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Rubrik heilen

Immer nur völlig kraftlos, müde und erschöpft

Von Bettina Schmitz

Die Autorin erzählt, wie es ist, wenn der halbwüchsige Sohn plötzlich an ME/CFS erkrankt, einer Krankheit, von der die meisten Menschen gar nichts wissen.

Ich habe es häufig als sehr bereichernd empfunden, mit Kindern zu leben und gleichzeitig meiner Arbeit als Philosophin und Schriftstellerin, als Kursleiterin und Vortragende, als Auftretende und Vorlesende nachzugehen. Nicht immer konnte ich es auch genießen, denn es bedeutete viel Arbeit und viele Spannungen. Manchmal fühlte ich mich wie zerrissen, wenn ich aus einem Seminar in die Kindergruppe und dann nach Hause ging. Dabei habe ich jedoch viel darüber gelernt, wie wenig unsere Gesellschaft – trotz aller Beteuerungen – auf Kinder, und schon gar nicht auf deren Mütter eingerichtet ist.

Vor etwa zehn Jahren, 2009, begann ich, mit einem Teil dieser mütterlichen Verpflichtungen abzuschließen. Ich freute mich darauf, mehr Zeit für mein eigenes Tun zu haben, unabhängiger zu sein, wieder mehr meinen eigenen Tagesablauf leben zu können, länger an meinen Texten bleiben zu können. Unser jüngster Sohn besuchte damals die Oberstufe. Es bestand kein Anlass, daran zu zweifeln, dass er in zwei Jahren Abitur machen würde.

Kurz nach Schulbeginn Mitte September erkrankten kurz hintereinander unsere beiden Söhne an etwas, das wir für eine sehr heftige Grippe hielten. Länger als vierzehn Tage war noch niemand von uns am Stück krank gewesen. Als die beiden nach vier Wochen noch immer das Bett hüteten, wurden wir langsam unruhig. Blutuntersuchungen bestätigten den Verdacht auf das Eppstein-Bar-Virus. Das Semester begann und ich fuhr schweren Herzens, immerhin nur alle vierzehn Tage, nach München, wo ich mit Blick auf die neue Unabhängigkeit einen Lehrauftrag angenommen hatte. Das ging nur, weil es dem älteren zumindest so gut ging, dass er ein vorbereitetes Essen aufwärmen konnte. Die beiden verschliefen fast den ganzen Tag. In den wenigen wachen Stunden waren sie sehr schwach. Der Versuch des jüngeren, sich in die Schule zu zwingen, endete mit einem Zusammenbruch, glücklicherweise noch im Haus. Weihnachten waren sie noch immer nicht gesund.

Die Fahrt zum Hausarzt war eine Qual; beide waren extrem geräusch- und lichtempfindlich. Der Arzt meinte, da könne man wenig anderes tun als abwarten, verschiedene Zusatzstoffe ausprobieren, das Blut kontrollieren …; es war eine Zeit voller Unruhe und Sorgen. Wir hofften, sie würden einfach ihre eigene Zeit brauchen, um wieder gesund zu werden. Als es nach etwa einem Jahr dem älteren besser ging und er langsam wieder in das wachsen konnte, was wir für ein normales Leben halten, nährte das die Hoffnung, sein jüngerer Bruder würde ihm nachfolgen. Wie lange es tatsächlich dauern würde, das konnten wir uns damals nicht vorstellen. Wir wissen es auch heute noch nicht.

Der eigene Lebenskreis verengt sich – notgedrungen

Das Leben um uns herum stand und steht nicht still. Andere Menschen in unserem Umfeld und wir wurden ebenfalls krank und wieder gesund. Manche wurden auch nicht gesund und starben. Feste wurden gefeiert, Beerdigungen organisiert, Aufführungen standen bevor. Wann habe ich angefangen, das Leben ‚da draußen‘ als das ‚andere Leben‘ wahrzunehmen? Viele Termine konnte oder wollte ich nicht mehr wahrnehmen; manche Menschen hatten Verständnis für unsere Lage, andere nicht. Ich war gezwungen, mir ganz genau zu überlegen: Was ist wichtig für mich? Was möchte ich wirklich und von ganzem Herzen tun, und was ist entbehrlich? Dieselbe Frage musste ich mir für Freundinnen, Freunde und Bekannte stellen. Wer hat noch Platz in meinem Lebenskreis? Wer tut mir gut? An erster Stelle stand die Versorgung des Kranken – und auch für mich selbst zu sorgen, musste ich neu lernen.

Nach anderthalb Jahren war er immer noch krank, sein 18. Geburtstag lag hinter ihm. Ein mehrtägiger Versuch im darauf folgenden Sommer, gesund zu ‚spielen‘, endete wieder mit einem Zusammenbruch, von dem er sich einige Wochen lang erholen musste. An Rückkehr in die Schule war nicht zu denken. Dort wurden sie ‚langsam‘ ungeduldig. Jede übermäßige Anstrengung, und sei sie auch noch so klein – zum Beispiel ein längeres Gespräch –, verstärkte die permanenten Kopf- und Muskelschmerzen, die Schwäche. Schwindel und Herzrasen waren die Folgen. Hinzu kam, dass jede minimale Überanstrengung eine unverhältnismäßig lange Erholungszeit nach sich zog. Hausarzt, Ergotherapeutin, Psychotherapeutin, lange Gespräche mit befreundeten Ärzt*innen – niemand konnte wirklich helfen. Was könnte man tun? Blutuntersuchungen gaben wenig Hinweise. Heilpraktikerin, astrologische Beratung, Ernährungsberatung, Energiemedizin, wir probierten viel. Die meisten Menschen, mit denen wir sprachen, waren betroffen, engagiert, voller Ideen und doch ratlos. Ein Internist kannte sich etwas besser aus, konnte uns viel über den Stoffwechsel der Erkrankten erklären, doch die lange Liste an einzunehmenden Stoffen umzusetzen, war für den immer noch äußerst schwachen Patienten nicht möglich. Das meiste davon vertrug er nicht. Gab es überhaupt etwas, das er, das wir tun konnten?

Das Geräusch der Schnecke beim Essen

Mittlerweile hatte ich meine Mutter beerdigt und ein Jahr später meinen 50. Geburtstag gefeiert, groß, was ich noch nie getan hatte. Ich konnte ja nur noch sehr eingeschränkt verreisen und entschloss mich, all meine Freund*innen, Kolleg*innen und Verwandten zu mir zu holen und sozusagen mit einem weinenden Auge, aber doch zu feiern. Zu dieser Gelegenheit bekam ich das Buch „Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“ geschenkt. Danke Ursula! Der Hausarzt hatte ein ‚Chronisches Erschöpfungssyndrom‘ diagnostiziert. Was das genau bedeutete, erlebten wir zwar, hatten aber letztlich keinen Begriff davon. Die meisten Ärzte übrigens auch nicht. Elizabeth Tova Bailey, die Autorin der ‚Schnecke‘ berichtet von einem Krankheitsverlauf, der uns sehr bekannt vorkam. Auch die Ratlosigkeit, die uns befiel, weil wir ‚nichts‘ oder wenn, dann nur sehr vorsichtig etwas tun konnten und können, kannten wir aus eigenen Erfahrungen. Die Langsamkeit der titelgebenden Schnecke war ein passendes Bild für den Lebensrhythmus, an den auch wir uns mit unserem Sohn hatten gewöhnen müssen.

Dieses Buch ist in erster Linie eine wunderbare Erzählung, für die die Erkrankung der Ich-Erzählerin / Autorin den Rahmen abgibt. Am Schluss fand ich wichtige Hinweise, allen voran im deutschsprachigen Raum den Verein Fatigatio e.V. Wir waren also nicht allein. Die Krankheit bekam einen Namen: ME/CFS. Es gibt Listen von Symptomen und eine Skala der Einordung von deren Schwere. Alles, was wir dort fanden, passte nur allzu gut auf den Zustand unseres Sohnes. Warum aber wusste niemand, mit dem wir zu tun gehabt hatten, davon!? Kein Arzt, keine Ärztin, niemand beim Gesundheits- oder beim Versorgungsamt?

Die Autorin mit dem T-Shirt der Aktion #Millions Missing, die auf die Millionen Menschen aufmerksam macht, deren Krankheit von der medizinischen Forschung bisher kaum berücksichtigt wird. Foto: privat

Die Krankheit ist seit Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt, in den 1960er Jahren bekam sie die Bezeichnung Myalgische Enzephalomyelitis (ME). Später führte der neue Name Chronisches Fatiguesyndrom (CFS), auf Deutsch manchmal auch Chronisches Müdigkeitssyndrom, eher zu einer Verharmlosung und zu einer Ablenkung von den in erster Linie körperlichen Symptomen und Ursachen. Seit 1992 ist die Krankheit international offiziell anerkannt. Aber was bedeutet das? Sowohl die lange Zeit gültige Empfehlung von Training sowie Psychopharmaka sind häufig kontraindiziert und, folgt man den Erfahrungsberichten, nicht nur nicht hilfreich, sondern manchmal sogar richtig gefährlich. Erst 2019 wurde in Deutschland vom Robert Koch Institut die Empfehlung ausgesprochen, CFS/ME wieder als physiologische Erkrankung zu führen.

Häufig beginnt CFS/ME mit einer Virusinfektion, von der man sich nicht mehr erholt. Es sieht so aus, als könne es jeden treffen – viele der Erkrankten waren sogar besonders sportlich. Derzeit versteht man sie als eine Autoimmunerkrankung. Es ist als ob das Immunsystem eine Art Schock oder Traumatisierung erlitten hat und sich davon nicht mehr oder nur sehr schwer erholt. Im Verlauf kommt es manchmal zu kleineren Verbesserungen. Manche Betroffene können einige Stunden arbeiten oder zumindest das Haus für einen kleinen Spaziergang oder zum Einkaufen verlassen. Andere sind vollständig ans Bett gefesselt, müssen in abgedunkelten und schallisolierten Räumen liegen, können sich nur flüsternd oder durch ausgeklügelte Zeichen verständigen, müssen gefüttert oder künstlich ernährt werden, weil der Körper selbst dafür zu schwach ist. Unser älterer Sohn ist inzwischen vollständig genesen und kann ein eigenständiges Leben führen. Die Gründe dafür sind ebenfalls unbekannt.

Nichts zu tun ist manchmal das Beste

„Was ich tun kann. Nicht viel“ – mir fällt Ute Schiran ein, die diesen Satz in ganz anderem Zusammenhang geschrieben hat. Unser Sohn hat gelernt, besser mit seiner Schwäche umzugehen und seinen kleinen Handlungsspielraum nur hin und wieder zu Testzwecken zu überschreiten. Wir haben gelernt, dass diese Methode ‚Pacing‘ genannt wird. Wir sind froh, dass er sich alleine im Haus bewegen kann, dass er die Körperpflege mit kleinen Vorbereitungen unsererseits meist alleine bewältigt. Sich selbst ein Essen zuzubereiten, ist eine zu große Anstrengung, doch immerhin kann er eine vorbereitete und klein geschnittene Mahlzeit selbstständig essen, nur manches püriere ich. Und auch kleine Gesprächsrunden sind mittlerweile möglich, sowie – nicht allzu häufig – Besuche von Freund*innen, nur eine, maximal zwei und natürlich nicht zu lange. Seit einigen Jahren geht er regelmäßig nach draußen in den Garten. Das Licht verträgt er mittlerweile etwas besser als zu Beginn der Erkrankung. Fünf Minuten kann er gut verkraften, wenn es draußen nicht zu laut ist. Alle paar Monate versucht er, einen längeren Spaziergang zu unternehmen und schafft fünfzig bis hundert Metern in seinem Schneckentempo (15-20 Minuten). Bisher konnte er das noch nicht in die wöchentliche Routine integrieren. Wenn er eine Viertelstundebei uns sitzt – wirkt er ein bisschen blass und ruhig, aber sonst ‚ganz normal‘ Wir dürfen nur nicht zu sehr durcheinander reden und auf keinen Fall hektisch sein.

Seinen Tagesablauf hat er gut strukturiert. Er schläft längst nicht mehr so viel wie zu Beginn der Erkrankung, ca. zwölf Stunden Nachtruhe braucht er mindestens. Leider ist der Schlaf selten erholsam. Einen großen Teil des Tages kann er in einem Sessel sitzend verbringen. Soweit es möglich ist, nimmt er am politischen und intellektuellen Leben teil und er findet sich auch im Internet zurecht. Da das Lesen längere Passagen eine zu große Anstrengung bedeutet, bieten Podcasts und Hörbücher willkommene Abwechslung. Auch Filme, Sportübertragungen, sogar Computerspiele sind – in kleine Einheiten aufgeteilt – als Zeitvertreib möglich.

Nach zehn Jahren haben wir immerhin die Anerkennung einer Schwerbehinderung erreicht. Das war so mühsam, dass wir auf weitere Schritte vorerst verzichtet haben. Die hierfür notwendigen Termine sind für unseren Sohn extrem anstrengend und für uns bedeuten sie zusätzliche Arbeit. Der erste Antrag wird in der Regel abgelehnt, dann meist noch einmal. Das nährt in mir die Vermutung, die zuständigen Stellen würden darauf hoffen, dass die Betroffenen unterwegs aufgeben und sich nicht zu einer Klage entschließen. Eine weitere und zugleich verletzende Hürde ist, dass uns immer wieder Simulation unterstellt wird.  

Ich will hier nicht ausführlich über unsere Erfahrungen mit Ämtern und manchen Ärzt*innen schreiben, darüber, was es bedeutet, wenn eine Krankheit nicht in die vorgegebenen Raster passt oder wenn die Therapieempfehlungen schlichtweg falsch und kontraproduktiv sind. Meine Erwartung, dass es für solche Fälle Notfallpläne gibt, hat sich nicht bestätigt. Es sei denn man wählt den Notfallplan ‚Klage‘. Aber wann sollen wir das tun in einem Alltag, in dem wir ohnehin aufs Äußerste herausgefordert sind? Unseren Kampf um den Hausbesuch eines Arztes habe ich in einer Art langem Gedicht beschrieben. Wieso überhaupt Kampf? Wir hätten doch Verständnis und Unterstützung gebraucht, brauchen sie noch immer. Von verständnisvoller Betroffenheit bis hin zu geradezu böswillig wirkendem Nichtverstehen – oder bequemem Nichthinsehenwollen – ist uns alles begegnet. Klar, die Schule, die Ärzt*innen, die Sachbearbeiter*innen, sie stehen auch unter den Zwängen ihrer Arbeit. Von einem ‚hochdekorierten‘ Neurologen musste ich mir sagen lassen, dass es wohl an mir liegen müsse, weil ich meinen Sohn nicht loslassen könne. Es sei ja nicht normal, rief er aus, dass ein Sohn in diesem Alter noch zuhause wohne. Dass ich daraufhin seine fachliche Autorität anzweifelte, war auch nicht förderlich. Im folgenden Arztbrief fand ich mich dann falsch zitiert und die Anwesenheit meines Mannes und Vaters des erkrankten Sohnes mit keinem Wort erwähnt. Ich hatte den Eindruck, das geschah, damit wir ‚verrückter‘ wirken. Nun konnte ich verstehen, dass manche Eltern minderjähriger Kinder mit dieser Erkrankung, leider vor allem alleinerziehende Mütter, Gefahr laufen, das Sorgerecht entzogen zu bekommen. Es gibt herzzerreißende Berichte über die Situation, in England zum Beispiel den sehr berührenden Film „Voices from the Shadows“. Zuhause sind die Patientinnen und Patienten meist am besten aufgehoben, denn es gibt keine Kliniken oder sonstige Orte, die darauf eingerichtet wären, Menschen mit ME/CFS zu betreuen. Deren spezielle Sensibilität, die in schweren Fällen zu völliger Licht- und fast vollständiger Geräuschintoleranz führt, macht dies weitgehend unmöglich.

Neben Verzweiflung und Trauer auch Lebensfreude und Glück

Kürzlich habe ich über eine Frau gelesen, die mit etwa zehn Jahren erkrankt ist und nun auf dreißig Jahre Krankheit zurückblickt. Auch in einem solchen Leben gibt es neben Verzweiflung und Trauer Lebensfreude, Humor und sogar so etwas wie Glück. Wir haben mit unserem Sohn gelernt, von einem auf den anderen Tag zu leben. Geduldig zu sein. Uns nicht länger als unbedingt nötig mit Ämtern herumzuärgern, auf uns und vor allem auf unseren Sohn zu hören. Meist weiß er bei aller Ratlosigkeit der Situation gegenüber am besten, was ihm gut tut. Da wir kaum reisen und auf gesunde Ernährung achten, er viele Chemikalien nicht verträgt, sei es im Essen oder etwa in flüssiger Seife, leben wir relativ umweltverträglich. Das einzige ist, dass ich deutlich mehr Wege als früher mit dem Auto zurücklege, da ich ihn zwar alleine lassen kann, aber nicht allzu lange: maximal ein oder zwei Mahlzeiten können vorbereitet werden.

Wie mit einem Brennglas zeigt diese Krankheit, dass es eine Illusion ist, in Autonomie zu leben. Tatsächlich sind wir alle aufeinander angewiesen. Nur sind das Leben und der Alltag heute so organisiert, dass wir die Abhängigkeit nicht so deutlich spüren. Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass wir für diejenigen sorgen, die Fürsorge benötigen, einige mehr, andere weniger, und damit wären wir mitten in der aktuellen Care-Debatte.

Auch wenn ich mir diese Nähe von Mutter und Sohn nie so gewünscht habe, so ist es auch schön, mit ihm zusammen zu sein. Er ist ein angenehmer, freundlicher und kluger Patient. Seine Erkrankung entschleunigt unseren Alltag und ich habe zuhause sozusagen gratis ein Schweige-Retreat, gegen dessen Gebote ich immer wieder mal verstoße. Er erinnert mich dann freundlich, wenn es ihm zuviel wird. Er spürt es sofort, wenn ich Hektik von draußen mitbringe. Mittlerweile fällt es mir selbst auf und ich atme ein paar Mal tief ein und aus, bevor ich zu ihm gehe. Ich weiß, dass ich nicht einfach drauflos reden darf, sondern warten muss, bis er signalisiert, dass er die Eindrücke des Sprechens auch verarbeiten kann. Soweit es ihm möglich ist, nimmt er – übers Internet – am politischen und geistigen Leben teil. Manchmal hat er ein Interview, einen Artikel oder einen Buchtipp für mich. Die seltenen Gesprächsmöglichkeiten entschädigen mich durchaus für das philosophische Oberseminar, an dem ich schon lange nicht mehr teilnehme. Dann denke ich mir: was könnte er nur alles tun und erreichen, wenn er wieder rauskönnte, wenn er aktiver sein könnte. Auch den Kontakt zu seinen Freund*innen hat er gehalten und sie scheinen die wenigen Gespräche, die mit ihm möglich sind, ebenso interessant zu finden wie wir.

So sehr das, was geschehen ist, dem ähnelt, was man als ‚Schicksalsschlag‘ bezeichnet, so sehr waren wir uns doch auch bewusst, dass wir in einer relativ privilegierten Situation leiden. Wir sind nicht auf der Flucht. Wir haben ein Dach über dem Kopf. Und auch wenn wir das nie so geplant hatten, reicht der Verdienst meines Mannes zur Zeit für uns drei aus. Wir wussten vorher, dass das Leben nicht immer glatt und leicht geht, dass es viele herausfordernde Lebenssituationen gibt. Dies selbst zu erleben ist allerdings eine andere Sache, zu der glücklicherweise die Erfahrung gehört, dass in diesem Leid auch manche Schätze verborgen sind. Meine Demut gegenüber Situationen, die nicht zu ändern sind, ist gewachsen. Das kommt mir und auch meiner philosophischen Praxis zugute, in der ich Menschen in schwierigen Lebenssituationen begleite. Ich habe gelernt auszuwählen und möglichst nur Dinge zu tun, die ich als wesentlich empfinde. Soweit möglich, habe ich die Herausforderung, den Schmerz, genutzt, um daraus zu lernen und mich weiter zu entwickeln. So wie auch unser Sohn es tut, selbst wenn er nicht viel davon nach außen tragen kann. Statt seines Abiturs sollte er ein ME/CFS-Diplom bekommen! Und ich habe gelernt, milder mit mir umzugehen, nicht immer alles machen zu müssen, mir Pausen von, Nichtstun, Faulsein, Vor-mich-Hingucken zuzugestehen. Die Schönheit der Welt schätzen.

Auch mein Schreiben ist nach dem ersten Schock wieder gewachsen. Ich hatte schon immer autobiographische Passagen in meinen Texten. Doch diese Erfahrung hat meine Sprache in der ersten Zeit völlig überfordert. Es war wohltuend, nach einer Weile Worte dafür zu finden. Mit seinem Einverständnis erwähne ich hin und wieder einen kranken Sohn, der in den Texten Jonathan heißt. Es bleibt ja immer mein Blick auf ihn, den ich da beschreibe. Gerade auf solche Passagen kamen Rückmeldungen von Müttern, denen es ähnlich geht oder von Leser*innen, die mehr darüber erfahren wollen. So ist, beeinflusst von den Erfahrungen mit Jonathan, der Gedichtband LÄCHELN WEBEN LEBEN WELT entstanden.

Etwa 250.000 – 300.000 Menschen in Deutschland sind an dieser Schwäche erkrankt. Ein Viertel aller Patienten kann das Haus nicht mehr verlassen, viele sind bettlägerig und auf Pflege angewiesen. Schätzungsweise über 60 Prozent können nicht mehr arbeiten. Was bedeutet diese Krankheit? Darauf gibt es keine endgültige Antwort. Wenn ich das Wort Erschöpfung höre, fällt mir auch ein, was wir Menschen der Erde – hauptsächlich zu unserem eigenen Schaden – antun. Energie scheint auf allen Ebenen ein Problem zu sein. Manchmal denke ich mir, dass so viele Menschen so übermäßig, ja überdreht aktiv sind, dass andere zum Ausgleich umso ruhiger sein müssen. Es gibt Menschen, die unter den Symptomen der Schwäche noch viel stärker leiden als Jonathan. Doch es gibt auch viele erschöpfte Menschen, die nicht wie er bei 20 %, sondern vielleicht bei 60 % oder sogar 80 % ihrer Fähigkeiten auf der Bell-Skala liegen und doch auch um ihren Alltag, die Anerkennung ihrer Schwierigkeiten und um Hilfe kämpfen. Auf alle Fälle ist diese Krankheit, bei der Nicht-Handeln oft die gesündeste Strategie ist, eine Herausforderung:  für die Medizin und für unsere Einstellung zu ‚Aktivität‘. Das hilft den Patient*innen zwar nur ein wenig, jedoch enthält gerade dieses Krankheitsbild auch einen wichtigen Kommentar zu Entwicklungen, die in unserer Gesellschaft falsch laufen. Es lohnt sich, auf die Schwächeerkrankten genau einzugehen, hinzuschauen, wie ein guter medizinischer Gutachter (einen solchen haben wir auch erlebt) und ihre Botschaft zu hören. Und es ist wichtig, den Schmerz zu sehen, zu empfinden, ihn zu respektieren und ein Stück weit mitzutragen. Wie hilfreich das ist, gerade wenn man sonst wenig tun kann, habe ich neulich in einem Kurs gemerkt, als ich davon erzählte.

Es gibt keine Standardtherapie für die Krankheit und auch kaum Spezialärzte, wobei für viele Betroffene noch immer das Problem besteht, wie überhaupt ein Arzt/Ärztinnen-Kontakt zustande komm. Zur CFS/ME-Sprechstunde an der Charité in Berlin oder der Kindersprechstunde für CFS/ME in einer Münchner Klinik muss man reisen und abwägen, ob der Schaden der Anstrengung oder der Nutzen von Diagnose und Beratung, ev. sogar Therapie, größer ist. Ansprechpartner*innen sind also überwiegend Hausärzt*innen, die meistens ohnehin an der Grenze ihrer eigenen Belastbarkeit arbeiten und wenig Spielraum für Hausbesuche haben.

Ist es nicht immer ein Maß für die Qualität, die Güte (!) einer Gesellschaft, wie sie, wie wir mit den Schwächsten umgehen. Haben wir dieses Maß verloren?

dieses Leben

dieses schöne Leben
dieses grausame Leben
dieses zwiegespaltene Leben

was sagen uns diejenigen,
die es nicht so leben können,
wie wir uns einbilden,

dass es zu leben wäre;

dieses Leben

die es nicht so kraftvoll
und überschäumend leben,
wie sie es gerne wollen

und was tun diejenigen,
die das können?

in: Bettina Schmitz, LÄCHELN WEBEN LEBEN WELT

Mehr Infos:

Ende März 2020 fand in Würzburg, der Stadt, in der die Autorin lebt, – wegen der aktuellen Corona-Situation nur übers Internet – für Betroffene und deren Angehörige ein Treffen zur Bildung einer Selbsthilfegruppe ME/CFS statt; weitere Informationen darüber über: Fatigatio e.V., Bundesverband Chronisches Erschöpfungssyndrom

Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e.V.       

Lost Voices Stiftung – Hilfe für Menschen mit ME/CFS   

Internationale Bewegung #Millionsmissing. Diese organisiert am 12. Mai 2020 den Internationalen Tag ME/CFS mit der Aktion #Millions Missing, der 2019 reges Medienecho gefunden hat.

CFS-Ladestation, der Blog einer Betroffenen.

Elizabeth Tova Bailey, Das Geräusch einer Schnecke beim Essen, Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2012, 171 Seiten, 16,90 Euro.

Bettina Schmitz, LÄCHELN WEBEN LEBEN WELT, Gedichte, Bilder von Traute Schneider-Zech, éditions betweena, Würzburg 2019, Privatverlag, .

Ute Schiran, Lilith und Mermaid begegnen einander. Knochengesang. Schicht, 2. Aufl. 2007, Privatdruck, Vertrieb über Lillemors Frauenbuchladen München, viertletzte Seite.

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Susanne Voß sagt:

    Liebe Bettina Schmitz,

    eine große Hilfe habe ich für mich durch die Ernährungsempfehlungen des Heilers Anthony William gefunden, eines seiner Bücher MEDICALFOOD ist sehr aufschlussreich, was das Entstehen von Krankheiten betrifft, die Heilung, das Entgiften, etc..Für mich ist der Inhalt des Buches bahnbrechend und die Anwendung der Empfehlungen ebenso in der Wirkung. Zum Pfeifferschen Drüsenfieber= EBV gibt es viel Information darin auch.
    Dr. Joachim Mutter, in Konstanz hat viele Zusammenhänge herausgefunden.

    Hinter mir liegt eine Zeit von ca. 18 Jahren im Erschöpfungszustand, der einige Krankheiten zur Folge hatte. Diagnose wurde gestellt von Dr. Eustachi im Kompetenz-Zentrum für Komplementärmedizin und Naturheilweisen, München, Kaiserstraße, gehört zum Klinikum Rechts der Isar.

    Die sogenannte normale Medizin ist noch nicht soweit, Ursachen von Krankheiten zu erkennen. Es werden in der Regel nur Symptome mit Hilfe der Pharmazie behandelt. Auf der Homepage chronisch krank natürlich gesund, von Kristina Fredriksson gibt es viel Hilfe, sie war unter anderem auch selber mit EBV erkrankt.
    Alles Gute
    Susanne Voß

  • Dr. Gisela Forster sagt:

    Ein berührender Artikel.

    Der Sohn meiner Freundin hat die gleich Krankheit. Das Abitur hatte er noch geschafft, danach sogar eine Lehre abgeschlossen und im Anschluss noch ein Studium absolviert.

    Dann stülpte sich die Erschöpfung über ihn und er konnte nichts mehr arbeiten und keine Aktivitäten mehr zeigen.

    Die Familie hat ihn so akzeptiert, wie er ist. Alle nehmen sehr viel Rücksicht und versuchen, mit ihm in gutem Kontakt zu sein und mit ihm in Liebe verbunden zu bleiben.

    Für uns Freundinnen und Freunde gibt es auch keine andere Möglichkeit. Auch wir müssen uns sagen: Er ist so – und es ist gut so wie es ist. Es ist sein Leben. Wir stehen am Rande. Wir sind ferne Begleiterinnen und Begleiter – in freundschaftlicher Verbundenheit mit der ganzen Familie.

  • Bettina Schmitz sagt:

    Liebe Susanne Voß, vielen Dank für Ihre Hinweise. Ja, Anthony Williams war auch für uns hilfreich; Selleriesaft begleitet uns seitdem und wir haben die Ernährung in diesem Sinne umgestellt und zwei Fastenrunden nach AW absolviert. Es war eine der Empfehlungen, die zumindest nicht geschadet haben und vielleicht sogar ein wenig erleichtert. – Nicht erwähnt habe ich die A-logische Erlösungsarbeit nach Gabriele Schliesser, von der unser Sohn nicht besonders überzeugt ist, die mir jedoch sehr geholfen hat. – Ich selbst bin BodyTalk-Anwenderin und auch diese Methode hilft ein wenig; ich bin sogar durch unseren Sohn auf diese Ausbildung gekommen, die mich sehr bereichert, auch wenn es mich manchmal ärgert, dass selbst diese tolle Methode ihn noch (!)nicht gesund gemacht hat. Danke für Ihre Wünsche! – Liebe Frau Dr. Forster, auch Ihnen ganz herzlichen Dank für Ihre Wünsche und Ihre mitfühlenden Worte, herzlich, Bettina Schmitz

  • Dorothee Markert sagt:

    Liebe Bettina, danke dass du diese Erfahrungen aufgeschrieben hast. Beim Lesen liefen mir die Tränen, zuerst aus Mitgefühl für euren Leidensweg, aber dann auch, weil ich so berührt war von deiner Haltung zu dem, was euch da passiert ist, wie du es annimmst und das Beste daraus machst.

  • Johanna Helen Schier sagt:

    Bei allem Respekt vor Ihren Leistungen in jeder Hinsicht
    und Ihrer besonderen Lebenslage: Ich persönlich fühle mich nach dem Lesen Ihres Beitrags erschöpft.

Weiterdenken