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Die Kunst, gesund oder auch krank zu sein

Von Adelheid Ohlig

Genau: die Begriffe Krankheit und Gesundheit gilt es neu zu denken. Es nutzt wenig, sich an einem fest konstruierten Terminus wie Gesundheit, die so und so auszusehen habe, festzuhalten und darauf zu warten, dass man völlig ohne jeglichen aus der Reihe fallenden Befund sei. Die Sozial- und Gesundheitswissenschaftlerin Annelie Keil, emeritierte Professorin der Universität Bremen, ermuntert in diesem Buch zu einem Blick auf die Phänomene unseres Lebens: was ist gesundsein, was heisst kranksein?

Das Buch beginnt mit einem Text aus dem Atharva Veda. Etwa 2000 Jahre vor unserer Zeitrechnung stellten sich die Altvorderen ähnliche Fragen wie wir: «Wer hat die beiden Fersen des Menschen geformt? Wer hält sein Fleisch zusammen? Wer hat seine beiden Fussknöchel gemacht?» Ich mag diese alten Texte, die einfach aus Fragen bestehen und so das Staunen lehren.

Zum Staunen will auch Annelie Keil anregen. Nachdem sie geklärt hat, worum es ihr nicht geht: «dass Gesundheit weder eine medizinische Einbahnstrasse, Einkaufsmeile oder Leertaste noch Krankheit eine Strafe für falsches Verhalten oder eine sinnlose Gemeinheit ist», wendet sie sich dem zu, worüber sie schreiben will: die Sonnen- und Schattenseiten der leibhaftigen Existenz. So wie es blauen und bewölkten Himmel gibt, so wechselt unser Leben zwischen Gesundsein und Kranksein: «Hauptsache unseres Lebens ist das Leben selbst!» 

Keil befreit von schlichtem wenn-dann Denken: «Kaum ein lebendiges Geschehen lässt sich auf eine Ursache und nur eine Wirkung reduzieren.» Ihr geht es um die Kunst, gesund zu sein wie auch um die Kunst, krank zu sein. «Der Körper fühlt, lügt und schwätzt mit».

Keil beschreibt unsere Entwicklung als Evolution aus dem Überraschungsei unseres Anfangs. Gesundheit erscheint ihr als Lebenskompetenz, die wir erarbeiten, pflegen, verlieren, wieder aufnehmen, neu betrachten …so gehe es immer weiter, denn das Leben ist vielfältig, bunt, verwirrend.  Störungen stellen Fragen, Krankheit stiftet zu Gesundheit an.

Im Gestaltungsprozess des Menschwerdens ist fast nichts endgültig festgelegt, sondern wird nutzungsabhängig strukturiert. Die menschliche Entwicklung, schreibt die Autorin, ist ein grosser Gesang, eine unendliche Improvisation der Grundmelodie. «Gesundheit und Krankheit sind wie Lieder und Variationen dieser Grundmelodie und begleiten diese mit ihren Klängen und Stimmungen.»

Leben als Weg durch die Fremde will immer wieder neu gewagt werden. Subjektives Wohlbefinden sieht sie als persönliche Kreation, für die man die Welt um sich herum benutzen muss. Es gilt, sich auszuprobieren, das Leben zu erkunden, zu entdecken, zu experimentieren. «Neben der Lust auf ein Leben in bester Gesundheit bis zuletzt ist im Leben oft genug Mut, Entscheidungs- und Risikobereitschaft und vor allem Geduld nötig.»

 Geduld scheint eine wichtige Ingredienz unseres Lebens, nicht umsonst werden Leidende PatientInnen genannt. Und nur man selber weiss, bewusst oder unbewusst, um den Zusammenhang zwischen Befund und Befinden. Nur man selber kann herausfinden, was aus der Balance gebracht hat. «Wenn die Organe ihr Schweigen brechen und die Seele streikt, berichten sie nicht nur von somatischen Veränderungen und seelischen Auffälligkeiten, sondern von einem Wandlungsprozess.» Gesundheit, so schreibt Keil, sucht immer wieder nach dem Gleichgewicht, reguliert sich selbst dynamisch.

Und so wie die Alten vor Tausenden von Jahren ihre Fragen an das Leben stellten, so stellen wir sie weiter. Wissenschaft fängt immer mit dem Fragen mitten im Leben an. Begeben wir uns in die Lebenswerkstatt und befragen die Organe!

Annelie Keil, Wenn die Organe ihr Schweigen brechen und die Seele streikt – Krankheit und Gesundheit neu denken, Scorpio Verlag München, 2015, Goldmann Taschenbuch 2017, 269 Seiten, 11 Euro.

Autorin: Adelheid Ohlig
Redakteurin: Juliane Brumberg
Eingestellt am: 11.01.2024

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