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Rubrik leben

Es war einmal ein wildes und gefährliches Leben – und heute?

Von Monika Krampl

Surfen auf der Welle des eigenen Lebens und sich nicht unterkriegen lassen, wenn die Welle bricht. Foto: Monika Krampl

Heute, mit meinen 70 Jahren, bin ich froh, als „Nomadin“ wild und gefährlich gelebt zu haben[1]. Ich habe mich immer als „Reisende“ bezeichnet. Im Gegensatz zu den „Sesshaften“. Es brauchte Mut, – vielleicht war ich auch übermütig, und so manches Mal auch nicht achtsam. Ich surfte auf den Lebenswellen mit dem Gefühl – mir kann nichts passieren. Ich war so sicher in diesem Gefühl zu Hause, dass ich nicht einmal in Erwägung zog, dass mir etwas passieren könnte.
Jetzt im Nachhinein gesehen, denke ich mir so manches Mal – Wahnsinnsfrau – was für ein wildes Vollblutweib – welch ein Mut / welch ein Übermut!

Welch ein Glück, dass sich die Tödin zurückgehalten hat / vielleicht war sie auch nur neugierig, was mir noch alles einfällt ….

Ich bin dankbar – unendlich dankbar, dies alles erlebt zu haben – damals …

Als ich älter wurde – und mein Tun nicht mehr als so selbstverständlich angesehen habe – streifte mich die Dakini-Energie zum ersten Mal. Ich erinnerte mich an die Menschen, denen ich Unrecht getan / die ich verletzt hatte. Eine so bedingungslose und rasante Reise ist nicht möglich, ohne den einen oder die andere Sesshafte zu verletzen. Ich entschuldigte mich. Einige haben mir verziehen, einige nicht. Damit gilt es auch zu leben.

Und heute?

Heute spüre und sehe ich die Tödin an meiner Seite. Manchmal bedanke ich mich bei ihr, dass sie mich alle Abenteuer meines Lebens einfach machen hat lassen. Ich weiß, sie wird mich irgendwann an der Hand nehmen – zu meiner letzten Reise / dem letzten Abenteuer …

Die letzten Jahre waren nicht einfach für mich. Ich wurde zur Sesshaften und wollte es nicht wahrhaben. Ich trauerte der Zeit der Reisenden nach. Ich vermisste die Wildheit / die Gefahr. Mein Leben erschien mir langweilig. Das soll’s jetzt gewesen sein? Wie kann man bloß ein Leben ohne Exzesse leben?

Und immer wieder das Zurücksehnen – so wie es war – so wie ICH war – alles war damals möglich – jederzeit …

Und ich erinnerte mich – erinnerte mich – erinnerte mich …

Und dann kam sie nochmals mit einer gewaltigen Energie – die Dakini-Energie wirbelte mich herum und heraus aus meinem gewohnten Leben – ich surfte nicht mehr auf der Welle – sie zog mich nach unten zum tiefsten Meeresgrund.

Dakini, auch als Himmelstänzerin oder Himmelswandlerin bezeichnet, ist ein Geistwesen des antiken Indiens, welches nach der Mythologie die Seelen der Toten in den Himmel bringt. Eine indische Tödin sozusagen, aber nicht nur. Doch, noch war es nicht so weit.

Die Dakinis können das eigene Weltbild schon mal auf den Kopf stellen und dann tun wir gut daran, durchzuatmen, aufzuhören mit dem jammern und dahinlavieren, sich hinzusetzen und einmal nachzuschauen, was da jetzt eigentlich los ist.[2]

Die Reise nach innen

Damit begann die Reise nach innen, die nicht weniger gefährlich war. Mich dem zu stellen, was ich alles getan hatte. Nein, ich war nicht immer die Gute. Ja, ich habe Fehler gemacht. Ja, ich hätte vieles anders machen können, – Zweifel waren da / Trauer über das was nicht war / über das was hätte sein können / Schuldgefühle. Ich begann genau hinzuschauen – auf das Gute und das Schlechte.

Ich merkte, dass es wesentlich leichter gewesen war, meiner Familie die Fehler zu verzeihen, die sie begangen haben, als mir selbst zu verzeihen.

Ich sammelte mich

In der buddhistischen Lehre hat die Sammlung einen hohen Stellenwert. In dieser Sammlung geht es nicht um Macht oder Erfolg – um immer mehr im Außen. Es geht um eine innere Läuterung, die sowohl das äußere wie auch das innere Leben verändert und die schlussendlich das Unbefriedigtsein / die ewige Sehnsucht nach etwas Anderem / – das  „Leiden an was auch immer“, befreit.

Ich begann im Außen auszulichten – Tagebücher / Bücher / Kleidung / Wohnutensilien – ich reduzierte. Darüber habe ich in diesem Jahr ausführlich erzählt. Ich habe meine Wohnfläche reduziert. Ich habe die vielen Dinge und Sachen, die ich mit den Jahren angesammelt und mitgeschleppt hatte, reduziert.
Unter den Schlagworten „Veränderung / Loslassen / Auslichten“ habe ich allein in diesem Jahr neun Erzählungen geschrieben!

Reduktion auf das Wesentliche.

Loslassen ist das große Wort zur Befreiung.

Mein Herz und meine Seele haben mir ein Mantra[3] geschenkt. Nicht der Verstand, nein. Ein Mantra muss aus dem Herzen kommen. Es ist ganz einfach und lautet:

„Lass es gut sein“

Es enthält das „lass es = das loslassen“ und es enthält das „gut = es darf gut sein / es ist gut“.
Und immer wenn ich merke, dass ich mit meinen Gedanken in der Vergangenheit hängen bleibe, rezitiere ich dieses Mantra. Es reinigt meinen Geist und die damit verbunden Gefühle.

Ein Ankommen im „Hier und Jetzt“

Das „Hier und Jetzt“ ist nicht nur mit der Vereinfachung meines Lebensstils verbunden, einer Wieder-Verbundenheit mit der Natur, den Tieren, sondern auch mit Verlangsamung und Achtsamkeit.
Das Praktizieren der Vipassana- (Achtsamkeits)Meditation[4], die mich auch meine wilden und gefährlichen Zeiten gut überstehen hat lassen, da ich auch damals immer wieder dahin zurückgekehrt bin.

Jetzt bestimmt sie meinen Alltag.

Achtsamkeit im Geist. Ich lese viele der Bücher, die langsam gelesen werden wollen, und die ich immer schon lesen wollte, aber mir nie die Zeit dazu nahm.
Achtsamkeit im Herzen. Ich übe mich in der großen und wahrscheinlich lebenslangen Übung „Metta – Liebende Güte“. „Diese „LIEBE“ ist erlernbar im Gegensatz zu der üblichen, weltlichen Ansicht von Liebe. „Liebende Güte“ basiert nicht auf Anziehung, auf Besitz, auf Erwartung und Austausch – es ist ein freiwilliges Herzensgeschenk ohne Anspruch auf Dank oder Gegengabe. Man kann es Freundlichkeit, Wohlwollen, Gut-Gesonnen-sein nennen und es zeigt sich in Mitgefühl im Freude Gönnen, in Nachsicht und Geduld.“[5]
Achtsamkeit der Seele. Großes Schweigen und Vorbereitung auf das endgültige Loslassen.

Und heute?

Langsam bin ich angekommen in meinem Leben als Sesshafte.
Sanft im Umgang mit meinen Lieben und mir selbst.
Immer wieder auch zornig in Bezug auf gesellschaftspolitische Ungerechtigkeiten und Missstände.

Und beides darf sein.
Die Kunst ist die Ausgewogenheit zwischen verschiedenen Umständen und Befindlichkeiten.

Wie es weiter geht?

Ich habe keine Ahnung. Das mag für manche vielleicht auch gefährlich klingen. Für die, die so gerne auf der sicheren Seite sind. Aber es gibt keine sichere Seite. Es gibt nur das Leben. Und es kommt, wie es kommt.

„Leben ist das, was passiert, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen.“ (John Lennon)

Vor zwei Jahren habe ich das Buch „ LebensZeichen. Erzählungen übers Älterwerden und mehr …“ veröffentlicht. Auf der Rückseite des Buches steht:

Mit 18 konnte ich mir ein Leben nach 30
Nicht vorstellen
Mit 30 versuchte ich mir ein Leben mit 50 vorzustellen
Mit 50 erwischte mich der Älterwerden-Blues
Mit 60 erlebte ich die Endlichkeit von Allem
Mit 67 keine Vorstellungen mehr –
Das Glück der stillen Stunden / der kleinen Dinge
Einfach leben
&&&
Der einzige Halt liegt im Loslassen


[1] Diese Erzählung entstand angeregt durch die Erzählung „Wild und gefährlich“ von der wunderbaren und schon oft zitierten Cambra Skadé. https://cambraskade.blog/2020/10/21/wild-und-gefahrlich/,

[2] „Man kann die Dakinis nicht nur als mythologische Wesen, sondern auch als Symbole für die inneren, psychologische Prozesse des Einzelnen verstehen. Somit symbolisieren sie alle Inspirationen, die anregen, auf dem Weg des Buddha-Dharma weiter voranzuschreiten. Diese sind nicht immer nur wohlwollend, sie können auch plötzlich und in beängstigender Weise das jeweilige Weltbild auf den Kopf stellen und die begrenzenden Fesseln und Mauern zerschlagen. Wie diese “Befreiungsschläge” dann empfunden werden, hängt von der jeweiligen Bereitschaft ab, sie anzunehmen und zu integrieren. Da die Dakinis frei von jeglicher Konvention sind, scheuen sie sich nicht, auch die ungewöhnlichsten Wege zu beschreiten, um aufzurütteln und zu helfen.

[3] „Die indoeuropäischen Sprachen, die vom Sanskrit abstammen, sollen von der hinduistischen Göttin KALI MA  erfunden worden sein. Sie brachte das erste Wort hervor, „Om“, das die Bedeutung von Ei hat. Es ist die „höchste Silbe aller Laute“ (Barbara G. Walker). (…) Die eigentliche Bedeutung der KALI  basiert auf ihrer Erfindung der Buchstaben, da anzunehmen ist, dass es Sprache lange vorher gab. Die Schaffung von Buchstaben ermöglichte die Sichtbarmachung von Lauten und Worten. Die magischen Buchstaben schrieb die Göttin auf Schädel, die sie als Kette um den Hals trug. Die Silben waren in vier Kategorien eingeteilt, die die Elemente als Grundsubstanz alles Lebenden und alles Toten ausdrückten: Va = Wasser; Ra = Feuer; La = Erde und Ya = Luft. Sie wurden von der Muttersilbe Ma, der Verkörperung der Geisteskraft, zusammengehalten. Die Buchstaben von KALIS Alphabet waren die MATRIKA „Mütter“, und die Worte waren geheime MANTRAS, Worte der Macht, durch die zerstört und neu geschaffen werden konnte. (…) Aus: „Die Quellen der Philosophie sind weiblich“, Ingrid Straube, ein-FACH-Verlag, 2001

[4] Zu den Grundlagen der Vipassana-Meditation gehören die Sieben Faktoren des Erwachens. Sie sollen dir dabei helfen, deinen Geist zu befreien. An erster Stelle steht die Achtsamkeit, danach folgen die Wahrheitsergründung, die Willenskraft, die Freude, Gelassenheit, Sammlung und Gleichmut.
Achtsamkeit bezeichnet das Leben im Hier und Jetzt im vollen Bewusstsein der eigenen Gedanken, Gefühle und Handlungen. Mit Wahrheitsergründung ist das Verstehen der buddhistischen Lehre gemeint.
Achtsamkeit ist auch ohne Buddhismus möglich. Selbst, wenn Achtsamkeit ein wesentlicher Bestandteil des Buddhismus ist, heißt das nicht, dass du dich voll und ganz dieser Lehre hingeben musst, um Achtsamkeit üben zu können. Die Geisteshaltung lässt sich auch praktizieren und trainieren, wenn du kein Buddhist bist. Schließlich ist es eine bestimmte Haltung dem Leben gegenüber, die sich durch Wachheit und Mitgefühl auszeichnet.

[5] Herzensgüte ist eine große heilende Kraft.
Sie ist ein Heilmittel gegen Angst, Unsicherheit und die jetzige Ungewissheit in dieser Corona-Zeit. Sie ist ein Energie-Spender für Herz und Hirn. Wir stärken mit Liebeskraft unser Selbstwertgefühl und bekommen äußerlich und innerlich gesunde Widerstandskraft.
Liebende Güte kommt manchen Menschen sehr entgegen, andere haben damit ihre Schwierigkeit. Diese „LIEBE“ ist erlernbar im Gegensatz zu der üblichen, weltlichen Ansicht von Liebe. „Liebende Güte“ basiert nicht auf Anziehung, auf Besitz, auf Erwartung und Austausch – es ist ein freiwilliges Herzensgeschenk ohne Anspruch auf Dank oder Gegengabe. Man kann es Freundlichkeit, Wohlwollen, Gut-Gesonnen-sein nennen und es zeigt sich in Mitgefühl im Freude gönnen, in Nachsicht und Geduld. (Ursula Lyon, vor 40 Jahren meine sehr geschätzte erste Lehrerin in Vipassana-Meditation)

Autorin: Monika Krampl
Redakteurin: Juliane Brumberg
Eingestellt am: 22.11.2020
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Dr. Gisela Forster sagt:

    Wunderschöne Gedanken – großartige Sprache – ergreifende Philosophie – eine einzige Freude, dies zu lesen.

  • Danke, liebe Monika, für deine kraftvollen Worte, die innere Bilder malen und Melodien erklingen lassen. Ich bin so froh in einer Welt zu leben, in der ich mich an Role Models wie dir orientieren kann.

  • Mechthilde Vahsen sagt:

    Inspirierend. Ich bin 55 und meine Reise nach innen hat gerade begonnen.

  • Achtundsechzig sagt:

    Habe rückblickend irgendwann die Verarschung meiner Kinheit entlarvt, wo ich mich in falscher Sicherheit glaubte. Haha – was für eine schöne Kindheit! (?) Was war man doch bescheiden und genügsam als Mensch im gesellschaftlichen Block zweiter Klasse im Nachkriegs-Deutschland aber latent die Signale bzw. die Unterschiede interpretierend und sich schämend, sich identifizierend mit den sich den Vergleich suchenden, abnorm mühenden Eltern.
    Die Mutter eine Vertriebene, eine Getriebene.
    Schon die sesshafte Kusine in hochmütigem Unverständnis. Und manche Männer nennen sich Urgestein. Im Gegensatz zum Geröll sind sie unbeweglich und rühren sich nicht vom Fleck. Sie hören nicht gern hin, wenn berichtet wird, dass das Land durchzogen ist von jenem “Fremdenhass” auch gegen die “eigene” Spezies.
    Als junge Frau und Mutter dann einen ungeheuer hohen Preis gezahlt: Heimatlosigkeit und Entwurzelung. Wie über den Tisch gezogen.
    Was sind die Wurzeln?
    Den Kindern konnte man keine Wurzeln in die Herkunft mitgeben und somit fallen die Flügel in die Zukunft relativ schwach aus.
    Als Ältere um eine neue Chance vergeblich gerungen….
    Als Alte wachsen die Hände zum Schreiben. Mann – behalt deine Religion!

    Welch ein Mut! – und welches (z.B. mit dem Leben bezahltes) “Risiko” , welch ein Selbstvertrauen? Gottvertrauen? (oder Kühnheit? Naivität?) in dieser Zeit, in dieser Welt , sechs “eigene” Kinder zu begrüßen!

  • Schirez, Hana sagt:

    Liebe Mechthild.
    Mit 55 Jahren schon der Rückzug nach i n n e n ?
    Da beginnen Andere mit dem Motorradfahren oder wagen sich auf
    Inlineskater oder lernen auf dem Eis tanzen mit Schlittschuhen.
    Bei allem Respekt für Monika Krampl, aber… auch mit 70 Jahren
    kann frau Neues beginnen, über Abgründe springen.

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