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Begegnungen

Von Silke Teuerle

Aus Platzmangel habe ich letztens meine Büchersammlung umstrukturiert. Nein, ich sammle keine Bücher, die Bücher sammeln sich an, und das führt gezwungenermaßen alle paar Jahre zu Platzmangel. Grob dargestellt unterscheide ich in meinem Regal Fiktion und Sachbuch, innerhalb Sachbuch unterscheide ich thematisch, Fiktion sortiere ich nach Sprachgebiet, die weiteren Details erspare ich Ihnen. Die letzten Jahre wuchs vor allem die Abteilung Sachbuch. Ich habe so gut wie keine Romane gelesen. Schwer zu sagen, warum. Irgendwie wollte ich immer irgendwas wissen.

Beim Umstrukturieren meiner Büchersammlung habe ich radikal aussortiert und verkauft und weggeschenkt und von dem, was übrig blieb, habe ich nur meine absoluten Lieblingsbücher ins Regal gestellt. Der Rest verweilt vorerst in Kisten auf dem Speicher und wartet auf eine Eingebung.

Das alles kommt so:

Als meine Mutter vor mehr als zehn Jahren starb, hinterließ sie eine Menge Zeug. Bücher, Klamotten, Nähzeug, Taschen, Schmuck, viel Schnickschnack. Wirklich sehr viel Schnickschnack. Etwas später verstarb eine Großtante. Der hatte ich beim Umzug vom Haus in eine Wohnung geholfen und also entrümpelt. Später zog sie ins Altenheim und als sie dann gestorben war, half ich das Zimmer auszuräumen. Eingepackt handelte es sich da noch um etwa zwei große Müllsäcke.

Ich möchte leicht sterben, wenn es irgendwann so weit ist. Und ich weiß natürlich nicht, wann es so weit ist. Zwei große Müllsäcke erscheinen mir akzeptabel.

Seitdem minimalisiere ich peu à peu. Klamotten weg, Papierkram weg, Schnickschnack weg, Bücher nur sehr zögerlich bis sie zu Platzmangel führen und hier wird meine Aufteilung in Sachbuch und Fiktion relevant: als ich nach der letzten, diesmal radikalen Umstrukturierung mein minimalistisches Bücherregal begutachtete, erfreuten mich nur die Romane. Romane, die ich vor zehn, zwanzig, dreißig Jahren gelesen hatte. Die Sachbücher, die ich mit so viel Begeisterung und Wissensdurst verschlungen habe, die mich zum Nachdenken und Mitdenken angeregt und mein Handeln beeinflusst haben, waren mir so gut wie schnuppe.

Was ist das nur mit Romanen? Mit diesem Wegtauchen in Geschichten, die sich so nie wirklich abgespielt haben. Nur im Kopf. Und was sich beim Lesen im Kopf abspielt, ist noch nicht einmal dasselbe, was sich im Kopf beim Schreiben abgespielt hat. Eine erfundene Geschichte schafft tausende gelesene Geschichten. Was wir lesen, ist kaum, was dort steht. Irgendwie resonieren wir mit dem Klang der Geschichte in unserer eigenen Tonart. Es ist, als würden wir ins Innere der Schreibenden tauchen und begegnen dort doch vor allem uns selbst in ungeahnten Formen. Ein Roman ist ein Raum in der Fremde, in dem wir etwas werden, was wir bisher nicht waren, aber in uns haben. In der Grenzenlosigkeit der Fiktion spiegelt sich unser Potenzial. Ich glaube nicht, dass ich derselbe Mensch wäre ohne jemals Romane gelesen zu haben. Jede Begegnung hinterlässt Spuren. Aber vor allem die fiktive, weil sie so grenzenlos ist.

Wenn ich mich vor meinem minimalistischen Bücherregal an diesen zehn, zwanzig, dreißig Jahre alten Büchern erfreue, erfreue ich mich an meinen Reisen durch mein Selbst. Und das möchte ich bei mir haben, wenn ich sterbe.

Autorin: Silke Teuerle
Redakteurin: Juliane Brumberg
Eingestellt am: 22.03.2024
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Monika sagt:

    liebe Silke,

    meine minimalisierung begann – auch notgedrungen vor zehn jahren als ich von einer 110 m2-altbauwohnung in wien in mein kleines 50 m2-ausgedingehäuschen übersiedelte – alles war zu groß und zu viel – möbel / bilder / bücherregale mit ca. 2.000 bücher ….

    vor ca. fünf jahren folgte ein aussortieren meiner stöße von tagebüchern die ich über die letzten zehn übersiedlungen – und die natürlich immer mehr wurden – mitgeschleppt hatte …

    meine mutter starb / meine beste freundin in einer übervollen wohnung starb / ich habe seit vier jahren LongCovid und begann vor einem halben jahr nochmals mit aussortieren – unterlagen der praxis / geschirr / schuhe und kleidung – und nochmals ein aussortieren meiner doch schon reduzierten bücher –

    vor drei monaten
    du schreibst: „als ich nach der letzten, diesmal radikalen Umstrukturierung mein minimalistisches Bücherregal begutachtete, erfreuten mich nur die Romane. Romane, die ich vor zehn, zwanzig, dreißig Jahren gelesen hatte. Die Sachbücher, die ich mit so viel Begeisterung und Wissensdurst verschlungen habe, die mich zum Nachdenken und Mitdenken angeregt und mein Handeln beeinflusst haben, waren mir so gut wie schnuppe.“ –

    und ich musste lächeln denn genau so ging es mir auch – die vielen sachbücher die mir so wichtig waren „die mich zum nachdenken und mitdenken angeregt und mein handeln beeinflusst haben“ interessieren mich nicht mehr – ich konnte sie an eine liebe freundin für ihr antiquariat verkaufen – das erleichterte es sehr …

    eines tages – sei er fern oder nahe – gehe ich so wie ich kam – mit nichts außer meinem gelebten leben – und möchte nur kleines gepäck hinterlassen ….

    Monika Krampl, geb. 1950
    Psychotherapeutin, Autorin, Essays, Erzählungen und Lyrik
    2018 Buch „LebensZeichen. Erzählungen übers Älterwerden und mehr“,
    2018 Veröffentlichungen in: Anthologie „AUFbrüche, Feministische Porträts und Lebensbilder“ ,
    2023 Die Brache – Hefte für Poesie 5/ 6; Anthologie „Ungebunden“; Auden for Locals –
    W.H.Auden und seine Jahre in Kirchstetten

  • Jutta Nolte sagt:

    Liebe Silke,
    auch ich habe wegen eines Umzugs meine Bücher und anderes aussortiert.
    Auch ich kann mich von etlichen Romanen nicht trennen, aber auch von Sachbüchern. Zu jedem einzelnen Buch weiß ich, wann und aus welchem Grund ich es las. Sätze aus einzelnen Büchern, die mir bedeutsam waren und sind, haben mich in Richtungen meines Lebens geführt und ich weiß sie heute noch. Diese Bücher sind Stationen meiner Biografie. Die Geschichten beinhalten auch einen Teil meines Lebens, den ich nicht gelebt habe, weil wir in unserem übersichtlichen Leben nicht alles leben und ausleben können. Sie sind Inspiration, nicht gelebte Träume und Erfahrungen. Diese Geschichten sind aber auch Ergänzungen zu meinen Erfahrungen, sind Bestätigungen meiner Wahrnehmung, drücken aus, was mir nicht gelungen ist, auszudrücken und zu sagen.
    Diese meine Bücher machen mich aus. Ich habe mich immer gefragt, was aus ihnen wird, wenn ich sterbe. Nun weiß ich: Ich nehme sie mit, weil sie ein Teil von mir sind!
    Jutta Nolte

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