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Freitod und Freiheit: Das digitale Theaterstück werther.live

Von Anne Lehnert

Digitale Theaterstücke habe ich lange gemieden, weil ich sie mir langweilig vorstellte: abgefilmte Bühnenaufführungen. Jetzt habe ich ein echtes Online-Theater entdeckt. werther-live ist ein Stück des Kollektivs punkt.live, das die Regisseurin Cosmea Spelleken und die Kamerafrau und Editorin Lotta Schweikert mit Leonard Wölfl begründet haben.

Digitale Theaterstücke hat Anne Lehnert lange gemieden. Aber das Stück "Werther-live" von Regisseurin Cosmea Spelleken hat sie überzeugt. Nächste Aufführung ist am 4. Juli.
Screenshot vom Instagram-Account des Projekts Werther.live.

Bei diesem Theaterstück ist das digitale Format inhaltlich motiviert und macht den Stoff des Stücks aus. Der setzt sich zusammen aus WhatsApp-Nachrichten, Instagram-Posts, Skype-Telefonaten und Zoom-Meetings. Werther lernt Lotte über Ebay Kleinanzeigen kennen, schickt ihr über WhatsApp den Link zu seinen Collagen auf Instagram und bekommt nebenher Text- und Sprachnachrichten von seinem Freund Willi. Das Publikum sieht den geteilten Bildschirm der Figuren. Die Schauspieler:innen haben bei der Live-Aufführung die Freiheit, zu improvisieren, und treten über Instagram in Kontakt zum Publikum.

Es ist herausfordernd, so viel gleichzeitig im Blick zu haben. Und es ist auch toll, weil es den Briefroman in die Gegenwart holt, auf ganz selbstverständliche Weise. Wie es im Nachgespräch ein Zuschauer formulierte, ist es faszinierend, dass das Dargestellte mit der Darstellung übereinstimmt. werther.live ist, so stellte er fast verwundert fest, ein klassisches Stück, da es der von Aristoteles geforderten Einheit von Zeit, Ort und Handlung entspricht.

Diese Herausforderung finde ich unbedingt begrüßenswert. Es ärgerte mich als Buchhändlerin, wenn Bücher als Wellness für die Seele angepriesen wurden, und auch als leicht überforderte Mutter eines Babys stimmte ich dem Regisseur zu, der im Publikumsgespräch vehement dafür stritt, den Zuschauer:innen etwas zumuten zu dürfen. Wie Lotta Schweikert betont, ist es auch in Ordnung, sich der Herausforderung ein Stück weit zu entziehen. Das Stück funktioniert mit und ohne die Details, und es gibt immer wieder Neues zu entdecken beim mehrfachen Sehen – so, wie sich beim Roman auch neue Sichtweisen öffnen, beim erneuten Lesen.

Was viele Zuschauer:innen als anstrengend empfinden, ist es auch für die Schauspieler:innen. Sie müssen neben dem Spielen die Technik beherrschen, so Jonny Hoff, der Darsteller von Werther.
Er spricht von Sehgewohnheiten, und dass das Theater die Wirklichkeit abbilden soll, in der wir leben.

Nicht ganz sicher bin ich mir, ob diese Form des Theaters mehr als an der Oberfläche kratzt, ob es wirklich neu und berührend ist, ob es gar eine weibliche Sichtweise darstellt. Als Werther die Möglichkeit des Freitods als höchstes Maß der Freiheit bezeichnet, hält Lotte ihm entgegen, dass sie seit dem (unfreiwilligen) Tod ihrer Mutter die Verantwortung für ihren Vater und ihre Geschwister doppelt empfindet. Sie fragt, ob das wirklich Freiheit sei, über den eigenen Tod zu entscheiden, und spricht von der Verantwortung für andere Menschen, die einen lieben und die man liebt. Werther stellt fest, dass er diese Gefühle von Liebe und Verantwortung bisher nicht kennt.

Interessanterweise gibt es Zuschauer:innen, so berichtet das Theaterkollektiv, die diese Verantwortung Werther gegenüber empfinden und sich um ihn sorgen. Sie warnen Willi und bitten ihn, auf Werther zu achten. Dass ich diesen Impuls nicht empfand, könnte daran liegen, dass mir Instagram fremd ist. Für mich blieb vieles an der Oberfläche, auch meine Interaktion mit Lotte zu Freiburg und zu ihrer Selbstinszenierung. Vielleicht ist aber auch das die Gegenwart und also gut, dargestellt zu werden, statt wie ich, anachronistisch, eine Innerlichkeit zu suchen.

Die nächste Gelegenheit, das Theaterstück zu erleben, ist am Sonntag, 4. Juli 2021, um 20 Uhr über das Stadttheater Ingolstadt, Streaming für 4 Euro über Eventim.

Trailer zum Theaterstück sowie weitere Termine und Infos auf werther-live.de. Dort stehen auch die Instagram-Accounts der Figuren – denen zusätzlich zum Stream zu folgen und mit ihnen in Kontakt zu treten während der Aufführung und auch danach möglich ist.

Autorin: Anne Lehnert
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 26.06.2021

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