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Rubrik denken, erinnern

So viel Liebe, so viel Enttäuschung, so viel Schmerz

Von Dorothee Markert

In der Kirchenzeitung „Evangelisches Frankfurt und Offenbach“ (3/23) las ich folgende von Antje Schrupp verfasste kleine Notiz: „Die Synode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau hat Ende April mit großer Mehrheit ein Schuldbekenntnis gegenüber queeren Menschen verabschiedet. Darin bittet das Kirchenparlament um Verzeihung für in der Vergangenheit zugefügtes Leid und Zurücksetzung. Zehn Jahre nach der Einführung von Trauungen für gleichgeschlechtliche Paare und fünf Jahre nach einer Handreichung zum Umgang mit trans Personen ist dies ein weiterer Schritt in der Anerkennung […] für die Vielfalt geschlechtlicher Identitäten und sexueller Orientierungen“. Wie beim ersten Mal, als ich diese Sätze las, kann ich auch jetzt beim Abschreiben die Tränen nicht zurückhalten. Es ist, als erlaube mir erst dieses Schuldbekenntnis, den ganzen Schmerz zuzulassen über Ablehnung und Ausgrenzung, über die Vertreibung aus einem Zuhause, über das Absprechen von Zugehörigkeit, über die Ablehnung der Bitte, unsere Ehen zu segnen und über Aussagen von Verwandten und Prominenten, sie würden aus der Kirche austreten, falls dies zugelassen würde.

Ich war überrascht über meine Reaktion, denn ich hatte eigentlich gedacht, seit ich in meiner kleinen Gemeinde als Kirchengemeinderätin tätig war, wo viele wussten, dass ich mit einer Frau verheiratet bin, hätte ich diese alten Kränkungen überwunden und mit dem früheren Leid endgültig abgeschlossen.

Kirchenruine
Kirchenruine

Bei unserem diesjährigen Denkwochenende von „Kultur-Schaffen“ war eines unserer Themen die Frage, wie es uns mit dem gegenwärtigen rapiden Bedeutungsschwund der ehemaligen Volkskirchen geht. Ob die Kirchen inzwischen schon mehr und mehr zu „Zombies“ geworden seien, also zu lebenden Toten. Eingebracht wurde das Thema von einer Mit-Denkerin, die in der DDR fast vollständig ohne Kontakt zu Kirche und Religion aufgewachsen, aber dann aufgrund positiver Erfahrungen in die evangelische Kirche eingetreten war und sich seither immer noch mehr in ihrer Gemeinde engagiert. Sie habe zwar auch da und dort Widerstände, fühle sich aber insgesamt genährt durch Gemeinde, Gottesdienste und Kirchenräume. Für sie sei Kirche ein Raum, um kreativ zu sein, sie erlebe Gutes in der Kirche, dort sei sie mit vielen unterschiedlichen Menschen zusammen, so eine Institution könne man doch nicht abschaffen!

Ich sah das ähnlich – hier habe ich schon einmal darüber geschrieben –, doch bei der „Runde“, in der jede von ihren Erfahrungen mit Kirche berichtete, überwog die negative Einschätzung. Zwar hatten fast alle in Kindheit und Jugend gute Erfahrungen mit Kirche gemacht, doch nun war nur noch Enttäuschung zu spüren, von „bekomme dort keine spirituelle Nahrung“, „als Erwachsene springt kein Funke mehr rüber“, „Kritik wird nur noch abgewehrt, die Institution entwickelt sich immer mehr zur Sekte“, „Kirche missbraucht die Rolle von Gemeinschaft, um ihre Macht zu stärken“ bis hin zu massiven und sehr schmerzlichen Ausgrenzungserfahrungen schon bei der Mutter nach deren Scheidung bzw. Wiederverheiratung und dann nochmals aufgrund der eigenen gleichgeschlechtlichen Lebensweise.

Obwohl in unserer Runde so viel Schmerz und Enttäuschung über die Institution Kirche zum Ausdruck gebracht wurde, blieb ich merkwürdig unberührt. Und schon gar nicht hatte ich nach unserem Treffen den Impuls, etwas über unsere Erkenntnisse zu schreiben. Durch meine unerwartete Reaktion auf das Schuldbekenntnis der hessisch-nassauischen Kirche hat sich das nun geändert. Plötzlich füllen sich die Gedanken aus unserer Diskussion wieder mit meinen vorher so sorgsam weggepackten Erfahrungen und den dazugehörigen Emotionen. (Und schon wieder fließen die Tränen).

In der Zeit, als ich aus der Kirche ausgetreten war, aber die Sehnsucht nach dem, was mir Kirche bedeutet hatte, nicht los wurde, sagte einmal eine befreundete Pfarrerin zu mir, Kirche sei für alle da. Und mithilfe dieser Utopie konnte ich mich dann wieder annähern. Die Frage ist, was es braucht, um das möglich zu machen. In unserem Gespräch konnten wir sehen, dass es kaum eine andere Institution gibt, die so viele unterschiedliche Bedürfnisse befriedigt – doch um den Preis der Bindung an eine antiquierte Institution. Gesellschaft brauche solche Räume und Orte, die ganz unterschiedliche Diskurse ermöglichen könnten. Kirche werde vielleicht auch gebraucht als Korrektiv für Politik. Das spreche dagegen, dass sich statt Kirche nur noch kleine Gemeinschaften zusammenschlössen, um ihre spirituellen Bedürfnisse zu befriedigen.

Bisher lade die Kirche zwar ein, doch sie wolle nur unser Mittun in ihrem Sinne, also nur unsere Präsenz , aber nicht unsere Freiheit. Und da seien die Weichen schon vor 30 Jahren falsch gestellt worden. Für die jetzigen Kirchenaustritte sei die Aufdeckung des vielfachen, langjährigen und von den Kirchenoberen gedeckten sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche zwar sicher ein Auslöser, doch nicht deren Ursache.

Und nun sind meine Erinnerungen an die Zeit vor etwa 30 Jahren plötzlich wieder gegenwärtig, und ich sehe ganz deutlich, an welchen Stellen die Kirchen eine Umwandlung in eine demokratische Institution verweigert haben, wofür sie jetzt die Quittung bekommen. Ende der 1980er-Jahre gab es beispielsweise eine starke Frauenkirchenbewegung in der Schweiz. Nachdem ich dort an einem Treffen teilgenommen hatte, hielt ich in der Evangelischen Erwachsenenbildung in Freiburg einen Vortrag über meine Ideen, wie „Frauenkirche“ die Institution verändern könnte (und dringend müsste). Es bildete sich eine Gruppe, und wir organisierten einen ersten Frauengottesdienst („von Frauen für alle“), in dem wir aus den starren Bankreihen heraustraten und so mehr Bewegung, Kontakt und Freude an der Gemeinschaft möglich machen wollten.

In der Evangelischen Erwachsenenbildung Freiburg gab es damals sehr viele engagierte Gruppen, es gab Studienreisen zu interessanten neuen Projekten, dieser Ort wurde unter anderem auch eines der Zentren in Deutschland für die Vermittlung des italienischen Geschlechterdifferenzdenkens. Die Matriarchatsforscherin Gerda Weiler hielt dort ebenfalls Workshops ab. In einer der Gruppen lasen wir das „Schwarzmondtabu“ von Jutta Vogt und wünschten uns, dass die Autorin auch einmal zu einem Workshop kommen sollte. Die Leiterin der Evangelischen Erwachsenenbildung berichtete daraufhin, dass ihre Arbeit von den Kirchenvertreter:innen mit großem Misstrauen gesehen wurde und dass sie ganz bestimmt ihre Stelle verlieren würde, wenn sie diese Autorin einladen würde. Wenige Jahre später bekam sie dann auch die Kündigung, und aus einem großartigen Denk-Ort mit weitem Horizont wurde wieder das, was sich die Kirchenoberen wünschten. Sie nannten es, „Rückkehr zu dem eigentlichen Sinn der evangelischen Erwachsenenbildung, ein Ort der Verkündigung zu sein“. In dieser Zeit wurde in ganz Deutschland mehreren herausragenden Denkerinnen gekündigt, die bei der Kirche beschäftigt gewesen waren.

Es ist bekannt, wie schwer es die Feministische Theologie an den Universitäten hatte. Ein besonders schmerzliches Beispiel ist die „Bibel in gerechter Sprache“, über die ich mich so sehr gefreut hatte. Sie wurde schlecht gemacht, ignoriert, wer sie im kirchlichen Zusammenhang einsetzte, konnte Schwierigkeiten bekommen. Ihr Geld investierten die Kirchen lieber in die Unterstützung von anderen neuen Bibelübersetzungen, die das allgegenwärtige „Herr“ beibehielten, das Luther für den ursprünglich unaussprechlichen Gottesnamen, für den es aber unterschiedliche Umschreibungen gegeben hatte, verwendet hatte. Von den vielen Aufbrüchen der Kirchentage kam auch kaum etwas in den Gemeinden an. Nur wenige der neuen Lieder wurden übernommen, und vor allem nicht die, die auch weibliche Erfahrung thematisierten.

Der Anlass für meinen damaligen Kirchenaustritt war, dass ich mit einer Kollegin zusammen bei einer Studienreise des Religionspädagogischen Instituts nach Israel an einem Abend über Gerda Weilers Buch „Das Matriarchat im alten Israel“ berichten wollte, wofür wir dort vor allem in den Ausgrabungsstätten viel Bestätigung gefunden hatten. Mit eigenen Augen hatten wir gesehen, dass die Jahwe-Religion viele Kultstätten auf den älteren errichtet hatte, die sie manchmal nur teilweise zerstörte und ihre Bruchstücke wiederverwendete. Darüber einen Abend zu gestalten, wurde uns nach einigem Hin und Her und eher widerstrebend erlaubt. Doch am nächsten Tag brachte einer der leitenden Pfarrer im Rahmen seiner Andacht seine vorurteilsbeladenen Gegenargumente vor. Effektiver konnten Gespräche über eine Öffnung gegenüber den kirchlich so verpönten Erkenntnissen der Matriarchatsforschung nicht abgeblockt werden. Hätten die Kirchen damals nicht entschieden, weiterhin die Augen davor zu verschließen, wie brutal Vertreter monotheistischer Religionen ihre Vorgängerreligionen denunziert, dämonisiert, zerstört und ihre Anhänger:innen verfolgt und oft auch getötet haben, wäre längst ein Schuldbekenntnis gegenüber den alten Religionen fällig gewesen, die ja nicht zufällig überwiegend Mutter-Religionen oder Mutter-Erde-Religionen waren.

Bedauerlich an meinem Kirchenaustritt war für mich zunächst nur, dass ich das Fach Religion nicht mehr unterrichten konnte. Denn an den Hauptschulen mit all seinen „Heidenkindern“ war dieses Fach ein Raum, um wirklich mit den Kindern und Jugendlichen über das zu sprechen, was ihnen auf den Nägeln brannte. Zum Glück hatte ich in der Zeit eine katholische Kollegin, die eine ähnliche Einstellung zu diesem Fach hatte wie ich. Fast alle meine Schülerinnen und Schüler besuchten ihren Unterricht, auch die evangelischen, und das am Nachmittag!

Durch den letzten Artikel meiner Redaktionskollegin Anne wird mein Blick noch auf eine weitere falsche Weichenstellung der Kirchen gelenkt, die auch etwa 30 Jahre zurückliegt. Ebenso wenig wie beim staatlichen „Zusammenwachsen“ nach dem Mauerfall ist es den westdeutschen Kirchen gelungen, die Menschen in den neuen Bundesländern so einzuladen, dass sie mit ihren Erfahrungen und Perspektiven, mit ihrer Bereitschaft zum Engagement für etwas Neues willkommen waren. Beispielsweise hätte damals schon aus Konfirmationsunterricht bzw. Firmunterricht und Jugendweihe ein neues Angebot geschaffen werden können, das nicht das Ziel hatte, den Jugendlichen die Kirchengemeinden schmackhaft zu machen, sondern sie in einer für sie schwierigen Zeit zu begleiten, eine Haltung, bei der zumindest meine Gemeinde inzwischen angekommen ist. Auch hier gab es, wenn überhaupt, nur eine Einladung zu den eigenen Bedingungen. Und das, obwohl gerade die evangelischen Kirchen der DDR als vorherige Versammlungs- und Rückzugsorte für die sich bildenden Widerstandbewegungen sicher viel von ihren Erfahrungen hätten einbringen können, was den westdeutschen Kirchen bei einem Aufbruch in Richtung Zukunft hätte helfen können.

Eine Vision am Ende unseres Denk-Gesprächs über die Kirche war, dass aus ihr ein Raum werden könnte, von dem niemand ausgeschlossen wird (so wie es die Quäker praktizieren), eine „nicht-esoterische spirituelle Gemeinschaft“ wie eine es ausdrückte, oder auch ein „Raum ohne Christentum“, also ohne das, was die Kirchen jetzt als das Christentum vor sich hertragen.

Autorin: Dorothee Markert
Redakteurin: Juliane Brumberg
Eingestellt am: 21.06.2023
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Liebe Dorothee
    Ich bedanke mich bei dir für diese deine denkwürdigen Zeilen!
    Ich hatte das Glück, in den 90er Jahren feministische Theologie an der Uni vermittelt durch Oberassistentinnen (Professorinnen gab es damals and er Alma Mater Friburgensis nicht) kennen zu lernen und zu betreiben. Leider wurde sie nicht nur in der Schweiz an den Unis marginalisert und teils abgewürgt. WIe viele Male sass ich als studentische Verteterin in einer Berufunskommission und dann hiess es aus Rom: “Obstat!” Sogar die von uns anlässlich der 100 Jahr-Feier der Fakultät auf den Schild gehobenen Theolog:innen aus dem Weltsüden und -osten bekamen das Placet aus Rom nicht; sodass die theologische Fakultät als einzige am ‘Dies’ ohne Ehrendoktor:innen dastand!
    Hier noch der Link auf das Buch zu 40 Jahren feministischer Theologie und Frauenkirchenbewegung in der Schweiz: https://www.efefverlag.ch/product/maechtig-stolz/
    Herzlich
    Esther.

  • Anne Newball Duke sagt:

    Liebe Dorothee, vielen Dank für den Artikel… ich komme momentan immer wieder auf die sicher verkürzte und polemische Frage: versuchen Frauen – gerade feministische – eine Institution zu verändern, die ein komplett patriarchales Gerüst hat, sowie auch ein patriarchales Dach… und ist es nicht doch immer wieder vertane Zeit feministischen Wirkens? Dann wieder diese Sätze, die ich versuche zu verstehen: “genährt durch Gemeinde, Gottesdienste und Kirchenräume”… ist auch hier nicht so viel patriarchal angelegt; die Gottesdienste… wenn ich mal einem beiwohne, bekomme ich immer große Augen… und die Liedtexte… machen da Frauen die ganze Zeit die Ohren zu, wenn da die ganze Zeit irgendwas mit “Herr” erklingt? Sehen/hören sie darüber hinweg? Oder bleibt da oder ist da diese ewige Schizophrenie und Ambivalenz, und sie lernen damit umzugehen?
    Circa 1990 waren etwa zwei Drittel meiner Schulkamerad*innen in der Kirche und ließen sich drei Jahre später konfirmieren; ihre Eltern wählten zumeist Kohl. Das alles ein Jahr nach der Wende. Das schien es im Sonderdoppelpaket zu geben. Kohl plus Kirchenbeitritt. Ich glaube, viele wollten schnell gleichwertig Bundesbürger*innen werden, und das war ein Versuch, das zu werden. Eine meiner damaligen Freundinnen war schon vor der Wende in der Kirche aktiv, die meine ich nicht. Aber all die anderen… ich verstand es einfach nicht, diese komplette Neuausrichtung im (politischen) Denken und Glauben. Ich fand es nicht echt, mir fehlte hier bei so vielen der Wille zu echten Auseinandersetzungen. So ein 180-Grad-Wandel kann doch nicht reibungslos ablaufen! Aber gut, es gab für mich und jene, die etwa 1993 auch noch die Jugendweihe machten, keine richtige Gemeinschaftsarbeit mehr, die fand jetzt in den Kirchen statt (wahrscheinlich), das stimmt schon. Und vielleicht erlebten meine Schulkamerad*innen da eine neue Form von Gemeinschaft. Ich konnte nur diese reibungslose Hingabe in genau DIESES neue christliche Setting einfach nie begreifen.
    Meine große Tochter ist jetzt 15 und vermisst Gemeinschaft. Für sie kam Konfirmation nicht in Frage, auch wenn sie die Gemeinschaft, die die anderen haben, beneidet. Jugendweihe wird hier in Baden-Württemberg irgendwie nur an einem Ort angeboten, der mehr als eine Stunde von uns entfernt ist, das kam für uns auch nicht in Frage. Wir suchen momentan nach alternativen Wegen, um sie in der Erwachsenenwelt doch noch irgendwie mit einem schönen Ritual willkommen zu heißen. Das Labyrinth in Zürich habe ich gerade im Blick… :)

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