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Retro auf dem Küchentisch

Von Heike Brunner

Retro-Milchtüte 2021
Plastikverschluss seit 1995

Könnt ihr Euch noch an die Milchtüten erinnern, die mit ohne?

Lang ist es her. Es gab einmal eine Zeit, da hatten die Milchtüten keinen Plastikdrehverschluss, die Dinosaurier unter uns wissen das noch. Schon damals diskutierten wir, ob wir lieber mit Pfand oder doch die Wegwerftüte kaufen sollten. Damals, das war so in den achtziger und neunziger Jahren. Und dann, 1990, da passierte es, da führte das frisch geeinte Deutschland den “Grünen Punkt” und die Mülltrennung ein. Weil … – ja, warum noch mal?

Schon 1990 fanden wir Deutschen die 15,3 Millionen Tonnen Verpackungsmüll, davon um die 13 Millionen Tonnen Einwegverpackungen, wirklich so ein bisschen zu viel. Heute sind es übrigens insgesamt 38 Millionen Tonnen Haushaltsabfälle, davon sind 12,1 Millionen Tonnen reiner Wertstoffmüll, der in der gelben Tonne gesammelt wird. Bis 2015 hatte der Plastikverpackungsmüll in der EU um zwölf Prozent zugenommen, in Deutschland sogar um 29 Prozent. Wir exportieren Müll auch gern. 2018 waren es eine Millionen Tonnen Plastikmüll, hier eine schöne Grafik vom NABU wohin wir das weltweit verkaufen. Malaysia erhielt 180.000 Tonnen davon. Leider schwimmt unser Plastik dann dort fröhlich im Meer, denn es kann dort nicht fachgerecht verarbeitet werden. Cool, dass die Tüte reisen darf – und wir gerade nicht. Aber der Verkauf von Müll, also die eine Millionen Tonnen, erbrachten 2018 ca. 325 Millionen Euro, das ist doch ganz prima, was wir da mit dem Müll verdienen.

Zurück zur Müll-Vermeidungsstrategie-Vorreiterin Deutschland. Weil das gut ankam mit dem Grünen Punkt und dem Umweltschutz und oben drein ein guter Deal zu werden schien, schaute sich die EU das damals gleich mal ab: 1994 trat eine EU Verordnung mit dem Hauptziel der Vermeidung und Verringerung von Umweltauswirkungen durch Verpackungen und Verpackungsabfälle in Kraft. Soweit alles toll, endlich Grüner Punkt, endlich weniger Müll und das EU-weit!? Immerhin gab es 2017, zweiundzwanzig Jahre später, 26 Länder der EU, die Wertstofftrennung haben oder gerade aufbauten.

Doch was passierte 1995? In einer Zeit unter der Fahne des Grünen Punktes, dem Erwachen des Bewusstseins zum Thema Müllproblem und der Bemühung, Plastikmüll zu reduzieren, zu bannen, zu …, da kam er auf den Markt: der erste Plastik-Schraubverschluss an den Milchtüten. Genau, weil die so umständlich zu öffnen gingen und ach, beim Picknick schlabberten, erfahre ich. Ich hatte, glaube ich, noch nie eine Milchtüte beim Picknick mit und ich war damals empört, dass so ein Plastikkrams eingeführt wurde. Ja, und ich trauerte der so liebevoll aufgerissenen Milchtüte hinterher. Immer wieder all die Jahre schüttelte ich den Kopf, entdeckte in anderen Ländern Milchtüten „ohne“ im Regal und leider auch manchmal im Meer. Kaufte hin und wieder Pfandglas Milch, darin ist aber die Sahne echt fett, macht schnell Flöckchen und wird leider schneller sauer. So landete doch meist die Tüte mit dem gewissen Extra im Einkaufskorb. Sechsundzwanzig Jahre haben wir nun diese entzückenden Plastik-Schraubverschlüsse, das ist länger als eine lebenslängliche Haft mit Bewährungszeit. „Dumm gelaufen“, dachte ich, „davon kommen wir nie mehr weg.

Aber es geschehen noch Wunder. Es wurde zwar nicht Wasser zu Wein, aber seit Januar 2021 verkauft eine Biomarktkette Spreewälder-Regional-Biomilch OHNE den Plastikschraubverschluss! Ich konnte es fast nicht fassen, als ich sie plötzlich im Kühlschrank entdeckte und ehrlich, es ist einfach so richtig Retro, so eine Tüte auf dem Tisch stehen zu haben.

Wie auch immer es dazu kam, gedankt sei den Spreewälder-Bio-Milchbäuerinnen und der Biomarktkette! Hoffentlich machen das jetzt viele nach und entnippeln zudem die anderen Tütenprodukte gleich mit: Wasser und Wein und Hafer-, Soja-, Dinkel, Nussgetränk-Varianten, Säfte und Co, Tschüss du blöder Plastiknippel, 2021, du bist mein Jahr.

Die Youngsters in meiner Wohnung haben natürlich keine Ahnung, wie so eine Milchtüte aufgeht, aber das lernen wir wieder, davon bin ich überzeugt. Vor allem, wenn die “hafersonstwasmilchartigen” Produkte nachziehen. Die Biomarktkette, die hat auf ihrer Facebook-Seite übrigens geschrieben, dass sie nur durch das Weglassen dieser Plastikverschlüsse bei diesem (einen!) Produkt jährlich 3 Tonnen Plastikmüll einsparen werden.

Kleinvieh macht auch Mist, aber vielleicht wird der Quatsch einfach verboten. So wie die Strohhalme, das Plastikgeschirr und noch ein paar lieb gewonnene Plastik-Dinge, die gibt es dann ab Sommer 21 auch nicht mehr. Ich finde, das klingt so ein bisschen wie Creme 21, die kennen auch noch die Dinos.

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Antje Schrupp sagt:

    Liebe Heike –

    danke für den Artikel, ja was für krasse Zahlen! Und dabei waren wir in den 1980ern eigentlich schon so weit, in der Debatte und im Bewusstsein, ich frage mich echt, warum das so schief aus dem Ruder gelaufen ist.

    Was das Plastik angeht – da bin ich immer durchaus zwiegespalten, denn Plastik ist eigentlich ein Super-Material, es ist leicht, lang haltbar, lebensmittelecht, mega-vielseitig verwendbar und ungeheurer oft recykelbar, man kann es immer wieder einschmelzen und neu verwenden.

    Die meisten Alternativen, die dazu diskutiert werden, verbrauchen mehr Energie, zum Beispiel ist eine Baumwolltasche nur dann besser für die Ökobilanz als eine Plastiktüte, wenn man sie hundert Mal benutzt und die Plastiktüte nach dem ersten Mal wegschmeißt. Mir scheint es manchmal so, als ob das Plastik-Bashing auch so eine Art Ersatzhandlung ist, weil man die ganze schwierige Öko- und Klimasituation auf einen Schuldigen fokussieren kann. Aber wenn man Plastik nicht wegwerfen, sondern wiederverwenden würde, konsequent recyclen und so weiter, wäre das ein sehr wertvolles und nützliches Material!

  • Antje Schrupp sagt:

    PS: Unnützes Plastik wie diese Ausschütt-Noppen ist natürlich trotzdem Quark!

  • Fidi Bogdahn sagt:

    … und dann, bitteschön, stellt doch auf euren Küchentisch nur noch Honig aus der Region, in der ihr lebt! Das ist heute für alle sofort möglich.
    (Alles andere ist lediglich meist zusätzlich von weit her transportiertes Süßmaterial)
    … sagt eine ehemalige Hobbyimkerin.

  • Heike Brunner sagt:

    Hallo Antje, das mit dem Wiederverwenden ist so eine Sache, ich hab neulich gelesen oder gehört, in einem Vortrag, dass gerade wiederverwendete Plastikverpackungen dazu neigen, Plastikpartikel abzugeben, da sind wir dann in einer ganz anderen Diskussion, Fruchtbarkeit, bzw. Unfruchtbarkeit … Naja, da kann eine wirklich Romane zu schreiben, dennoch fand ich es einfach wirklich erfirschend, diese Milchtüten “ohne” wieder zu entdecken.
    Hallo Fidi, ja, hier gibt es oft Berliner Honig, wir haben hier sehr aktive Mellifera-Gruppen, Wilde Stadtimker*innen und AltImker*innen, LG Heike

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