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Feminismus per Videokonferenz

Von Antje Schrupp

Diesen Text schrieb ich auf Einladung der Online-Zeitung „Via Dogana“ des Mailänder Frauenbuchladens, wo er – übersetzt von Traudel Sattler – auf Italienisch erschienen ist.

Im März 2020 wurden viele meiner politischen Aktivitäten spontan gestoppt: Bereits geplante Treffen mussten abgesagt werden, zum Beispiel der Autorinnengruppe vom ABC des guten Lebens oder auch die Redaktionssitzungen dieses Forums: im kommenden August haben wir endlich nach vielen Monaten Video-Konferenzen zum ersten Mal wieder ein analoges Treffen von „Beziehungsweise Weiterdenken“ geplant.

Es war ein Glück, dass diese Pandemie uns in einer Zeit getroffen hat, wo es alternative Medien gibt. So konnten wir trotz der Unmöglichkeit zu reisen an unseren Projekten weiterarbeiten und in Kontakt bleiben. Waren die Videokonferenzen anfangs nur eine Notlösung gewesen, so hat sich im Lauf der Monate gezeigt, dass sie durchaus eine Alternative sein konnten. Wir hatten diese Möglichkeit vorher einfach nicht auf dem Schirm gehabt, obwohl sie als Technologie ja bereits vor Corona existierten. Aber ohne die Pandemie und den damit verbundenen Zwang, etwas Neues auszuprobieren, hätten wir sie vermutlich noch immer nicht entdeckt.

Gerade für Projekte, deren Teilnehmerinnen weit voneinander entfernt leben, haben Videokonferenzen große Vorteile: Man kann sich trotz großer Distanzen und engen Zeitplänen jederzeit treffen, auch mal für zwei Stunden. Ich fand es schön, manche Gruppen statt zwei oder dreimal im Jahr jetzt monatlich zu sehen. Einiges an unseren Diskussionen hat sich dadurch verändert, zum Beispiel konnten wir ein Thema auch mal kontinuierlicher verfolgen. Anfängliche Befürchtungen, die Qualität unserer Gespräche würde unter dem Medium leiden, haben sich nicht bewahrheitet. Vielmehr haben wir die Erfahrung gemacht, dass gerade inhaltliche Diskussionen über Videokonferenzen sehr gut strukturiert und fokussiert abgehalten werden können.

Ich denke aber, es hat dabei eine Rolle gespielt, dass unter den Beteiligten bereits eine gewisse Beziehung bestand, dass wir uns schon vorher kannten und gegenseitiges Vertrauen entwickelt hatten. Es hat mir durchaus aus Spaß gemacht, in dieser Zeit in einige Gruppen und Projekte hineinzuschnuppern, für die ich die Energie ansonsten nicht aufgebracht hätte, zum Beispiel mich mal für zwei Stunden in eine Konferenz in Berlin einzuloggen, mit der ich nicht eng genug verbunden bin, um dafür von Frankfurt aus hinzufahren. So habe ich einiges mitbekommen, was mir ansonsten entgangen wäre – intensivere Kontakte sind daraus aber nicht entstanden. Videokonferenzen können ein erster Schritt sein, aber um Menschen „wirklich kennenzulernen“, muss man letztlich wohl doch hinreisen.

In bestehenden Gruppen aber haben wir die Bequemlichkeiten von Videokonferenzen durchaus genossen, ohne dass die Qualität gelitten hat. Teilweise hat uns die Technik sogar dazu inspiriert,  neue Formate zu erfinden, wie zum Beispiel die Videogespräche aus der bzw-Redaktion. Ohne Corona wären wir wahrscheinlich auf diese Idee nicht gekommen.

Dass die Qualität von bereits bestehenden Beziehungen ein wichtiger Faktor dafür ist, ob Videokonferenzen gut funktionieren oder nicht, zeigt sich auch daran, dass wir Konflikte in dieser Zeit eher nicht bearbeitet haben. Was diesbezüglich vor der Pandemie offen war, ist es auch jetzt noch, fast als hätten wir die heiklen Dinge „auf Wiedervorlage“ gelegt. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob der Grund dafür wirklich die Technologie als solche ist oder eher die allgemeine Pandemie-Situation, in der Ängste und Konflikte ohnehin sehr präsent waren, sodass einfach alle diesbezüglich etwas vorsichtiger waren. Jedenfalls sind Grundsatzdiskussionen darüber, was besser ist – Videokonferenzen oder Treffen in Fleisch und Blut – meiner Meinung nach nicht hilfreich, weil eben beides Vor- und Nachteile hat. Es sind unterschiedliche Formate, und deshalb ist zu entscheiden, in welchen Fällen das eine und in welchen Fällen das andere sinnvoll ist. Vor Corona hatten wir die Option Videokonferenzen nicht im Repertoire, während Corona hatten wir die Option von „analogen“ Treffen nicht verfügbar. Nach Corona werden wir daher erstmals in der glücklichen Lage sein, uns wirklich zwischen beidem entscheiden zu können, und auf diese Diskussionen bin ich schon sehr gespannt.

In den Projekten, in denen ich aktiv bin, stellte sich nicht für eine Sekunde die Frage, ob wir der Einfachheit halber auf Treffen in Fleisch und Blut in Zukunft ganz verzichten können. Das hat mich nicht überrascht, weil ich diese Erfahrung schon lange in den Sozialen Medien kenne: Wenn man im Internet eine Person kennenlernt und mag und über eine gewisse Zeit mit ihr in Austausch steht, dann entsteht früher oder später unweigerlich das Bedürfnis, sie auch in Fleisch und Blut zu treffen. Einfach weil körperliche Begegnungen über eine besondere Qualität verfügen, die über keine Medium zu erreichen ist.

Aber auch in einem weiteren Sinn ist das Thema der Wechselwirkung zwischen Internettechnologien und Politik sehr interessant. Die Frage ist, wie wir als Feministinnen mit diesen Medien umgehen und ihre Vorteile nutzen, ohne dabei ihre Nachteile und Gefahren zu verleugnen und aus den Augen zu verlieren. Ich denke, gerade eine Politik der Beziehungen unter Frauen hat Erfahrungen, die zu einem freiheitlichen Verständnis der Möglichkeiten und Grenzen von Internettechnologien beitragen können.

Die Euphorie über die Möglichkeiten von künstlicher Intelligenz zum Beispiel, die im Silicon Valley seit Jahren herrscht, ohne dass tatsächlich schon etwas Substanzielles daraus entwickelt worden wäre, verdankt sich einer bestimmten Art männlicher Hybris und einer Unwissenheit gegenüber dem, was bedeutungsvolle Beziehungen im Kern ausmacht. Jedenfalls finde ich an dem, was im Allgemeinen „künstliche Intelligenz“ genannt wird, überhaupt nichts Intelligentes. Unter Intelligenz verstehe ich die Fähigkeit, etwas Neues, Eigenes in die Welt zu bringen in der (politischen) Absicht, etwas Sinnvolles beizutragen. Was bisher künstliche Intelligenz genannt wird, sind aber einfach nur sehr hoch skalierte Rechenverfahren, die prinzipielle Vorgaben ausführen, die von außen hinein programmiert worden sind. Diese Automatisierung von Rechenvorgängen – also Algorithmen – sind zwar inzwischen in dem Sinne selbstständig, dass diese Maschinen heute nicht mehr nur Ergebnisse ausspucken, sondern die Algorithmen auch selbst weiterentwickeln. Das hat dann zur Folge, dass die Programmierer selbst sie nicht mehr vorhersehen können, was dann von manchen als „intelligent“ wahrgenommen wird. Aber die Maschinen handeln ja nicht aufgrund eigener ethischer Erwägungen und Entscheidungen, sondern aufgrund der Vorgaben, die sie von den Programmierern bekommen haben. Dass die die Kontrolle verloren haben, ist lediglich ein Beweis für die begrenzten Kapazitäten der menschlichen Erkenntnis, nicht ein Beweis für die Intelligenz der Maschinen.

Trotzdem ist es natürlich ein Problem, wenn die Programmierer die Folgen der von ihnen angestoßenen Rechenvorgänge nicht mehr unter Kontrolle haben. Denn immer deutlicher zeigt sich, dass die Maschinen nicht „neutral“ programmiert wurden, sondern dass die Vor- und Fehlurteile einer männlichen symbolischen Ordnung in sie eingeschrieben sind. Die „weißen bürgerlichen Männer“ des Silicon Valley haben ihre eigenen Vorurteile direkt in die Grundarchitektur des Internet einfließen lassen. Das zeigt sehr eindrücklich der Dokumentarfilm „Coded Bias“ der US-Amerikanischen Regisseurin Shalini Kantayya, der auf Netflix zu sehen ist. Diese Entwicklung ist deshalb so gefährlich, weil immer mehr Entscheidungen auch politischer und gesellschaftlicher Art auf solchen Algorithmen basieren. Wenn nicht einmal diejenigen, die sie programmiert haben, noch wissen, nach welchen Regeln Algorithmen überhaupt funktionieren, ist es schwer, sie wieder einzufangen. Es ist die in technische Strukturen gegossene Verfestigung einer männlichen symbolischen Ordnung in angeblich „neutrale“ Verfahrensweisen. Hier muss dringend politisch interveniert werden, und es ist gut, dass überall auf der Welt Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen darauf hinwirken.

Wenn ich sage, dass Algorithmen und Internettechnologie nicht „intelligent“ sind, bedeutet das also nicht, dass sie ungefährlich wären, ganz im Gegenteil. Es bedeutet aber, dass wir mit unserer eigenen Intelligenz und vor allem der Praxis der Beziehungen durchaus ein Wissen darüber haben, wie wir diese schädlichen Folgen verhindern können. Das Zentrum des Politischen, nämlich der Austausch zwischen freiheitliebenden Personen über ihre konkreten, subjektiven Ideen, Wünsche, ihr Begehren – das ist nicht „algorithmisierbar“, weil es ein einzigartiges, kontingentes Ereignis ist. Es ist das genaue Gegenteil von „Big Data“, bei dem der Einzelfall per Definition ganz unwichtig ist. Kein Algorithmus der Welt ist in der Lage, vorauszuberechnen, was im Gespräch zwischen zwei Frauen, in dem Begehren und Autorität zirkulieren, herauskommt.

Im Prinzip ist das ja nichts anderes als die Arbeit an einer anderen symbolischen Ordnung. Auch die symbolische Ordnung des Patriarchats erscheint hegemonial, solange sie noch nicht als strukturierendes Merkmal erkannt ist und eine andere, weibliche symbolische Ordnung entstanden ist. Der politische Konflikt über den Nutzen und die Gefahren von Internettechnologie verläuft nicht zwischen denen, die diese Technologien gut finden und denen, die sie verdammen. Sondern er verläuft da, wo wir unterscheiden können, was genau wir von diesen Technologien erwarten können – und was aber eben auch genau nicht.

Autorin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 19.06.2021

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