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75 Jahre Grundgesetz – Wie schauen Frauen auf das Jubiläum  

Von Juliane Brumberg

Derzeit wird das Jubiläum des Deutschen Grundgesetzes in den verschiedensten Medien gewürdigt. Ich möchte zwei Bücher, beide von gestandenen Journalistinnen geschrieben, empfehlen. In dem einen wird sehr anschaulich und spannend erzählt, unter welchen Bedingungen das Grundgesetz überhaupt entstand. Das andere wendet sich primär an Jugendliche, ist von einer Mutter mit ihrer Tochter geschrieben und erklärt jungen Menschen die Bedeutung der einzelnen Artikel. Aber es ist auch für erwachsene Leser:innen aufschlussreich.

In die Atmosphäre, die nach dem schrecklichen Weltkrieg in Deutschland herrschte, können wir uns heute kaum noch hineinversetzen. Und haben sie vielleicht auch gar nicht auf dem Schirm, wenn wir an unser Grundgesetz denken. Aber da setzt schon der Kunstgriff von Sabine Böhne-Di Leo an. Ihr Buch „Die Erfindung der Bundesrepublik“ beginnt nämlich nicht mit politischen Verhandlungen, sondern mit einem Flugzeugabsturz. Sie hatte die geniale Idee, die Entstehung des Grundgesetzes mit der zeitgleichen Luftbrücke nach Berlin in Verbindung zu setzen – und damit auch die Lebensverhältnisse zu schildern, aus denen heraus Deutschland wieder eine gesetzliche Basis bekommen musste. Ein bisschen ist es mit der Luftbrücke wie mit dem Grundgesetz: wir wissen, dass es sie gab bzw. dass Grundgesetz gibt, aber Genaueres??? Da sind viele Fragezeichen. Die Autorin schildert anschaulich die gigantische logistische Leistung, die die West-Alliierten mit der Luftbrücke in das zerbombte, frierende und hungernde Berlin erbracht haben parallel zu dem äußerst schwierigen Ringen um eine neue Verfassung in Deutschland. Welche Rolle spielten die Amerikaner? Die Franzosen? Was war mit den Politikern aus Berlin? Und überhaupt, wer weiß schon, dass und warum Berlin nach dem Krieg für 19 Monate eine äußerst beliebte Oberbürgermeisterin hatte? Sabine Böhne-di Leo hat unglaublich viele Fakten recherchiert, auch menschliche über die einzelnen Politiker (und die wenigen Politikerinnen), und diese gekonnt miteinander verknüpft. Ich finde das Buch mindestens so spannend wie einen Krimi. Und irgendwie war diese Zeit ja auch wie ein angsteinflößender Krimi, weil man nie wusste, wie die Russen in der anderen Hälfte Deutschlands reagieren würden und ihnen gleichzeitig entschlossen entgegentreten musste. Aber auch innerhalb der Verhandlungen war es zum Teil dramatisch. Ein Grundgesetz mit oder ohne Todesstrafe? Wieviel oder wie wenig Macht bekommen die Länder? Wer darf übers Geld bestimmen? Ist es wichtig, dass die Gleichberechtigung der Frauen ausdrücklich festgeschrieben wird? Gehört das in eine Verfassung? Und dazwischen immer wieder kleine, witzige Bemerkungen darüber, wie es gemenschelt hat unter den Parteipolitikern im Parlamentarischen Rat. Faszinierend, wie es der Journalistikprofessorin Sabine Böhne-Di Leo gelungen ist, diese komplexe und trockene Materie so lebendig und trotzdem kurz und prägnant aufzuarbeiten – ohne dass es eine Minute langweilig wird. Ein Buch dem ich viele Leser und Leserinnen wünsche, gerade auch unter jungen Menschen, die sich diese Zeit überhaupt nicht vorstellen können.

Ebenso eine Fundgrube für junge Menschen (und natürlich auch ältere) ist das Buch „Jede*r hat das Recht“ von Christine und Milla Olderdissen. In gewisser Weise knüpft es an die Erzählung über die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes an indem es sich ausführlich der Bedeutung der einzelnen Paragraphen widmet und versucht, diese an dem Erfahrungsbereich von jungen Menschen zu erläutern. Die Aufmachung ist aufgelockert und mit vielen Überschriften gestaltet. Diese haben Titel wie „Familie ist, wo Kinder sind“, „Bunte Vielfalt der Familienformen“, „Der Unterschied: Meinung oder Tatsache“, „Mein Zimmer, mein Reich – Recht auf Privatsphäre“, „Das Briefgeheimnis – irgendwie altmodisch“, „Hier darf der Staat nicht rein“. Die Autorin Christine Olderdissen ist Juristin und hat ihre ganze fachliche Kompetenz in die Erklärung der politische Bedeutung der einzelnen Grundgesetz-Artikel gelegt und dabei dargestellt, wie wichtig sie sind – immer im Erfahrungshorizont von Jugendlichen. Fallen Beleidigungen im Klassenchat unter die Meinungsfreiheit? Wie ist es mit Tagebüchern und anderen Geheimnissen? Wie weit gilt das Briefgeheimnis? Wie stehen das Verbot von Grafittis und die Kunstfreiheit miteinander im Konflikt?
Am Beispiel von Artikel 6 des Grundgesetzes „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung“ geht das Buch auch darauf ein, wie Gesetze an die Lebenswirklichkeit angepasst werden müssen. Die Autorinnen erklären, warum die im Jahr 2017 beschlossene Öffnung des Ehebegriffs angesichts inzwischen vielfältig praktizierter Lebensformen eine sinnvolle Entscheidung war. Und fügen eine wohlmeinende Bemerkung an: „Übrigens: Kinder aus Regenbogenfamilien nach ihrer Entstehung zu fragen, geht gar nicht. Diese Frage ist sehr persönlich.“

Beide Bücher machen deutlich, was für ein wertvoller Schatz unser Grundgesetz ist. Der Blick in die Paragraphen zeigt, wie bedeutsam sie für unser Zusammenleben sind. Der Blick zurück zeigt, dass es harte Arbeit und nicht selbstverständlich war, sie zu formulieren und beschließen zu können.

Sabine Böhne-Di Leo, Die Erfindung der Bundesrepublik, Wie unser Grundgesetz entstand, Kiepenheuer & Witsch Köln 2024, 218 Seiten, 23 Euro.

Christine und Milla Olderdissen, Jede*r hat das Recht, Fälle, Fakten und Gedanken zum Grundgesetz, Gabriel Verlag 2023, 189 Seiten, 15 Euro.

Autorin: Juliane Brumberg
Redakteurin: Juliane Brumberg
Eingestellt am: 09.03.2024
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