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Die politische Ökonomie der Großmütter

Von Ina Praetorius

Kürzlich geriet ich bei einer Veranstaltung in eine Diskussion über die Frage, welche Verpflichtungen Grosseltern ihren erwachsenen Kindern und ihren Enkel*innen gegenüber haben. Ich selbst bin seit ein paar Jahren Grossmutter und konnte deshalb aus eigener Erfahrung berichten.

Christian Bowen / unsplash.com

Ich sagte, dass ich meine Enkelin nicht regelmässig betreue, weil sie weit von mir entfernt wohnt. Und dass ich sie wohl auch dann nicht regelmässig betreuen würde, wenn sie in meiner Nähe wäre. Schliesslich bin ich mit anderen Tätigkeiten ausgelastet, die in einem politischen Sinne fürsorglich sind. Mein Tagewerk als Care-Theoretikerin ist Sorge fürs Ganze, es setzt mich kohärent zur Welt in Beziehung und macht mir Freude.

Nach der Veranstaltung kamen Grossmütter auf mich zu, merklich berührt, sogar aufgebracht. Sie erzählten, wie erfüllend es für sie sei, ihre Grosskinder regelmässig zu betreuen. Sie seien noch gar nicht auf die Idee gekommen, das nicht tun zu wollen. Denn es gebe doch nichts Schöneres, als in der eigenen Familie die junge Generation zu unterstützen. 

Wir lösten an jenem Abend die Differenz nicht auf, aber ich habe noch länger darüber nachgedacht. Vor allem die Emotionalität des Zusammentreffens unterschiedlich orientierter Grossmütter ist mir im Gedächtnis haften geblieben: Da war so viel Freude am familiären Sorgen, die ich mit meiner Aussage gestört hatte. Ich empfand mich selbst als kalt und berechnend und war doch gleichzeitig irritiert von der Fraglosigkeit, mit der die begeisterten Grossmütter ihren Einsatz für die jüngere Generation als eine Art Automatismus darstellten.

Schliesslich kam ich zu diesem Schluss: Grossmütter, die mit Selbstverständlichkeit Gratisdienstleistungen in jungen Familien erbringen, fühlen sich für mich richtig und falsch zugleich an. 

Diesem Doppelgefühl will ich in diesem Text auf den Grund gehen. Ich werde die These entwickeln, dass Grossmütter, egal ob sie ihre Enkel*innen regelmässig betreuen oder nicht, politischer werden sollten, als sie es derzeit mehrheitlich sind.   

Betreuende Grossmütter: richtig und falsch zugleich

Es ist gut, wenn Menschen füreinander sorgen, ob sie nun Frauen oder Männer oder queer, alt oder jung sind, wo auch immer, innerhalb oder ausserhalb von Familien, Nachbarschaften, Quartieren oder über weitere Distanzen hinweg. Was also könnte richtiger sein als betreuende Grossmütter?

Das Problem beginnt dort, wo man die Gratisdienstleisterinnen nicht deshalb schätzt, weil sie, zusammen mit allen anderen, zum gelingenden Zusammenleben aller beitragen, sondern weil sie dem Staat beim Sparen und Kapitalist*innen beim Profitmachen helfen. Falsch fühlen sich die fraglosen Grossmütter für mich also dann an, wenn sie, der traditionellen «weiblichen» Sozialisation folgend, in einem System, das noch immer patriarchalen und kapitalistischen Imperativen folgt, widerstandslos eine für Staat und Unternehmen kostensparende Lösung für die arbeitsaufwändige Aufgabe der Kinderbetreuung zur Verfügung stellen. 

Um nicht gierig zu erscheinen, lassen die Profiteur*innen den willigen Dienstleisterinnen zuweilen das zukommen, was man gemeinhin «Wertschätzung» nennt: Sie sprechen zum Beispiel von «Heldinnen des Alltags», schenken den Care-Tätigen Blumensträusse oder lassen anerkennende Zeitungsartikel über sie schreiben. Das freut die gutsituierten Grossmütter, die sich Gratisarbeit leisten können, ohne in Armut zu geraten. Den weniger gut gestellten hilft es aber nicht, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, und letztlich führt es dazu, dass Wohlstand von unten nach oben verschoben wird. Die betreuenden Grossmütter werden zudem oft so stark beansprucht, dass sie kaum in der Lage sind, notwendige patriarchats- und kapitalismuskritische Debatten anzustossen. 

Das ist alles in allem ein vorteilhafter Deal für die Privilegierten, im Sinne der gängigen Logik, dass noch mehr bekommt, wer schon viel hat. 

Schlüsseltext 1: Community Kapitalismus

Im Jahr 2021 ist ein Buch namens «Community Kapitalismus» erschienen. Die Sozialwissenschaftlerinnen Silke van Dyk und Tine Haubner analysieren darin die Ambivalenz ehrenamtlicher Care-Arbeit in familiären oder nachbarschaftlichen Nahräumen, für die der grossmütterliche Betreuungs-Automatismus nur ein Beispiel ist. Ohne sich grundsätzlich gegen ehrenamtliches Tun zu wenden, plädieren sie für kritische Wachsamkeit: Unbezahlte Arbeiter*innen sollten sich nicht einspannen lassen in einen Verwertungszusammenhang, der sich ihrer Lebensenergie bedient, um den Wohlstand der Wohlhabenden zu mehren. Grossmütter müssen deshalb nachdenken über den Kontext, in dem sie sich befinden: über Staatsfinanzen, Steuersysteme, Menschenrechte und über die Frage, was wir als Menschheit in die Mitte unseres Zusammenlebens stellen wollen: Reichtum für wenige oder gutes Leben für alle? Grossmütter sind ja nicht nur Mitglieder von Familien, sondern auch Teil der sozial-ökologischen Transformation, die die Weltgesellschaft im 21. Jahrhundert vollzieht.

Viele Grossmütter sind nicht an politisch-ökonomische Selbstreflexion gewöhnt. Sie haben das von den Profiteur*innen erzeugte und erwünschte Gefühl, ausserhalb von «Wirtschaft» und «Politik» zu stehen. Im Sinne eines guten Lebens für alle im verletzlichen Lebensraum Erde braucht es aber gerade das kritische Denken derer, die meinen, mit «alldem» nichts zu tun zu haben.

In Deutschland wurde zum Beispiel kurz nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für den Ausbau der Armee beschlossen, trotz verfassungsmässig vorgeschriebener Schuldenbremse. Meines Wissens fragten nur wenige Grossmütter, wo plötzlich so viel Geld herkommt, während doch die Frage nach den verfügbaren Finanzen regelmässig zuallererst gestellt wird, wenn es um Investitionen in den sozialen Zusammenhalt, zum Beispiel in bezahlte Kinderbetreuung geht. – In der Schweiz wurde im März 2023 zum zweiten Mal eine Grossbank vom Staat «gerettet». Auch hier hatten Nationalbank und Regierung erstaunlich schnell viel Geld zur Verfügung, um die Liquidität der Credit Suisse zu sichern. Gleichzeitig müssen Parlamentarier*innen um jeden Franken kämpfen, wenn es um den Teuerungsausgleich für Rentner*innen oder um besser ausgestattete Kitas geht.

Schlüsseltext 2: Einverleiben und Externalisieren

Im Jahr 2022 ist das Buch «Einverleiben und Externalisieren. Zur Innen-Aussen-Beziehung der kapitalistischen Produktionsweise» der Nachhaltigkeitsökonomin Anna Saave erschienen – ich habe sie hier interviewt. Sie analysiert, wie die herkömmliche Wirtschaftswissenschaft zum Beispiel in Form des Messinstruments BIP (Bruttoinlandsprodukt) bestimmte Formen von Arbeit, zu denen auch die Gratis-Betreuungsarbeit der Grossmütter gehört, systematisch «externalisiert», also als vor- oder ausserökonomische Nicht-Arbeit definiert. Dieser Trick der vorsätzlichen Fehlwahrnehmung ermöglicht laut Saave die «räuberische Einverleibung» so genannter «Liebesdienste» durch Kapital und Staat.

Eine vergleichbare Definitionsmacht übt die herkömmliche Volkswirtschaft über andere vermeintlich ausserökonomische Bereiche aus, zum Beispiel die kleinbäuerliche Subsistenzlandwirtschaft in ehemaligen Kolonien oder die Bestäubungsleistungen von Bienen. Ausbeutungsformen, die man uns sorgfältig als «sozial» und «ökologisch» auseinanderzuhalten gelehrt hat, hängen also strukturell zusammen: Unbezahlte Care-Arbeit wird von der kapitalistischen Produktionsweise vergleichbar in ein vorökonomisches «Aussen» verlagert wie beispielsweise die Sauerstoffproduktion durch Urwälder. Solange Grossmütter solche Zusammenhänge nicht öffentlich zur Sprache bringen und zu verändern suchen, dienen sie mit ihrer schweigsamen Arbeit einem Verwertungszusammenhang, der in letzter Konsequenz das menschliche Zusammenleben im fragilen Kosmos Erde zerstört.

Schlüsseltext 3: Der Allesfresser Kapitalismus

Ebenfalls im Jahr 2022 hat die amerikanischen Philosophin Nancy Fraser ein Buch mit dem Titel «Cannibal Capitalism» veröffentlicht. Die im Jahr 2023 erschienene deutsche Übersetzung heisst «Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt».

Nancy Fraser portraitiert den Kapitalismus ohne Umschweife als ein Monster, das alles Nutzbare, das es erreichen kann, verzehrt: die Reichtümer der Kolonien und Ex-Kolonien, unbezahlte Care-Arbeit, natürliche Stoffe und Prozesse und schliesslich staatliche Institutionen und die Demokratie. Sie plädiert für eine Transformation, die diesen Mechanismus durchschaut und nicht länger systemimmanent nur an einzelnen Symptomen, etwa einem individualisierten «Vereinbarkeitsproblem» von Erwerbs- und Familienarbeit ansetzt. Wirksam wird Engagement für das gute Leben aller laut Fraser dann, wenn vermeintlich voneinander isolierte Krisenphänomene in ihrer Verwobenheit erkannt werden: System Change statt Climate Change!

Nancy Fraser nennt die gesuchte zukünftige Gesellschaftsform «Sozialismus» und beschreibt im letzten Kapitel ihres Buches, wie sich im 21. Jahrhundert dieser historisch belastete Begriff neu auslegen lässt. Ich entscheide mich anders und nenne die Orientierungsgrösse, von der ich mir wünsche, dass wir Grossmütter sie in unserem alltäglichen Handeln prophetisch vorwegnehmen, «Care-zentrierte Ökonomie».

Was politische Grossmütter wissen können

Alle drei Schlüsseltexte legen den Schluss nahe, dass Grossmütter im Sinne einer umfassend verstandenen Verantwortung fürs «Ganze der Wirtschaft» über ihre traditionelle innerfamiliäre Care-Verpflichtung hinausdenken und deren Position im Verwertungszusammenhang verstehen und öffentlich zur Sprache bringen müssen: Der Gratis- oder Billiglohnsektor, in dem sie tätig sind, darf nicht länger von der vermeintlich «eigentlichen», der geldvermittelten und profitorientierten Wirtschaft abgetrennt, als «unproduktiv» oder «nur reproduktiv» bezeichnet und dadurch ausbeutbar gemacht werden. Es gilt, eine festgefahrene Dogmatik aus den Angeln zu heben:

Am 16. Juli 2020 etwa erklärte der Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhueschen in einem Interview: «Wir leben nicht davon, dass wir uns gegenseitig umeinander kümmern, sondern wir leben davon, dass wir ökonomischen und technischen Fortschritt generieren.» (Link)

Am 22. Februar 2022 twitterte der derzeitige deutsche Finanzminister Christian Lindner: «Wir brauchen wieder mehr wirtschaftliches Wachstum durch investitionsfreundlichere Bedingungen. Erst damit erwirtschaften wir uns neue Spielräume, um Geld für soziale und ökologische Zwecke einzusetzen…» (Link)

Beide Sätze stehen für das wirtschaftspolitische Dogma, dass nur zählt, was Geld einbringt und dass deshalb das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ein angemessener Massstab für den Wohlstand einer Gesellschaft ist. Die unbezahlte Care-Arbeit kommt im BIP aber nicht vor. Sie gilt als ausserökonomischer Luxus, den man sich nur leisten kann, wenn man immer mehr Autos, Autobahnen, Parkhäuser, Finanzprodukte und Panzer herstellt. Zwar ist der Glaubenssatz der Profiteur*innen längst widerlegt, aber die meisten Staaten haben noch nicht entschieden, unbezahlte differenziertere Methoden zur Messung von Wohlstand einzuführen. Zwar gibt es Ansätze dazu in vielen Ländern, aber sie haben noch nicht dazu geführt, dass die Mechanismen von Externalisierung und Einverleibung aufgebrochen und in ein neues Verständnis vom guten globalen Zusammenleben überführt werden. Politische Grossmütter werden genau darauf bestehen. Sie werden in Zukunft laut sagen, dass sie nicht zum Vorteil derer tätig sind, die durch ein System des rücksichtslosen Wachstums das gute Leben aller zerstören, sondern dass sie Vorbotinnen einer Wirtschaft und Gesellschaft sind, die sich insgesamt als Sorge füreinander und für die Welt versteht und organisiert.

Was politische Grossmütter tun können

Eine Vereinigung, die sich «GrossmütterRevolution» nennt, existiert in der Schweiz schon seit 2010. Sie versteht sich «als soziale Bewegung, die gesellschaftsrelevante Themen und Anliegen zu Alter, Frausein und Generationen aufnimmt, bearbeitet und sich dazu verlauten lässt.» Dieses Netzwerk, das angefangen hat, am politischen Selbstbewusstsein der Grossmütter zu arbeiten, kann noch lauter und immer lauter werden, und es kann sich, angeleitet von Theoretikerinnen wie Silke van Dyk, Nancy Fraser, Tine Haubner und Anna Saave neu aufstellen. 

Die Siebte Schweizer Frauen*synode hatte das Thema «Wirtschaft ist Care». Sie hat an ihrer Schlussveranstaltung am 4. September 2021 vier Forderungen verabschiedet, die auf Umsetzung warten. Die vierte heisst: «Die Schweiz soll der Wellbeing Economy Governments Partnership beitreten.» Zum Glück gibt es nämlich schon Länder, die sich auf den Weg in ein care-zentriertes Verständnis von Wirtschaft und Politik gemacht haben: Finnland, Island, Kanada, Neuseeland, Schottland und Wales haben sich zur WEGo, der Wellbeing Economy Governments Partnership zusammengeschlossen.  Politische Grossmütter können der Forderung zum Durchbruch verhelfen, dass die Schweiz, zusammen mit dem Rest der Welt, der WEGo beitritt. Und zusammen mit den feministischen Friedensorganisationen cfd, FriedensFrauen Weltweit und KOFF können sie ein neues, bahnbrechendes Dogma in die Welt bringen: Je teurer der Sozialstaat, je umfangreicher die Investitionen in Care-Arbeit, desto friedlicher wird die Welt!

Letztlich kommt es also nicht darauf an, ob wir Grossmütter unsere Enkel*innen betreuen oder uns anderweitig für eine gute Zukunft der Menschheit im verletzlichen Kosmos Erde einsetzen. Wichtig ist, dass wir erkennen, laut sagen und umsetzen, wofür wir politisch einstehen: für eine lebenswerte Zukunft der Menschheit im fragilen Kosmos Erde. Die Kinder, die wir betreuen oder auch nicht, können dabei unsere Lehrmeister*innen sein: Solange sie gut versorgt ist und ihr das Leben Freude macht, ist es meiner Enkelin Lily nämlich gleichgültig, ob sie mit ihrem Vater die Wohnung putzt, mit ihrer Gotte philosophiert oder mit mir Spaghetti kocht. So oder so bedeutet für sie Tätigsein Spiel, Gewinn und Arbeit in Einem: Dasein im guten Leben aller, mit oder ohne Lohn, ohne oder besser mit Blumen. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Hans Strub Hg., Ein Credo für die Zukunft. Perspektiven und Visionen in einer visionslosen Zeit, Boldern/Männedorf (Eigenverlag) 2023, 35-42

Autorin: Ina Praetorius
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 14.09.2023
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Johanna Schier sagt:

    Liebe Ina Praetorius. Danke für diesen Artikel und die Auseinandersetzung mit
    dem Doppelgefühl . “Großmütter, die mit Selbstverständlichkeit Gratisdienstleistungen
    in jungen Familien erbringen, fühlen sich für mich richtig und falsch zugleich an.”

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