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Diskussionen über Gender und sexuelle Differenz, Teil 1

Von Antje Schrupp, Chiara Zamboni

Die Philosophinnengemeinschaft Diotima in Verona hat im vergangenen Winter eine Online-Veranstaltungsreihe zum Thema „Gender und sexuelle Differenz – Blicke und Worte im Übergang“ veranstaltet, die teilweise bei Youtube im Kanal „I Video del Circolo Della Rosa“ angeschaut werden kann. Katrin Wagner und ich haben uns zusammen zwei der Diskussionen angeschaut und darüber diskutiert, und wir dachten, sie könnten auch für andere interessant sein. Geplant sind drei Teile: In diesem ersten Teil geht es um einen Abend mit Christian Ballarin und Chiara Zamboni, im zweiten Teil folgt ein Abend mit Annarosa Buttarelli und Max Simonetto, und in einem dritten Teil folgt ein Versuch, daraus für den deutschen Kontext etwas zu gewinnen.

Mit ihrer Reihe wollten die Diotima-Philosophinnen einen Raum schaffen für Begegnungen, die weniger dazu dienen sollten, Positionen zu beziehen als vielmehr sich gegenseitig zuzuhören. Es ging darum, die Gründe und Argumente der anderen auf sich wirken zu lassen, das heißt, die Referierenden haben vor allem ihre eigenen Positionen und Ideen vorgestellt. Es ging weniger darum, zu diskutieren und einander zu kritisieren, als darum, von der jeweils eigenen Geschichte zu erzählen, vom persönlichen Begehren im Zusammenhang mit dem Thema, Erfahrungen und Gedanken beizusteuern.

Im ersten Video sprechen Christian Ballarin, ein Aktivist vom GLBTQ-Zentrum Maurice in Torino und Chiara Zamboni, Diotima-Philosophin, Professorin an der Universität Verona von Diotima – von ihr gibt es schon Texte hier im bzw-Forum.

Den Anfang machte Christian Ballarin. Er bedauerte in seinem Statement zunächst, dass die Debatte über Gender so ideologisch geworden sei, und betonte die Notwendigkeit, sich mit den subjektiven Positionen von anderen auseinanderzusetzen, ohne sie gleich überzeugen zu wollen. Für linke und feministische Bewegungen seien Begegnung und Diskurs wichtig, auch wenn die Positionen hinterher unterschiedlich bleiben. Es brauche den Willen, „sich gegenseitig als unterschiedliche Subjekte anzuerkennen“ – anders als zum Beispiel in einem Dialog mit Faschisten, wo genau dies der falsche Weg sei.

Nach diesen Vorbemerkungen sprach er von seiner eigenen Erfahrung als trans Mann. Wie für viele trans Personen (nicht für alle) habe für ihn das Konzept „Genderidentität“ zunächst keine Rolle gespielt, der „zentrale Punkt“ seiner Existenz sei vielmehr sein Körper gewesen. Die Auseinandersetzung mit Gender-Konzepten und das Herausarbeiten der Definition einer eigenen Identität („trans Mann“) habe sich im Gegenüber zu realen Begegnungen geformt, vor allem mit dem lesbischen Separatismus im Zentrum Maurice. Obwohl er sich feministischem Denken sehr verbunden fühle, habe er sich über die „harten Positionen“ bestimmter Feministinnen gegen ein breiteres Verständnis von LGBTQ gewundert. Er sieht da einen Unterschied zu den Debatten mit Diotima, wo er sich in seiner Unterschiedlichkeit respektiert fühlt.

Zu vielen politisch umstrittenen feministischen Themen wie etwa Leihmutterschaft habe er keine feste Meinung, sagte Ballarin. „Es gefällt mir, mich auszutauschen, solange es nicht ideologisch ist, sondern auf reale Situationen bezogen und seine eigene politische Geschichte zählt.“ Jede Gender-Identität sei „ein kleiner Käfig“, aber manchmal sei sie notwendig, zum Beispiel um Personenstandseinträge zu ändern. Er beobachtet auch Unterschiede zwischen seiner Generation und jungen trans Menschen, die teilweise andere Wünsche und Ansprüche hätten. Anfangs hätte er Probleme gehabt, sich mit ihnen als Teil einer gemeinsamen Bewegung zu verstehen. Zum Beispiel könne er persönlich schwer nachvollziehen, wie Leute sich als „nicht binär“ verstehen. Doch im Austausch mit diesen neuen Identitäten und den von jüngeren Queers eingebrachten Themen habe er die Möglichkeit gehabt, auch privat mehr zu verstehen.

Chiara Zamboni ging zunächst von der Alltagssprache aus, wo das Wort „Gender“ normalerweise als Bezeichnung von Körpern und von Unterschieden zwischen Männern und Frauen dient. Die Geschlechter „männlich“ und „weiblich“ würden auch heute noch weithin binär verstanden und hätten ja auch in der italienischen Grammatik diese Funktion. Grammatik stellt nach Ansicht von Chiara eine „Metaphysik“ dar, das heißt, sie bringt Aspekte einer Denkweise mit sich, und diese im Fall von Gender stark stereotypen Vorstellungen erzeugen dann wiederum Verhaltensweisen.

Der Feminismus der zweiten Welle habe genau diese Idee, nämlich dass Frauen „weiblich“ seien, in Frage gestellt und stattdessen betont, dass Frauen nicht als „weiblich“ als Gegensatz zu „männlich“ verstanden werden sollten. Damit habe der Feminismus die Geschlechterstereotype in eine Krise gestürzt und „das Frausein von Weiblichkeit“ getrennt, wie Chiara sagt. Dieser Punkt war für viele Frauen damals wichtig, vor allem in den romanischen Ländern. Der angelsächsische Feminismus sei teilweise einen anderen Weg gegangen, nämlich den des Dekonstruktivismus. Während Chiara die Dekonstruktion von Weiblichkeit gut findet, ist sie mit der Dekonstruktion von Frausein nicht einverstanden.

Beide Wege, der „italienische“ und der „angelsächsische“, hätten zum Ziel gehabt, die symbolische Ordnung des Männlichen zu hinterfragen. Aber Chiara wollte „nie den Körper von der Sprache trennen“. Sie glaubt, dass bei diesen unterschiedlichen Wegen auch die sprachliche Differenz zwischen Italienisch und Englisch einen Unterschied macht, eben wegen der „Metaphysik“ der Sprache: Wenn, wie im Englischen, Gegenstände kein Geschlecht haben, sei es vielleicht auch leichter, zwischen Wort und Körper zu unterscheiden und somit auch „Frau“ als etwas Neutrales, Nicht-körperliches zu verstehen. „Dinge sind imprägniert durch Worte, man kann sie nicht losgelöst davon verstehen.“ Chiara sei es jedenfalls immer merkwürdig erschienen, von „weiblichem biologischem Geschlecht“ zu sprechen. Aber im Englischen wurde es so gemacht, und diese Grundtrennung zwischen Sex und Gender hat sich eingebürgert. Für Chiara gibt es aber keine Trennung zwischen Natur und Kultur, sondern eine „gegenseitige Porosität“, wie sie sagt.

In der Frauenbewegung habe sich dann der Gebrauch von „Gender“ als heuristische Kategorie etabliert, um die neutrale männliche Perspektive zu hinterfragen und die Art und Weise, wie Frauen sich einbringen, herauszufinden. Dabei war für die Feministinnen die persönliche Subjektivität wichtig, es ging also darum, sich selbst in eine Beziehung zu der Materie bzw. zum Gegenstand der Forschung zu setzen, es war keine objektive Kategorie. Aber vor allem in der Soziologie wurde die Kategorie „Gender“ dann tatsächlich als objektive Kategorie verwendet, es ging zum Beispiel um das Verhalten von Frauen, das Verhalten von Männern, und damit um Stereotype, also um objektive Beobachtungen, die leicht zu Klischees werden. Teilweise sei eine solche genderbezogene Forschung auch gut und notwendig, zum Beispiel in der Medizin. Aber es ist eben etwas anderes als das heuristische, erkenntnisleitende Anliegen der Feministinnen, wenn sie von sich als Frauen ausgingen.

Die heutige Debatte über Transgender findet Chiara interessant, weil sie bedeutet, über die Geschlechter hinaus zu gehen. „Man spürt, dass ein politisches Anliegen, existenzielle Politik dahintersteht.“ Über die die Beziehung zwischen queerem Aktivismus und dem Denken der Differenz sagt sie: „Wir (Differenzfeministinnen) haben uns dem Konzept von Gender entzogen. Wir sprechen von der sexuellen Freiheit als politische Errungenschaft. Wir haben nach anderen Lösungen gesucht, um die Zuschreibungen von weiblichen Stereotypen und den Vergleich mit den Männern abzulegen.“

Entscheidend für den italienischen Feminismus seien dabei die Arbeiten von Carla Lonzi gewesen, die (in „Wir pfeifen auf Hegel“ 1970) erklärte, dass die Frau nicht in einer dialektischen Beziehung mit der Welt der Männer steht. Es ging also nicht darum, eine Antithese zur vorgefundenen männlich normierten Welt zu formulieren, sondern die Kritik spielte sich auf einer anderen Ebene ab. Chiara: „Das war der Moment einer neuen Freiheit. Es ging nicht darum, eine neue Identität zu finden, sondern sich selbst mit anderen Frauen zu konfrontieren – und nicht mehr mit den Männern.“ Der Begriff „Separatismus“ sei für diese Art von politischem Aktivismus eigentlich der falsche Ausdruck, weil es nicht darum ging, sich von Männern zu separieren, sondern darum, sich privilegiert auf Frauen zu beziehen.

Wenn man den Schwerpunkt auf Beziehungen und politische Praktiken legt, ist es nicht notwendig, zu definieren, was eine Frau ist. Es bedeutet, in Form von Beziehungen in der Welt präsent zu sein, sich selbst ins Spiel zu bringen, sich des Privilegs des Frauseins bewusst zu sein. In der Welt und in den Beziehungen mit der Welt sind die eigenen Beiträge ja für alle da, auch für die Männer und alle anderen und die Welt. Chiara: „Frausein ist eine Praxis, die man selbst verkörpert, aber keine Identität, die man definiert. Erkenntnisse entstehen aus den Beziehungen unter Frauen, aber sie zirkulieren dann unter allen und in der Welt.“

Der Feminismus der sexuellen Differenz gehe „nicht aus von einem Überflieger-Blick, von dem aus man Frauen, Männer, Trans, Cis, Lesben und so weiter sieht, so als ob man selbst von woanders kommt. Sondern wir sind hier, wir haben eine Position, von der aus wir sprechen, und diese Position lautet, eine Frau in Beziehungen sein. Sie entsteht aus der Position, Tochter einer Frau zu sein, das heißt, wir entstehen aus einer Beziehung heraus.“

Hier brachte Chiara die Formulierung „Wiege der Worte“ ein. Wir sind bei der Geburt nicht aus dem Nichts in die Welt eingetreten, sondern kamen bereits „gedacht“ zur Welt, von Mutter, Vater, anderen. Irgendwann haben wir uns dann von diesen Konzepten gelöst und gesagt: Ich mache etwas anderes, entsprechend dem eigenen Begehren. Aber dieser Unterschied, den wir machen, ist nur möglich, weil uns andere Leute zuvor schon gedacht haben und Worte gegeben haben. Wir wurzeln in den Gedanken der anderen, und genau diese Gedanken ermöglichen es uns erst, woandershin zu gehen. Wir haben also das Glück, dass wir eine „Wiege der Worte“ hatten, die uns ermöglicht hat, unserem eigenen Begehren zu folgen.

In die aktuellen Diskussionen über Gender geht Chara mit zwei Positionen: Sie ist dagegen, natürliches und sprachliches Geschlecht voneinander zu unterscheiden, weil Körperliches und Konzeptliches kein Gegensatz ist. Sexualität entsteht ihr zufolge aus Worten, weil Menschen aus körperlichen und sprachlichen Wurzeln gleichzeitig entstehen. Zweitens ist sie der Ansicht, dass Sexualität viel mehr ist als Geschlecht. Sexualität überschreitet den geschlechtlichen Körper weit. Deshalb widerspricht Chiara jenen, die behaupten, dass alles eine Folge sprachlicher Konstruktion sei: „Mein Körper ist nicht ‚meiner‘, er überschreitet das, was meine Sprache damit machen kann.“ Dieses Spiel und der „unbewusste Körper“ hätten ihre eigene Modalität, sich auszudrücken, die nicht eine sprachliche Ebene ist, sondern ein körperlicher Ausdruck, eben „die Durchlässigkeit zwischen Natur und Kultur“.

Schließlich formulierte Chiara noch eine Kritik am Konzept der „Zwangsheterosexualität“, da es die Kritik an der Position des weißen heterosexuellen cis Mannes ins Zentrum stellt und die Differenzen weiblich, trans, queer und so weiter davon abgrenzt. Dieses Opposition bleibe schwach. Differenzfeministinnen bestreiten, dass Frauen eine Minderheit sind, und daher haben sie das Konzept der staatlichen Sorge für die Bedürfnisse der Frauen (etwa in Form von Gleichstellungsgesetzen) abgelehnt. Wichtig sei vielmehr der Reichtum der eigenen Erfahrung gewesen und der Wunsch, diesen in die Welt zu bringen und dort sichtbar zu machen. Chiara glaubt, dass auch die LGBTQ-Bewegung davon lernen kann, also eher die Erfahrung der Reichtums des Eigenen zu betonen und der Welt anzubieten und die eigene Differenz mehr als schöpferische Kraft zu sehen, die fähig ist, Neues zu schaffen, als sich als schutzbedürftige Minderheit zu verstehen, die Rechte und Anerkennung fordert.

Christian Ballarin antwortete darauf, er dass er auch nicht den Begriff „Minderheit“ benutzt. Er beklagte, dass es auch innerhalb der queeren Bewegung häufig Polarisierungen gibt, dass Menschen Pro und Contra LGBTQ eingeordnet werden und dass es manchmal an Toleranz für andere Meinungen fehlt. Es gebe aber Institutionen, die klare Definitionen brauchen, die zwar oft nicht viel mit der Realität zu tun hätten, aber in diesem Rahmen sei es dann eben doch notwendig, Genderidentitäten zu definieren: „Wenn ich ein Gesetz mache, das eine Person vor Angriffen schützen soll, dann brauche ich irgendeine Definition dafür, für wen es ist.“ Dies sei zwar ein Käfig, aber gleichzeitig auch ein Instrument, daher sollten wir „elastisch sein“.

Konkret stelle sich diese Frage etwa beim Thema Zugang zu Frauenschutzangeboten. Als konkretes Beispiel nannte er eine Hilfseinrichtung für Frauen, die Opfer von sexueller Gewalt wurden, und in denen trans Frauen nicht geholfen wurde. „Natürlich hat niemand Lust, in einen Käfig gesperrt zu werden, aber wenn solche Probleme entstehen, ist es notwendig, über die Definitionen von Gender zu sprechen.“ Er könne Chiaras Position konzeptionell verstehen, aber in der Realität gebe es Situationen, wo er das nicht akzeptieren kann, zum Beispiel eben, wenn Opfer von Gewalt keine Hilfe finden. Oder, ein anderes Beispiel, das er selbst erlebt hat: Wenn ihm von Feministinnen vorgeworfen wird, er würde, weil er ein trans Mann ist, „das Patriarchat repräsentieren“, könne er sich auch nicht vorstellen, was das mit „freier Bedeutung der sexuellen Differenz“ zu tun hat.

Chiara stimmt ihm in diesen Problembeschreibungen zu, plädierte aber dafür, auf nicht-formale Austauschformen zusetzen, also darauf, einander zuhören usw. und es „horizontal“ zu machen, anstatt „von oben“ Hilfe zu holen.

Autorin: Antje Schrupp, Chiara Zamboni
Eingestellt am: 09.04.2022
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Bettina sagt:

    Hallo und vielen Dank für diese Einblicke. Das ist ein Thema, was mich auch sehr bewegt. Ich habe noch eine Frage: Wie kann mensch sich dem Konzept von Gender entziehen? Die Idee weiblich von Frausein zu trennen ist auch meine herangehensweise. Aber sind ,wir‘ damit vielleicht gescheitert? Meine jüngeren queeren Freund*innen finden das. Deshalb wollen sie sich gar nicht mehr binär einordnen lassen… Also was denkt ihr?

  • Antje Schrupp sagt:

    @Bettina – was meinendsie denn mit “gescheitert”? Wer ist inwiefern gescheitert? Ich empfinde in Zusammenhang mit dem Differenzfeminismus immer noch eine große Freiheit, zum Beispiel darin, dass ich keinerlei Bedürfnis habe, mein Geschlecht zu definieren oder darüber nachzudenken, was Frausein ausmacht und so weiter. Und auch der Blick auf die Norm des Männlichen ist einfacher, weil ich nicht erklären muss, inwiefern Männer Sachen anders machen als Frauen und so weiter, ich kann einfach die Differenz markieren: “Ich (Antje, eine Frau) bin nicht einverstanden, sehe das anders, erkenne das nicht an…”. Das meine ich mit “dem Konzept Gender entzogen”, seit ich diese Freiheit in den Beziehungen unter Frauen entdeckt habe, ist es nicht mehr als ein äußerliches Ärgernis, wenn mich jemand “gendert”, sozusagen, also es berührt mich nicht mehr innen. Natürlich ist es objektiv uU gefährlich als “weiblich” gelesen zu werden, aber mein Selbstbild berührt das nicht mehr.

  • Bettina Schmitz sagt:

    Vielen Dank für den Hinweis und für die Zusammenfassung, den Bericht !

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