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„Wie das menschliche Geschlechtliche gedacht werden kann“

Von Antje Schrupp

Andrea Günter: Philosophie und Geschlechterdifferenz. Auf dem Weg eines genealogischen Geschlechterdiskurses, Verlag Barbara Budrich 2022, 274 Seiten, 29,90 Euro.

Diskussionen über die Bedeutung von Geschlecht werden derzeit wieder besonders unversöhnlich geführt, auch innerhalb des Feminismus. Beim Aufeinanderprallen von Positionen wird dabei nur selten berücksichtigt, dass Konzepte von Geschlechtlichkeit keine ideologischen Wahrheiten darstellen (können), sondern historisch eingebettet sind in Diskurse und Traditionen. Das wurde hier im Forum kürzlich schon in dem Gespräch zwischen Chiara Zamboni und Christian Ballarin angesprochen.

Andrea Günter – die auch regelmäßige Autorin in diesem Forum ist – lädt in ihrem aktuellen Buch dazu ein, sich diesen Differenzen aus einer philosophiegeschichtlichen Perspektive zu nähern. Sie bezieht sich dabei vor allem auf die Geschlechtertheorie des Aristoteles sowie die Kritik von Simone de Beauvoir. Aristoteles hat mit seinem Buch „Die Zeugung der Geschöpfe“ die abendländische Vorstellung von Geschlechtlichkeit stark geprägt. Allerdings ging es ihm weniger darum, Geschlecht zu definieren, sondern es war eher andersherum: Die reproduktive Differenz der Menschen – also ihre Unterschiedlichkeit in Bezug auf die Fortpflanzung – diente Aristoteles als Folie, um daraus eine innere Logik der gesamten Welt abzuleiten. Deshalb, schreibt Günter, „handelt es sich bei Aristoteles‘ aktiv-Männer-passiv-Frauen-Dualismus auch nicht um ‘soziale Konstrukte’, sondern um metaphysische. Dieser Dualismus war für Aristoteles keine ‘natürliche Wahrheit’, sondern eine metaphysische, denn Aristoteles wollte mit seiner Theorie weder eine Gesellschaft begründen noch gesellschaftliche Rollen und Arbeitsteilungen definieren, sondern eine Metaphysik.“ (S. 41)

Der Dualismus, der daraus folgt, war aber keineswegs die einzige oder auch nur vorherrschende Geschlechtertheorie in der Antike, wie Günter am Beispiel von Parmenides oder Platon zeigt. Beide vertraten andere Konzepte, beide argumentieren – wie man heute sagen würde – weniger „binär“, sondern gehen vielmehr von geschlechtlichen Variationen und auch Spektren innerhalb der Oberkategorie der Menschen aus.

Mit ihrer genealogischen Herangehensweise widerspricht Günter der Vorstellung, dass Neugeborene im Moment der Geburt aufgrund von äußerlichen Genitalien ein bestimmtes Geschlecht sozusagen willkürlich zugesprochen würde: „Ein Geborenes stellt nicht bloß ein Individuum dar, das irgendwie bei der Geburt vom Himmel fällt, es ist auch in Bezug auf seine geschlechtliche Identität mehr als körperliche Ausstattung und der Umgang, den eine Gesellschaft mit dieser pflegt. Es ist im Moment der Geburt selbst eine Kombination aus weiblich und männlich.“ (S. 39)

Wir werden nicht nur in Familien und Gesellschaften hineingeboren, sondern auch in Kulturen mit bestimmten Geschlechterkonzepten. Und deshalb ist auch unser Geschlecht bereits in gewisser Weise „gedacht“. Auch hier ist eine Parallele zu den Ausführungen von Chiara Zamboni, die von einer „Wiege der Worte“ spricht, in die Menschen bei ihrer Geburt bereits hineingebettet sind. Eine Geburt ist, wie Günter schreibt, ein „Neuanfang inmitten“.

Ein Problem ist auch, dass Geschlechterdiskurse heute von soziologischen und politischen Perspektiven dominiert sind, wohingegen philosophische Aspekte kaum zur Sprache kommen. Es geht aber nicht in erster Linie darum, was Frauen und Männer tun. Unangemessen ist es auch, wenn soziologische Konzepte von heute auf andere historische Epochen übertragen werden, etwa die Unterscheidung zwischen „Natürlichem“ und „Sozialem“. Für Gesellschaften, die diese Unterscheidung gar nicht treffen, ergibt das schlicht keinen Sinn. Wenn wir Aussagen von Frauen aus anderen Zeitepochen innerhalb unserer Interpretationsraster lesen, werden wir sie systematisch missverstehen.

Günters Hinweis auf die historische Komponente von Geschlechterdiskursen bietet auch eine Erklärung dafür, warum heute die Diskussionen über Geschlechterkonzepte so ideologisch und emotional aufgeladen und hartnäckig geführt werden. Denn es geht eben nicht einfach nur darum, neue Vorstellungen von Frauen und Männern, von Männlichkeit und Weiblichkeit zu entwickeln, sondern es wird damit die grundlegende Metaphysik unserer Kultur in Frage gezogen. Es steht also viel mehr auf dem Spiel als nur das Verhältnis der Geschlechter oder die Rolle der Frauen in der Gesellschaft. Deshalb so fordert Günter, muss das Thema eben nicht nur politisch oder soziologisch bearbeitet werden, sondern vor allen Dingen auch philosophisch.

Worum es dabei letzten Endes geht, ist die Frage, „wie das menschliche Geschlechtliche gedacht werden kann“ (S 72). Dafür gibt es nicht die eine richtige Möglichkeit, sondern es ist legitimer Gegenstand des politischen und philosophischen Diskurses. Die Frage lautet nicht, wie es ist, sondern wie wir es wollen: Wie wollen wir das menschliche Geschlechtliche denken? Egal wie man diese Frage beantwortet, es ist fatal, wenn so getan wird, als wäre die eigene Auffassung die einzige objektiv wissenschaftlich begründbar richtige. Das ist bei philosophischen Konzepten immer falsch.

Andrea Günter spricht hier von einer „Ontotheologisierung“ des Geschlechterdenkens (S. 95), das heißt, Geschlechterkonzepte werden gewissermaßen „wie Gott“ konzipiert, als absolute, bedingungslose Angelegenheit. Aristoteles ordnet die von ihm behauptete Zweigeteiltheit der Geschlechter gewissermaßen der Natur vor und über, erklärt sie eben zur Metaphysik. Und genau diese Art der Ontotheologisierung nicht von Geschlecht sondern von einem bestimmten Geschlechterkonzept erkennt Günter auch in den gegenwärtigen Debatten wieder, wo bestimmte Überzeugungen ebenfalls zu einer Glaubensfrage gemacht werden, anstatt zu verstehen, dass Geschlechterkonzepte innerweltliche Angelegenheiten sind und damit historisch und genealogisch in einen bestimmten Kontext eingebettet und nicht für die Ewigkeit.

Das Problem dabei ist nicht nur, dass feministische Debatten in fruchtlosen Anschuldigungen versanden. Absolut gesetzte Geschlechterkonzepte verleiten dazu, die realen Beziehungen und die realen Verhältnisse in der Welt zu übergehen oder sich gewissermaßen zurechtzubiegen: „All das, was damit einhergeht, dass Menschen in Form von Generationen zeugen, gezeugt sind und leben, wird nicht bloß zur Nebensache, sondern regelrecht zu einer Gefahr, die das vorbestimmte Wahre beständig in Frage stellt: konkrete Beziehungen, Angewiesenheiten, Abhängigkeiten, hilfreiche Gewohnheiten, das Zeugen eines bestimmten Paares, das Gebären eines bestimmten Kindes, das Sorgen für ein bestimmtes Kind, die Liebe zu einer konkreten Person, die Pluralität der Menschen und die Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungen. Denn sich an diesen Parametern des erfahrbare und gelebten Lebens zu orientieren geht damit einher (wie) von ‘Gott’ abzufallen: sei es dass man Angst vor eigener Sündhaftigkeit hat, sei es, dass andere jemandem Gottlosigkeit vorwerfen.“ (S. 95)

Hilfreich dafür, diesen Prozess zu analysieren und feministisch zu hinterfragen, ist nach wie vor Simone de Beauvoir. Freilich nur, wenn man sie im Original liest, schließlich führt im Deutschen schon der falsch übersetzte Titel auf eine gänzlich falsche Fährte: „Das andere Geschlecht“ bekräftigt ja die aristotelische Binarität; es gibt das eine und das andere und dazwischen nichts. „Le deuxième Sexe“, das zweite Geschlecht also, wie der Titel im Original lautet, baut gerade keinen Gegensatz auf. Das Zweite ist nicht das Gegenteil vom Ersten, sondern gesellt sich dazu, eröffnet eine Reihe, in der theoretisch auch ein drittes, viertes oder fünftes folgen könnte.

In ihrer Neuübersetzung von Simone de Beauvoirs Buch übertragen Uli Aumüller und Grete Osterwald (Rowohlt 1992) zudem Beauvoirs Formulierung „la différenciation sexuelle“, also „das geschlechtliche Differenzieren“, einfach als „Geschlechterunterschiede“, was aber etwas vollkommen anderes ist. Denn es geht gerade nicht um Geschlechterunterschiede, sondern um die Art und Weise einer geschlechtlichen Differenzierung. Günter schreibt dazu: „Diese Neuübersetzung scheint ein Symptom für den Verlust des Bewusstseins dessen zu sein, dass vielfältige und divergierende Geschlechterkonzepte verschiedene Dimensionen des Geschlechtlichen erschließen und entsprechend sortiert und kombiniert werden können, statt der Definition eines einzig richtigen Begriffs hinterherzujagen. Dass Beauvoir mit ‘sexuelle Differenzierung’ einen neuen Begriff für Geschlechterdiskurse einführt, den es zuvor so nicht gab, fällt indessen ganz unter den Tisch …. Wenn Beauvoirs Theoreme nunmehr mit dem Begriff ‘Geschlechtsunterschied’ identifiziert werden, wird die Besonderheit des französischen Differenz-Diskurses und die Verwendung des Begriffs ‘sexuelle Differenz’ gänzlich unsichtbar gemacht. Dabei verdeutlicht gerade das Konzept ‘sexuelle Differenzierung’, dass mit ‘Differenz’ nicht Andersheit gemeint sein kann, das Weibliche also nicht länger als Anderes zum Eigentlichen markiert werden soll. Denn von einer Differenzierung zu sprechen beinhaltet, von einem Gebilde auszugehen, das in sich differenziert, ist differenzierbar wird sowie wie weitere Differenzierungen bewirkt.“ (S. 60)

Günters Buch ist eine sehr gute Grundlage, um im aktuellen Geschlechterdiskurs weiterzukommen. Es hilft zu verstehen, dass die Tendenz, aus Geschlechterdebatten Glaubenskriege zu machen, in der abendländischen Tradition schon historisch verankert und angelegt ist. Wir müssen tatsächlich viel mehr „dekonstruieren“ als nur Geschlechterkonzepte, beziehungsweise: Immer wenn wir über Geschlecht diskutieren, geht es ums Ganze, denn Geschlechterphilosophie ist in der abendländischen Tradition eben immer zugleich Metaphysik.

Allerdings ist das Buch keine leichte Lektüre, sondern erfordert teilweise philosophische Vorkenntnisse und vor allem die Bereitschaft sich in eine akademische Sprache einzuarbeiten. Wer diese Mühe auf sich nimmt, wird aber mit zahlreichen Anregungen und Erkenntnissen belohnt.

Autorin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 18.04.2022
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Gudrun Nositschka sagt:

    Was hätte Aristoteles wohl geschrieben, wenn er das gewusst hätte, was wir heute in Bezug auf die “reproduktive Differenz der Menschen – also ihre Unterschiedlichkeit in Bezug auf die Fortpflanzung” – dank der Forschungsergebnisse zur Bedeutung der Gebärmutter für die Fortpflanzung wissen? Ob er zu seiner Zeit bereit gewesen wäre zu schreiben “aktiv-Frauen-passiv-Männer-Dualismus?”

  • MartinM sagt:

    Aristoteles konstruierte den “akiv-Männer-passiv-Frauen”-Gegensatz ja ganz bewusst als Grundlage seines metaphysischen Systems, in deutlicher Abgrenzung zu seinem Lehrer Plato, der zwar auch patriarchal dachte, aber eben nicht dualistisch. Aus Platons Dialogen lässt sich erkennen, dass für ihn Homo- Bi- und wahrscheinlich auch Intersexualität völlig selbstverständlich war. Aristoteles bevorzugte “klare Verhältnisse”, was übrigens auch für seine “Politik” gilt: die Monarchie ist für ihn die beste Staatsform.

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