspunkt allen menschlichen Tuns bilden und dieses leiten. Sie beeinflussen also, was ist, indem sie im Verhältnis zu etwas stehen und dieses Verhältnis steuern. Sie entscheiden aber nicht, was das „Ist“, wozu sie im Verhältnis stehen, ist. Hingegen zeigen sie an, dass wir verantwortlich dafür bleiben, welche Haltungen wir gegenüber dem „Ist“ einnehmen und welche Verhältnisse wir damit stiften.

Das aber kann uns keine Theorie vorgeben oder abnehmen, und schon gar nicht kann das eine Theorie über Theorien. Vielmehr können wir auch verstehen und praktizieren lernen, welche Theoreme welche Haltungen implizieren und uns für Theoreme entscheiden, die die Haltungen, die wir für angemessen halten, zu entwickeln erlauben.

Autorin: Andrea Günter
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 26.07.2016
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Fidi Bogdahn sagt:

    Immer wenn hier ein Beitrag von Andrea Günter erscheint, stürze ich mich in dieses geistige Getümmel, -wohlwissend aus meiner diesbezüglichen Erfahrung,
    dass ich von alledem, was ich da lesen werde, kaum etwas in herkömmlichem Sinn wirklich verstehe. Aber das macht mir nichts aus! Denn mitten in diesen Gedanken von Andrea Günter zu verweilen, erlebe ich oft als besondere Faszination:
    ich kann zwar nicht verstehen, bleibe trotzdem lesend stehen – losgelöst vom Anspruch verstehen zu müssen- und lausche hin…
    Irgendwie schein ich dannnn erreichbar zu sein für etwas Unsagbares, was mehr ist “als alle Vernunft”; und ich merke, wie ein Lächeln über mein Gesicht kommt.
    Am Schluß des Textes gibt´s dann doch was für mich, das ich (vielleicht erst jetzt??) ganz einfach verstehe:
    “Es sind die Haltungen, die den Ausgangspunkt allen menschlichen Tuns bilden und dieses leiten. Sie beeinflussen also, was ist, indem sie im Verhältnis zu etwas stehen und dieses Verhältnis steuern. Sie entscheiden aber nicht, was das „Ist“, wozu sie im Verhältnis stehen, ist. Hingegen zeigen sie an, dass wir verantwortlich dafür bleiben, welche Haltungen wir gegenüber dem „Ist“ einnehmen und welche Verhältnisse wir damit stiften.”

    Spannend, spannend…und danke!

  • Liebe Fidi,

    normalerweise bin ich zurückhaltend, was Kommentare meinerseits zu den Kommentaren zu meinen Texten betrifft. Diesmal durchbreche ich meine Haltung. Zum einen, um Dir für Dein inter-esse – inmittem-dazwischen-sein(s) – und Deine Treue und Geduld zu danken. Ich tue das diesmal, weil bei mir zum anderen ankommt, dass Deine Ausführungen auf besondere Weise das Inmittensein zelebrieren. Sie sind irgendwie passgenau zu meinen Aussagen.
    Darüber hinaus gehört dieser Text zu denjenigen, in den ich selbst noch dabei bin, meine Gedanken zu entwickeln. So hoffe ich, dass ich deutlich machen konnte, dass ich nicht die ultimative Metatheorie dafür, Geschlechteridentifikationsverhältnisse zu bestimmen oder auch bloß nur das Signifikat “Frau” zu vereindeutigen, vorschlagen werde. Ingrid Strobls “Frausein allein ist kein Programm” hat mir, als ich es zum ersten Mal hörte, sofort eingeleuchtet, weil es “Frausein allein” nicht gibt, denn Frausein ist immer genealogisch, damit welthaft…
    Im Gegenteil, meine Argumentation besagt, gerade davon, die letztgültige Metatheorie zu Geschlechterverhältnissen bestimmten zu wollen, muss Abstand genommen werden. Dazu nunmehr lädt gerade das genealogische Denken ein: Wir stehen immer inmitten von Theorementwicklungen ebenso wie inmitten von Individuierungsprozessen ebenso wie inmitten von purale Verhältnisse zusammenbindenden politischen Prozessen. Wir schauen dafür zurück, auf vorhandene Bestimmungen, Verhältnisse, Identitätsaussagen und Gemeinschaft generierende politische Taten, und aufgrund und in Form unserer Hoffnungen auf eine bessere Zukunft von der Zukunft her auf uns heute.
    Verrückterweise bindet genealogisches Denken beides geradewegs zusammen: Fragen der Konturierung von (menschlicher)Geschlechtsidentität mit den Haltungen gegenüber historischen Prozessen von Theorieentwicklung und damit Gemeinschaftsbildung.
    Als ich die Bedeutung dieser Konstellation verstand, entschied ich mich dafür, in der Philosophie heimisch zu werden, um diese Schnittstelle weiterentwickeln zu können. Und es stellt mich zufrieden, dass es mir immer wieder gelingt, für mich und auch einige andere das ein und andere klarer zu stellen. Ich hoffe, mein Text leistet einen weiteren Beitrag in diesem Prozess.

    Herzliche Grüße
    Andrea Günter

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