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Rubrik Blitzlicht

Das erste Opfer des Krieges ist – der Feminismus?

Von Antje Schrupp

Podium beim Frauenfriedenskongress in Den Haag 1915. Die fünfte von links ist Anita Augspurg aus Deutschland

Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit, heißt ein altes Sprichwort, das angeblich auf Aischylos zurück geht, vielleicht aber auch auf Rudyard Kipling oder Winston Churchill, da ist sich das Internet nicht so ganz sicher.

Noch schneller, so scheint es, stirbt im Krieg jedoch der Feminismus. An den Verhandlungstischen sitzen, soweit ich es mitbekommen habe, sowohl in den russischen als auch in den ukrainischen Delegationen ebenso wie bei den Vermittlern ausschließlich Männer. Dabei hat schon der Frauenfriedenskongress 1915 eine Beteiligung von Frauen an Verhandlungen als wichtigen Baustein für Frieden herausgearbeitet. Aber heute, über ein Jahrhundert später, tun selbst die emanzipiertesten Kommentator*innen wieder so, als wären solche Männerrunden das Normalste der Welt.

Fast scheint es ein Tabu zu sein, angesichts der schrecklichen Lage feministische Analysen einzufordern. Selbst Aktivist*innen sprechen das Thema höchstens als Kritik an Geschlechterstereotypen an; zum Beispiel wenn sie bemängeln, dass Frauen und Kinder die Ukraine verlassen dürfen, Männer aber nicht. Wir brauchen aber geschlechterpolitische Analysen, die tiefer gehen und deutlich radikaler sind als nur Diskriminierungsverhältnisse und die Rückkehr von Klischees zu kritisieren.

Es ist doch kein Zufall, dass die stärksten inländischen Proteste sowohl gegen Putin (Pussy Riot) als auch gegen das Regime von Lukaschenko in Weißrussland feministische Proteste waren. Es ist auch nicht zu übersehen, dass die Unterdrückung von Feminismus und queeren Positionen ein Pfeiler von Putins Herrschaft ist, im Verein mit der Russisch-Orthodoxen Kirche – darüber hat unsere Redakteurin Jutta Pivecka in ihrem Blog geschrieben. Man könnte auch darüber nachdenken, inwiefern die Bewunderung, die Putin von Männern wie Erdogan oder Schröder entgegengebracht wird, etwas mit seiner Performanz von Männlichkeit zu tun hat. Über das „männliche Imaginäre“ schrieben wir 1999 schon in der Flugschrift „Liebe zur Freiheit, Hunger nach Sinn“ – soeben haben wir das entsprechende Kapitel hier veröffentlicht. Und hatte vielleicht Angela Merkels Fehleinschätzung von Putin auch damit zu tun, dass sie glaubte, ihm aufgrund der Machtverhältnisse entgegenkommen zu müssen? Es wäre doch zumindest interessant, die These zu diskutieren, inwiefern ihr Frausein (und die Art seines Mannseins) dabei eine Rolle spielte. Bei weiterem Nachdenken kämen sicher noch viele weitere Aspekte zutage.

Harte Zeiten erfordern konventionelle Analysen? Das Gegenteil ist richtig!

Autorin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 31.03.2022

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Brigitte Leyh sagt:

    Ja, da ist ein großer (Ha!) starker Mann, für den sind Menschen nur Schachfiguren, deren Leben und Leid irrelevant sind, der sich “ergötzt”, wie sein ehemaliger Freund Chodorkovski sagt, über die Bemühungen der anderen Länderchefs mit ihm eine friedliche Lösung zu suchen und die Demütigungen, die sie dafür auf sich nehmen. Für ihn sind sie Memmen, diese tapferen und besonnenen Politiker.
    Er aber sitzt an seinem riesengroßen Tisch in seinem riesengroßen Palast mit seinem riesengroßen Vermögen – und ein paar Leute in Deutschland machen sich noch Sorgen über seine Kränkungen und was man für ihn tun kann.
    In der Zeit sterben und flüchten Tausende und werden verwundet, und eine friedliche Weltordnung ist den Bach runter gegangen.

  • Die ersten Opfer des Krieges sind die Kinder.

  • Jutta-Lotte sagt:

    Die Opfer sind nicht nur die Kinder, auch Frauen und Männer sind es. Die jungen russischen Soldaten, die belogen wurden und nun nicht wissen, wie ihnen geschieht, sind Opfer…ich mag diese mich moralisch anmutende Argumentation nicht, die die Kinder in die erste Reihe schiebt…auch wenn ich um deren unverschuldete Verletzlichkeit weiß. Was haben WIR dazu beigetragen, dass anscheinend ein einzelner Mann so viel Leid über uns bringen konnte?

  • Sandra Divina Laupper sagt:

    Liebe Antje!
    Danke für diesen Text! Speziell der Hinweis auf den Frauenfriedenskongress von 1915 und auf die Frauenrechtlerin Anita Augsburg ist eine tolle Entdeckung für mich! Ich wusste überhaupt nichts von den Kämpfen der Frauen um die Jahrhundertwende… Tolle Frau, diese Anita (habe ein Wikipedia nachgeschaut).

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