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Rubrik denken

Was Sicherheit gibt, und einige offene Fragen

Von Anja Boltin

Die Zeiten, in denen wir leben, sind für viele Menschen hart, chaotisch und frustrierend. Der/die Einzelne ist je auf ganz unterschiedliche Art und Weise von Belastungen betroffen. Wahrscheinlich sind diese Zeiten wiederum für andere Menschen auch aufregend, inspirierend, voller Hoffnungen und süßer Versprechen. Irgendwie fasziniert mich die Vorstellung, dass es einen Standpunkt gibt, eine Art Aussichtsplattform der Weisheit, von wo aus man erkennen kann, dass das Leben schon immer ganz genau so war und nur die konkreten Erscheinungsformen sich immer und immer wieder wandeln. Dass das Leben zwar ständig die Kleider und die Moden wechselt, aber im Grunde, dem Wesen nach und vom Herzen her gedacht, bleibt etwas vielleicht doch immer genau gleich? So wie das Ein- und Ausatmen zwar eine Bewegung ist, der Mensch selbst (bzw. sein Geist) dabei aber ganz unbewegt und in vollkommener Stille sein kann. Vielleicht wandert das Bewusstsein der Menschen mit all seinen Potentialen und seinem Erkenntnisvermögen lediglich immer wieder durch Phasen oder Stadien bzw. Themenfelder hindurch und diese Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Phasen führt eben dann zu all dem Kommunikationschaos, das uns oft so schmerzt und manchmal hilflos macht. Wir können sowohl als Betroffene frustrierender Konflikte als auch als Beobachtende darunter leiden, wenn auch sicher in ganz unterschiedlichem Maße.

Wenn ich etwas für unsere Zeit Typisches zu greifen versuche, dann drängt sich mir das Wort Verunsicherung auf. Viele Menschen wirken verunsichert und haltlos. Viele zwischenmenschliche Probleme, die sich aktuell zeigen, scheinen mir als Symptome von Verunsicherung leichter verständlich zu werden. Deshalb habe ich mir mal ein paar Gedanken zum Thema Sicherheit, zum inneren Erleben des Gefühls von Sicherheit, gemacht. Im Grunde hat das erlebte Gefühl von Sicherheit einen Namen. Es nennt sich Vertrauen. Wir vertrauen dort, wo wir uns sicher fühlen, sicher im Sinne von beschützt, aber auch sicher im Sinne von gut in der Welt orientiert und handlungssicher. Nennen wir doch diese beiden Arten von Vertrauen (a) passives und (b) aktives Vertrauen. In spirituellen Kreisen spricht man da auch gern von der Yin- und der Yang-Energie. Yang wäre dann das aktive Vertrauen (gut orientiert und handlungssicher) und Yin das passive Vertrauen (geborgen und beschützt). Dadurch, dass wir traditionell dazu neigen, Yin und Yang, die aktive und die passive Vertrauensenergie, mit weiblich und männlich zu assoziieren, sind viele unpassende Vorstellungen in die Welt gekommen. Man stellt sich diese zwei unterschiedlichen Energien doch besser wie das Ein- und Ausatmen vor. Eines allein ist sinnlos und existiert in lebendigen Wesen nie ohne das andere.

In meiner Vorstellung und aufgrund meiner Erfahrungen gibt es zudem mindestens vier unterschiedliche Arten oder Qualitätsunterschiede, wodurch wir uns bezogen auf die Welt sicher, d.h. gut orientiert und/oder beschützt fühlen können. Ich habe diese vier Arten bzw. Qualitäten der “inneren Sicherheit” mal folgendermaßen benannt:

Persönlich
(1) Sicherheit durch eine gute bzw. angemessene Führung (Prinzip König/Königin)
(2) Sicherheit durch Begegnung auf Augenhöhe (Prinzip Schwester/Bruder) und

Überpersönlich
(3) Sicherheit durch ein Glaubenssystem (Prinzip außerweltliche oder nicht sichtbare Führung)
(4) Sicherheit durch schriftlich fixierte Regel- oder Rechtssicherheit. (Prinzip innerweltliche oder sichtbare Führung)

Ich wünsche mir, dass wir alle wieder lernen, alle vier Formen als gut und notwendig zu würdigen. Alle enthalten Aspekte von CARE, von Fürsorge. Manche Menschen scheinen aber einigen dieser Prinzipien stärker zu misstrauen und andere wiederum als alleinigen Heilsweg zu idealisieren. Kritisieren sollten wir dann lieber den Mißbrauch auf jeder dieser Ebenen anstatt uns gegenseitig zu bekriegen, weil unsinnige Alternativen unbewusst und vielleicht auch traumabedingt noch in unseren Körpererfahrungen stecken. Ich glaube, die Erfahrungen, die unsere Körper lebenslang, ab dem ersten Atemzug gemacht haben, aber auch die Traditionen und Bewertungen, die uns weitergegeben wurden, bestimmen unsere Weltsicht, unser Denken und sogar unser Sprechen, unsere Wortwahl. Unsere zutiefst menschliche Fähigkeit zur Reflektion, zur Weiterentwicklung und zum Austausch miteinander ist unsere Chance, bisher gesteckte Grenzen zu überschreiten und aktuelle Konflikte weiter zu befrieden.

Die ersten beiden Formen sind in persönliche, quasi nur “in Echtzeit” lebendig zu gestaltende Beziehungen eingebettet und dadurch auch etwas störanfälliger für Konflikte, Missverständnisse, persönliche Animositäten und letztlich auch für Kontaktabbrüche, die in sich selbst einen großen Unsicherheitsfaktor darstellen. Diese Formen setzen, um der/dem Einzelnen Schutz und Sicherheit zu gewährleisten, ein hohes Maß an Beziehungsfähigkeit, sozialer bzw. Rollenkompetenz und auch innerer Klarheit voraus. Die dritte und vierte Form sind da sehr viel unpersönlicher, teils robuster, benötigen dafür aber einen gewissen Kontrollaufwand und konkrete, meist schriftlich fixierte Regeln oder Gesetze und auch die halbwegs bewusste/gemeinsame Anerkennung dieser Gesetze. Die Notwendigkeit, Regeln zu fixieren, damit das Sicherheitssystem überpersönlich und beziehungsunabhängig funktioniert und nutzbar wird, wird mit einem gewissen Verlust an Spontaneität, Flexibilität bzw. Schöpferkraft erkauft, weil in “Echtzeitbeziehungen” auf ein schier unerschöpfliches Reservoir an Kreativität und Phantasie zurückgegriffen werden kann um Beziehungen spontan zu gestalten und stabil zu halten, während das bei fixierten und für alle Beteiligten zu jedem Zeitpunkt einsehbaren Regeln nicht der Fall ist.

Allen Formen gemeinsam ist das Angewiesensein auf eine je wechselseitige Anerkennung der Rollen oder Regeln durch die beteiligten Menschen. Damit Vertrauen und damit das hier betrachtete Sicherheitsempfinden gewährleistet ist, sollte die Grundlage dieser Anerkennung in jedem Fall von Respekt getragen sein. Respekt vor den Beteiligten Akteuren UND Respekt vor der strukturierenden, Ordnung schaffenden Natur dieser zwischenmenschlichen Sicherungssysteme.

Die ersten beiden, stärker beziehungsorientierten Formen unterscheiden sich durch die im ersten Fall vorhandene, im zweiten Fall nicht vorhandene Hierarchie innerhalb der Beziehung. Der “König” oder die “Königin” ist per Definition in einer übergeordneten Position, kann also ein Elternteil, ein Lehrer, Ausbilder, Vorgesetzter oder Seminarleiter sein. Entweder qua Generationengrenze oder für eine bestimmte Zeit übernimmt eine Seite – der König/die Königin – eine führende bzw. anleitende Rolle, während der/die andere sich, die unterschiedlichen Rollen akzeptierend, eine zeitlang anleiten und führen lässt. Hierarchie ergibt sich hier aus einem faktisch vorhandenen, prinzipiell überprüfbaren Generationen-, Status- und/oder Kompetenzunterschied. Führend ist die Person, die einen wissens- oder altersmäßigen Vorsprung hat oder – durch welches Prozedere auch immer – zur Führungsperson bestimmt wurde. Es ist wünschenswert, dass auf beiden Seiten ein Einverständnis über diese Rollenverteilung existiert und dass beide Seiten ihren Part auch zu schätzen wissen und ihn angemessen ausfüllen. Zu schätzen wissen sie ihn genau dann, wenn beide Seiten, jeweils gut und realistisch im Kontakt mit den eigenen Bedürfnissen, Fähigkeiten und Möglichkeiten, einen direkten Gewinn für sich selbst spüren können und somit keine Motivation besteht, den anderen in eine Rollenkonfusion hineinzulocken. Es kann sowohl befriedigend und sinnstiftend sein, die eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen kraftvoll zu erfahren, wenn man Verantwortung trägt und diese zum Wohle der/des Anvertrauten nutzen kann als auch die Sicherheit zu fühlen, die damit verbunden ist, sich vertrauensvoll in die Hände einer kompetent (an)leitenden und Halt bzw. Orientierung gebenden Person zu begeben.

Die zweite Variante, die Schwestern- oder Bruderschaft, kennt keine Hierarchie oder vorgegebene Rollenverteilung. Und wenn doch, dann entstehen Momente der wechselseitigen Über- oder Unterlegenheit nur kurz und situationsbedingt und zerfallen auch schnell wieder. Diese Art der Beziehung findet auf Augenhöhe statt und es gilt prinzipielle Gleichrangigkeit. In hierarchiefreien Beziehungen ist es den Beteiligten geradezu ein Bedürfnis, entstehende Ungleichgewichte bewusst und aktiv wieder auszugleichen, da das Prinzip Bruder- bzw. Schwesternschaft an Reiz verliert, sobald sich ungewollt oder unreflektiert über einen längeren Zeitraum Über- oder Unterlegenheitsgefühle einschleichen. Das betrifft im Alltag z.B. Freundschaften und Liebesbeziehungen, aber auch kleine gesellschaftliche und/oder spirituelle Gemeinschaftsexperimente, die in der Geschichte mehr oder weniger erfolgreich funktioniert haben. Auch diese Variante verlangt, um wirksam Sicherheit bzw. Geborgenheit zu vermitteln, ein hohes Maß an sozialer und emotionaler Kompetenz, mehr noch als das in hierarchisch strukturierten Beziehungen der Fall ist. Zusätzlich zu der Fähigkeit, angemessen sachbezogen mit dem Gegenüber kommunizieren zu können, braucht man hier auch eine deutlich ausgeprägte Konfliktfähigkeit. Unstimmigkeiten und Meinungsunterschiede lassen sich dann nämlich nicht mehr “qua Hierarchie” klären, sondern müssen im Konsens der Beteiligten geklärt werden, soll die Beziehung auf Augenhöhe gelingen und erhalten bleiben. Dazu benötigt man zum Beispiel die Fähigkeit, nach Streit wieder aufeinander zuzugehen und versöhnlich einzulenken, sich glaubhaft für verletzendes Fehlverhalten zu entschuldigen, zu erkennen, wann Augenhöhe und Vertrauen in Gefahr oder gar schwer beschädigt sind und auch die Fähigkeit, verlorengegangenes Vertrauen wiederzugewinnen, notfalls auch die Fähigkeit zur Grenzziehung und zum bewussten Beenden der Beziehung, wenn Augenhöhe nicht länger wiederhergestellt werden kann. All das ist in hierarchisch organisierten Beziehungen weniger relevant, weil Entscheidungen eindeutiger nach dem Willen des ranghöheren Akteurs geklärt werden (können), was als Mittel zur Erhaltung von Augenhöhebeziehungen per Definition weder ratsam ist noch funktioniert und regelhaft in destruktive Machtkämpfe mündet.

Die Rechtssicherheit ebenso wie die Glaubenssicherheit geben dadurch Halt und Orientierung, dass auch große Gruppen von Menschen, die aufgrund ihres Umfanges keine lebendigen, alltäglich vollzogenen Beziehungen mehr pflegen können, sich auf gemeinsame Regeln beziehen und im Streitfall auch darauf berufen können. Das Entkoppeln des individuellen Sicherheitsempfindens von der persönlich gestalteten Beziehung hat ganz sicher viele Vor- und auch Nachteile. Historisch ist es zwingend notwendig geworden, als Menschen begannen, in größeren Gruppen zusammenzuleben. Die Vorteile überpersönlicher sozialer Regulierung liegen auf der Hand und wurden schon angedeutet, die Nachteile sind vielleicht nicht ganz so einfach erkennbar und stellen gerade in unserer heutigen Zeit wie mir scheint eine echte Herausforderung dar.

Einige aktuell interessante Fragen wären dann vielleicht:

(1) … warum stellen gerade heute so viele Menschen die unpersönlichen Sicherungssysteme, also die Demokratie wie wir sie kennen und die Religionen so stark infrage, mit so viel Wut und Hass und Häme und oft komplettem Vertrauensverlust in vorher als verbindlich und selbstverständlich geltende Regeln?

(2) … warum richten sich die Häme und die oft zutiefst inhuman erscheinenden Impulse von Angriff und Entwertung bis hin zu Vernichtungsphantasien zur Zeit vorzugsweise gegen “die da oben”, aber auch gegen “fremde, gefährlich vorgestellte Eindringlinge” und auch besonders intensiv gegen Frauen?

(3) … wie könnten die beschriebenen Sicherungs- bzw. Vertrauensformen miteinander zusammenhängen? Wie könnten sie selbst untereinander in Beziehung stehen? Gibt es Übergangsformen? Typische Herausforderungen oder gar Fallstricke?

(4) … und wie lässt sich das ganz offensichtlich beschädigte Sicherheitsgefühl vieler Menschen wiederherstellen ohne die bisher gültigen Errungenschaften und Sicherungssysteme unserer Vorfahren ganz über Bord zu werfen? Können sie nicht stattdessen erhaltend und integrierend weiterentwickelt werden? Brauchen wir gar neue, das Bisherige ergänzende Formen?

Autorin: Anja Boltin
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 25.11.2020
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Heinz Mauch sagt:

    Ein toller Artikel – vielen Dank! Für mich so etwas wie ein perfekter Einstieg in die kommende Adventszeit, wo die Erwartung auf einen Neuanfang mit anderen Vorzeichen und daraus dann das neue Feiern des Lebens wieder Raum gewinnen können. Gerade in diesen Tagen, wo der Terminkalender Lücken aufweist, könnte man sich mehr mit sich selber treffen – und solche Texte wirken lassen.

  • Fidi Bogdahn sagt:

    Von meiner “Art Aussichtsplattform der Weisheit“ sehe ich
    -auch durch den für mich so dicken Nebel deiner vielen DenkWorte-,
    dass ich solche Fragen wie z.B. die 4 am Ende deines Artikels
    (für den ich dir, Anja, danke!) nur befried(ig)end würde beantworten können,
    wenn ich dem Wissen (ver)traue
    „…, dass das Leben schon immer ganz genau so war und nur die konkreten Erscheinungsformen sich immer und immer wieder wandeln…“
    Ich weiß, das entzieht der Verunsicherung die Grundlage.
    Und dann erst zeigt sich mir Neues…

  • Anja Boltin sagt:

    @Heinz Mauch: Vielen Dank! Das freut mich sehr! Ich wünsche Ihnen eine gute Adventszeit …

    @Fidi Bogdan: Schön. Ja, das Neue ist das Spannende! Und es wächst in seiner schönsten Form wohl direkt aus unserem Vertrauen-Können

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