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Es geht immer noch schlimmer

Von Juliane Brumberg

„Der Worst Case ist eingetreten und der Albtraum vieler Afghaninnen wurde zur Realität“, so beschreibt Shikiba Babori die Situation in Afghanistan nach dem Abzug der USA und der Nato-Truppen im August 2021.

Dumm nur, dass sich niemand mehr dafür interessiert seit der Angriffskrieg auf die Ukraine, die gestiegenen Gaspreise und andere Sorgen in den Medien dominieren. Die Autorin Shikiba Babori wurde in Kabul geboren, lebt seit über 40 Jahren in Deutschland und arbeitet hier als Journalistin. Bis 2019 war sie immer wieder in Afghanistan, um von dort zu berichten und auch, um vor Ort Journalistinnen auszubilden. Doch wenn sie hier ein Afghanistan-Thema anbietet, wird in den Redaktionen nach dem Deutschland-Bezug gefragt, sonst interessiere es die Menschen nicht. Nun hat sie in einem Buch die desaströse Lage der Frauen in Afghanistan dargelegt. Ein Buch, dass zugleich eine Abrechnung ist. Sie hat ihm den Untertitel „Spielball der Politik“ gegeben.

Darin beschreibt Shikiba Babori, wie in den letzten hundert Jahren jedes Mal die Gleichberechtigung der Geschlechter als politisches Ziel genannt wurde, wenn neue Machthaber sich in Kabul durchsetzen wollten oder von außen interveniert wurde. Auch der militärische Nato-Einsatz wurde von den Amerikanern so begründet. Gebracht hat es den Frauen nichts, im Gegenteil, sie waren und sind die Hauptleidtragenden der Konflikte.

Ausführlich erklärt die Autorin, wie durch und durch patriarchal die afghanischen Stammesgesellschaften aufgebaut sind, wie Frauen fast ausschließlich als Besitz der Männer betrachtet werden, wie rechtlos sie sind, wie sie schon als kleine Mädchen zu Demut und Unterwürfigkeit gezwungen werden und wie die Familienehre über allem steht. Die Wahrung der Familienehre ist so tief in die Kultur eingebrannt, dass auch die Mütter und Schwiegermütter an einem System mitwirken, an dem letztendlich auch die Männer leiden. Gleichzeitig geht es immer auch um männliche Macht und Gewalt, Korruption und undurchsichtige Geschäfte; Machenschaften, die in einer geschlechtergerechten Gesellschaft nicht so leicht funktionieren würden.

Mit Bitterkeit stellt Shikiba Babori fest, dass, wenn es den jeweiligen Invasoren, und insbesondere auch den Amerikanern in den letzten 20 Jahren, wirklich um mehr Freiheiten für die Frauen gegangen wäre, sie Schritt für Schritt eine Bewusstseinsänderung hätten herbeiführen müssen; sie hätten für Bildung und Schulen in den von den Warlords regierten ländlichen Regionen sorgen müssen anstatt Bomben auf das Land zu werfen.

Wenigstens in der Hauptstadt Kabul und einigen wenigen anderen Städten gab es Bildungsinitiativen und fortschrittliche kulturelle Projekte. Eine gebildete Mittelschicht, die das Land dringend braucht, um überhaupt zu funktionieren, wuchs langsam heran. Einiges wurde besser, nichts war gut. Die patriarchalen Strukturen blieben in den Köpfen fest verankert. Und jetzt, nach dem überstürzten Abzug der ausländischen Truppen, ist es schlimmer denn je. Die Taliban verfolgen alle, die an der Modernisierung des Landes mitgewirkt haben. Sie verbieten den Frauen jede Berufstätigkeit und jedes Engagement. Bestürzend, wie die Autorin schreibt, dass sie sich heute, nach der Machtübernahme der Taliban, wünscht, „die Situation wäre noch die von vor einigen Jahren, als ich bereits über die unerträglichen Zustände der Frauen berichtet habe“.

Bei der Lektüre des Buches erfahren wir viele Details aus dem afghanischen Alltag, zum Beispiel, dass die Tradition es in vielen Familien verhindert, dass Frauen einen eigenen Namen führen; sie werden immer nur als Frau von oder Tochter des benannt.
Die Autorin erklärt, wie kompliziert die rechtliche Lage im Falle einer von der Frau gewünschten Scheidung ist, zum Beispiel wegen Gewalttätigkeit des Ehemannes. Eine Scheidung ist rein theoretisch zwar möglich, jedoch ist das Ehegesetz im Jahr 2014 dahingehend ergänzt worden, dass es Ermittlern verboten wurde, Familienangehörige der Frau als Zeugen zu vernehmen. Sie sind meistens die einzigen, die die Gewalt des Mannes mit angesehen haben, können aber die Gewalttätigkeit nicht zu Protokoll geben. Abwertende Fußangeln und Fallen gibt es an allen Enden und Ecken.

Gleichzeitig wäre es bitter nötig, dass die Frauen, gerade auch jene, die bis vor Kurzem als Lehrerin oder bei den internationalen Hilfsorganisationen beschäftigt waren, wieder einer Arbeit nachgehen können, um ihre Familien zu ernähren. Stattdessen werden sie übelst diskriminiert, zwangsverheiratet und von den Taliban bedroht oder geschlagen.

Da ist es kein Wunder, dass sich der Trick des Bacha Posh etabliert hat. Eltern schneiden ihren Töchtern die Haare ab, ziehen ihnen Hemden und weite Hosen an und verkleiden sie als Jungen. So können sie auf die Straße und durch Hilfsarbeiten zum Familienunterhalt beitragen. Das geht so lange gut, bis sich irgendwann nicht mehr verheimlichen lässt, dass sich da eine Frau und nicht ein Mann entwickelt. Dann wird den jungen Frauen ihre weibliche Identität zurückgegeben. Natürlich bleibt dieses Versteckspiel nicht überall verborgen, aber die Öffentlichkeit geht stillschweigend darüber hinweg und thematisiert das nicht weiter.
Shikiba Babori hat beobachtet, dass viele Mädchen darunter leiden, ein Junge sein zu müssen. In vielen Fällen genießen die Mädchen aber auch die Freiheit, die ihnen als männliches Wesen zugebilligt wird und sie entwickeln auch später ein viel selbstbewussteres Auftreten. Das ist mit Sicherheit eine interessante Ergänzung zur Transgender-Debatte, die in den westlichen Ländern geführt wird.

Der Einblick in die wechselvolle, fremdbestimmte Geschichte Afghanistans der letzten hundert Jahre, den das Buch bietet, macht deutlich, wie oberflächlich das allgemeine Wissen in das politische Geschehen ist, wie sehr das, was zu Afghanistan verkündet wird, von den Interessen der verschiedensten politischen Mächte geleitet wird.

Nicht zuletzt ist Shikiba Baboris Buch ist ein Hilferuf. Ein Hilferuf an die Internationale Gemeinschaft, nicht wegzuschauen, wenn mutige afghanische Frauen zu Protesten aufrufen – und dann von den Taliban mit Peitschenhieben und Gewehrkolben niedergeschlagen werden. „Seite an Seite mit den Frauen in Afghanistan! Diesem Ruf sollten wir alle folgen und ihnen beistehen“, schreibt sie, „denn ohne internationalen Druck wird die Gewalt nicht aufhören“.

Shikiba Babori, Die Afghaninnen, Spielball der Politik, Campus Verlag Frankfurt 2022, 224 Seiten, 24 Euro.

Weitere Einblicke in die Situation in Afghanistan bieten ein Interview mit Mariam Wahed und das Buch von Mári Saeed, Mein Kabul, mein Deutschland.

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