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Die Ankunft der jungen Männer. Ein Beitrag zur Überwindung des Patriarchats und zu feministischer Außenpolitik

Von Andrea Günter

Foto: Min An / Pexels

Junge Männer und feministische Politik

Aufgrund der Auseinandersetzung mit dem neuen europäischen Asylkompromiss ist in diesen Wochen des Juni 2023 gerade wieder einmal Thema, dass vor allem junge Männer nach Europa strömen. Den CDU-Politiker Jens Spahn bringt das in der Sendung „Anne Will“ (11.6.2023) auf die Idee, sich zu einer feministischen Politik zu bekennen. Damit greift er die Initiative des Außen- und des Entwicklungsministeriums auf, Außenpolitik als feministische Außenpolitik zu profilieren. Jedoch, meinen beide Vorstöße dasselbe? Spahn veranschlagt das Konzept feministische Außenpolitik dafür, junge männliche Migranten aus Europa und Deutschland fernzuhalten. Die Bundesregierung greift die Idee des Internationalen Frauenkongress von 1915 in Den Haag auf, politische Konflikte mit Hilfe von Frauen friedlich zu lösen und zugleich die Diskriminierung von Frauen zu überwinden .

An diesem Juni-Wochenende trifft die Einordnung Spahns auf die Untersuchungsergebnisse der Organisation Plan International Deutschland, die zu erkennen geben, dass ein Drittel der jungen Männer in Deutschland es akzeptabel finden, Gewalt gegenüber Frauen auszuüben, um sich Respekt zu verschaffen (BZ 12.6.2023).

Ich möchte diese beiden Phänomene als einen Gesamtzusammenhang diskutieren. Dabei möchte ich dies gerade nicht entlang eines Verhältnisses von Mann und Frau (Männer- und Frauenbildern, weiteren sozialen Distinktionen etc.), sondern als Ausdruck ein und derselben patriarchalen Grundstruktur diskutieren und dessen zivilisatorisches Scheitern sichtbar machen.

Das Patriarchat und junge Männer

Was passiert eigentlich mit den jungen Männern im Patriarchat? Diese Fragestellung habe ich zum ersten Mal bei Platon entdeckt. So kritisiert der antike griechische Philosoph in seiner Schrift „Das Gastmahl“ das (vermeintlich attische) Ideal, dass junge Männer alte Männer lieben sollen, und zwar körperlich, seelisch und geistig. Denn die alten seien den jungen Männern ein tugendhaftes Vorbild. Im Hinblick auf dieses Ideal stellt Platon aber die folgende Problematik in den Raum: Was passiert, wenn ein junger Mann einen alten Philosophen liebt, Sokrates nämlich, und mit allen Mitteln und auf allen Interaktionsfeldern versucht, diesen zu verführen, diese Versuche aber nichts bewirken und jener zudem so gar nichts von diesem Ideal hält?

In Platons Gastmahl wird diese Diskrepanz in Gestalt des Alkibiades inszeniert. Dieser fällt volltrunken in das Dialoggeschehen ein. Sokrates hat gerade seine Vorstellung eines realistischen Symbolischen entwickelt. Diese Vorstellung wiederum verdankt er einer konkreten Frau, Diotima, deren Vorstellungen Athen erfolgreich und nachprüfbar von einer Epidemie geschützt haben. Seine Referenz auf diese konkrete Frau und ihre Lehre stellt Platon einer Konzeption der väterlichen Ursprungsmetaphysik entgegen, die er als willkürlich und ideologisch entlarvt hat. Den Vater-Vorgänger lieben zu sollen, erweist sich als ein ideologisches und Willkür gründendes Ideal. Es ist ein Luftgespinst, das Erinnerung an zivilisatorische Errungenschaften verunmöglicht, erfahren wir mehrfach in Platons Schriften. Dies hat Alkibiades auch konkret so erfahren. Er ist der junge Mann, der in Sokrates verliebt ist und versucht hat, ihn mit allen Mitteln zu verführen. Aber Sokrates hat darauf nicht reagiert. Nun ist er frustriert, wohl, weil er ernüchtert ist: trunken vor Ernüchterung. Er muss realisieren: zum Lieben gehören immer zwei, die gleichermaßen wollen, soll daraus eine Beziehung werden.

Patriarchat, Willkür, Unterordnung, Migration

Behalten wir die Fragestellung bei: Was passiert mit jungen Männern im Patriarchat? Also in einer Ordnung, in der der Hausvater Frau, Kindern und Sklaven „das Gesetz gibt“? Nun, junge Männer müssen letztlich ebenso gehorchen wie Frauen und Sklaven, erfahren wir von Aristoteles. Jenseits des Gehorsams gibt es für sie keine zivilisatorische Einbindung. Im besten Falle können sie irgendwann einmal die Position wechseln und zum väterlichen Befehlsgeber werden, indem sie selbst Gehorsam erzwingen. Was junge Männer sich durch Gewalt erzwingen, ist nicht Respekt. Respekt kann man auf diese Weise gerade nicht gewinnen. Vielmehr verliert man ihn. Was sich hingegen erzwingen lässt, ist Gehorsam und Unterordnung.

In die Position des Patriarchen schlüpfen, das tun auch viele junge Männer, die nach Europa auswandern. Von mehreren habe ich erzählt bekommen, ihre Familien schickten sie in der Hoffnung nach Europa, dass sie wie ein Patriarch ihre Familien mit Geld versorgen. Denn wenn die ökonomischen Ansprüche, gerade auch die der Mütter und Schwestern, im eigenen Land nicht erfüllt werden können, dann finanziert die Familie sogar die Migration nach Europa. Im neuen Land soll es nicht unbedingt ihnen besser gehen, sondern vor allem den Familien in den Herkunftsländern.

Solche Migranten werden dann als Wirtschaftsflüchtlinge benannt. Das aber ist nicht passgenau. Sie werden von „richtigen Asylbewerbern mit Fluchtgründen (Verfolgung; Krieg; Hungernot, etc.)“ unterschieden, was durchaus Sinn macht. Diese Unterscheidung besagt nicht, alle männlichen jungen Flüchtlinge seien Wirtschaftsflüchtlinge. Zumal Deutschland Zuwanderer für den Arbeitsmarkt braucht, also Wirtschaftsflüchtlinge. Hingegen kann genauer feministisch differenziert werden: Wer kommt aus patriarchalen Motivationslagen heraus, die sich ökonomisch ausdrücken? Wie steht er dazu? Wie will er sich aufstellen? – Solche Fragen bringen eine feministische Analyse zum Ausdruck. Sie ordnen den Zustrom der jungen Männer in einer patriarchatskritischen Sichtweise ein. Und die bewerten diese nicht unabhängig von den Strukturen, von denen diese abhängig sind.

Ökonomie und Patriarchat

Die Motivation für Migration mit „Ökonomie“ zu erklären, ist viel zu kurz gefasst. Die meisten Migrant:innen versorgen mit ihrem Einkommen ihre Familien aus ihren Herkunftsländern mit, was zu vielen Konflikten und oft zu falschen Erwartungen führt, auf allen Seiten. Dabei kann dies Unterschiedliches beinhalten: Soll die Bildung der Kinder finanziert werden, damit diese eine bessere Zukunft haben? Oder sollen die Ansprüche der Väter, Brüder, Mütter und Töchter erfüllt werden, weil diese von einer patriarchalischen Ernährerstruktur abhängig sind? Beide Lagen führen zu divergierenden Verhalten und brauchen divergierende Bewertungen. Ein dreh- und Angelpunkt könnte sein: Wer ist bereit, wer sehnt sich regelrecht danach, die patriarchalen Strukturen hinter sich zu lassen?…

Die politische Struktur patriarchaler Ökonomien

Was nun Platons Patriarchatskritik betrifft, so weise ich schon länger darauf hin, dass sich niemand auf Platon berufen kann, wenn es um die Rechtfertigung homosexueller Praktiken in pädagogischen Beziehungen geht (ich erinnere an die Diskurse über die Situation in der Odenwaldschule). Was alle weiteren Dimensionen von Platons Fragestellung betrifft, so sind mir diese vor einer gefühlten Ewigkeit (vor 25 Jahren?) bewusst geworden, als in den Nachrichten von sozialen Demonstrationen in einem arabischen Land berichtet wurde (ich glaube, es handelte sich um Bilder aus dem Iran). Denn ich sah auf diesen Bildern „nur“ junge Männer.

Nun, dass keine Frauen zu sehen waren, dass könnte frau sich mit dem totalitär-fundamentalistischen System erklären, in dem Frauen nicht die Privatheit der Familie verlassen dürfen. Aber mir fiel zugleich auf: auf diesen Demos laufen keine alten Männer mit. Mir wurde offensichtlich: die arabischen patriarchalen-totalitären-Ausbeutungssysteme vernachlässigen systematisch die jungen Männer (wie irgendwie überall auf der Welt). Nur ist es hier sichtbarer: die alten, reichen (hier die arabischen, nicht nur die weißen) Männer totalisieren die Vernachlässigung der jungen Männer. Sie haben Angst vor den Jungen und müssen deren Selbständigkeitsversuche mit Gewalt unterdrücken. Daher vertrete ich die These, dass solche politischen Systeme die folgende Politik propagieren: „So wie wir Euch, Männer, erlauben, Eure Frauen zu behandeln, so behandeln wir, die Herrscher, die gesamte Gesellschaft“.

Der türkische Staatspräsident Erdogan hat diesen Patriarchalismus formuliert, als er die Istanbuler Konvention für die Türkei mit den Worten verabschiedet hat: „Wir beschützen unsere Frauen selbst“ (Tagesschau 27.3.2021). Der Schutz der Familie wird über den der Frauen und Kinder vor Gewalt gestellt (ZDF update 11.5.2023). Was er nicht explizit gesagt hat, ist das folgende: „Wir beschützen unsere Frauen selbst, zwar genau so, wie wir meine Herrschaft beschützen“. Diese Weiterführung realisiert seine politische Praxis. Dies erklärt auch, warum patriarchalistische Deutsch-Türken Erdogan wählen: Sie haben ein gemeinsames Verständnis von „Schutz“, nach dem Motto: „Wir wollen unsere patriarchale Tradition behalten, dazu brauchen wir das patriarchale Schutzkonzept „Familie“ des Erdogan, das Männergewalt unsichtbar macht. Denn nur so erfahren wir uns als einflußreich, weil wir durch dieses Wahlverhalten so tun können, als wäre unsere Position im Ausland gleich der der alten Männer, die keine Veränderung der Verhältnisse erleben“ (vgl. Günter, Andrea: Wertekulturen, Wien 2017. S. 67-81).

Das Patriarchat ist nicht nur gegenüber Frauen gewalttätig. Es vernachlässigt gerade auch systematisch junge Männer und deren persönliche und gesellschaftliche Entwicklung. Ihnen bleibt als Selbstausdruck die Identifikation mit der herrschenden Ordnung. Männliche Selbstentfaltung reduziert sich darauf, die Aufforderung des Patriarchats, Frauen zu „schützen“, indem Mann diesen gegenüber gewalttätig wird, um sie zur Unterordnung zu zwingen, als akzeptierte Möglichkeit der gesellschaftlichen männlichen Positionierung zu ergreifen. Sie müssen sich derart in Zwangs- und Unterordnungsdynamiken beheimaten.

Frauen, Leben, Freiheit

Solche strukturellen Zusammenhänge wahrzunehmen, wozu kann das führen? Die iranische Bewegung „Frauen, Freiheit, Leben“ ist zu einer Bewegung geworden, in der Männer verstanden haben, dass sie den iranischen Totalitarismus nur überwinden können, indem sie dessen patriarchale Grundstruktur außer Kraft setzen. Sie schützen sich und verändern die politische Struktur ihres Landes, indem sie die Frauen ihres Landes unterstützen, und zwar nicht, indem sie dessen Gehorsams- und Unterordnungssystem, sondern die Freiheit der Frauen verteidigen. Diese Grundfigur des anti- und a-patriarchalen Politischen muss weltweit verstanden und propagiert werden. Darin gewinnt das Konzept „feministische Außenpolitik“ seinen Sinn.

Die in patriarchalen Systemen externalisierten jungen Männer zu „zivilisieren“, sie also aus der Bereitschaft zur Gewalt gegenüber Frauen und damit gegenüber der gesamtgesellschaftlichen Ordnung herauszubewegen, sie das Patriarchat verabschieden zu lehren, ist eine Grundlage dafür, zum Frieden beitragen. Weltweit. Was kann das beinhalten?

Jungen Männern einen Platz in gesellschaftlichen Zusammenhängen zu ermöglichen, all denjenigen von ihnen, die keinen Platz in dieser Ordnung finden können, dürfen und sollen, tatsächlich eine zivilisierende Kultur zur Verfügung zu stellen, in der Alternativen zu Unterordnung, Zwang und Gewalt praktiziert werden. Das zählt zu den wesentlichen Herausforderungen, das Patriarchat zu überwinden. Es beinhaltet, dass gerade alte Männer junge Männer zu lieben lernen. Nicht unbedingt in einem sexuellen Sinne. Aber in einem seelischen, geistigen und spirituellen: in einem zivilisatorischen.

Vermutlich basiert die Ablehnung der LGBTQIA+-Bewegungen durch totalisierende patriarchale Regierungsvertreter (Putin, Erdogan, Republikaner/USA, PSI-Partei Polens, AFD, usw.) darauf, die patriarchale Struktur der Beziehung zwischen alten und jungen Männern unsichtbar zu halten. Gerade von Putins Regime der „Militäroperation“ kann gelernt werden, was mit jungen Männern geschieht, wenn altgewordene Diktatoren nicht ihren Platz räumen wollen, sondern „richtige Männlichkeit“ behaupten. Sie versuchen, ihr Herrschaftsgebiet auszudehnen, um ihre Herrschaft nicht über Zeit, folglich über Veränderlichkeit und ihr sterbliches Ende, sondern über verewigte räumliche Größe definieren, die ihre Männlichkeit symbolisieren sollen (das Reich des Zaren). Die Verlängerung des Eigenen über invasive räumliche Ausdehnung, wenn das eigene Zeitliche immer kürzer wird: die phallogokratische zeit-räumliche Ordnung des patriarchalen Systems wird sichtbar (so hätte die französische Philosophin und Phallogozentrismuskritikerin Luce Irigaray diesen Zusammenhang klassifizieren können…)

Zeit, Raum, Erinnerungen

Wenn dem Patriarchat also die Zeit ausgeht, versucht es, sich in den Raum hinein auszudehnen. Dieser Raum darf ihm nicht überlassen werden. Das kann ein feministischer Grund dafür sein, die Ukraine zu unterstützen. Und die Migration junger Männer feministisch zu bewerten. Mit einer solchen Sichtweise wird weniger die „westliche Freiheit“ verteidigt, sondern die Zivilisierungsleistungen des Westens, die sich in anti- und a-patriarchalistischen Bewegungen niederschlagen. Feministisch gedacht, wird hier versucht, die Errungenschaften, die das Patriarchat immer mehr geschwächt und überwunden haben, nicht erneut erodieren zu lassen, sondern sie zu erhalten und weiterzuentwickeln. Nicht die eigene Identität zu festigen, sondern die Unterdrückungsstrukturen, die Gewalt und die Toten eigentätig zu erinnern, um die Erinnerungen nicht den Machthabern zu überlassen, erlaubt, körperlich, seelisch und geistig überleben zu können, erklärt die iranische Autorin Sanaz Azimipour. Diese Erinnerung ist die Voraussetzung dessen, Politik zu „erden“. In der Rede von sogenannten „westlichen Werten“ oder von „Freiheit“ allein – losgelöst von „Frauen“ und „Leben“ – verschwindet die Erinnerung an patriarchale Gewalt und die Geschichte von deren Überwindung. Um diesen Fehler nicht zu begehen, muss feministische Außenpolitik profiliert werden.

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Jutta Pivecka sagt:

    Danke für diese sehr reflektierte Analyse. Sie hat mir ganz aktuell geholfen, entstandene Wut aus der Konfrontation mit migrantischen jungen Männern in etwas Produktiveres zu wandeln.

  • Christel Göttert sagt:

    Liebe Andrea, vielen Dank für deine erhellenden Ausführungen. In einer kleinen Runde von Frauen aus dem Frauenzentrum haben wir uns gestern gerade darüber unterhalten, wie mangelhaft das Thema der geflüchteten jungen Männer bisher bearbeitet wurde und wo die Ansätze für eine gute Lösung sein könnten. Deine vertiefenden Gedanken sind dabei total hilfreich und kommen zur rechten Zeit. Wir bleiben in Verbindung. Vielleicht können wir wiedermal eine Veranstaltung machen.

  • Dagmar Fiebiger sagt:

    Hallo Andrea, Ulrike hat mir Deine Gedanken geschickt. Ich bin tief betroffen und freue mich sehr, genau das zu lesen, was ich seit vielen Jahren in der sozialen Arbeit mit diesen jungen Männern denke. Ich bin traurig über die fehlgeleitete unglaubliche Lebenskraft dieser junger Männer, die schädlich für alle Menschen täglich vergeudet wird. Kraft, die die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen so bitter braucht. Jungen Männern eine lebenszerstörerische Orientierung zu geben ist ein Verbrechen. So habe ich das auch immer empfunden, auch in meiner eigenen Familie. Danke, ich würde gern mehr davon lesen. Herzlichen Gruß von Dagmar aus Berlin

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