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Dass die Welt wohnlich für alle wird

Von Anne Lehnert

Die Welt wohnlich zu machen für alle, ist ein Anliegen, das Ina Praetorius schon lange verfolgt und, zum Beispiel im Bild des Aufräumens und im Bild von der Welt als Haushalt, seit etwa der Jahrtausendwende formuliert hat. (Zum Beispiel in: Ina Praetorius: Handeln aus der Fülle. Postpatriarchale Ethik in biblischer Tradition. Gütersloh 2005.)

Zu ihrem 65. Geburtstag im März dieses Jahres haben ihr Mann, der evangelisch- reformierte Pfarrer und Exerzitienleiter Hans Jörg Fehle, und die Lektorin Andrea Langenbacher unter diesem Titel eine Festschrift herausgegeben. Nennt der Titel dieses Ziel, so betont das Vorwort die Bedeutung des Da-Seins und Nachdenkens als Ausgangspunkt des Einsatzes für eine solche Welt.

Das Buch ist in fünf Teile gegliedert, die entlang der Biografie von Ina Praetorius Themen und Ansätze ihres Weges entfalten: Einem Text von ihr folgen jeweils Beiträge von Freund*innen und Weggefährt*innen – einige von ihnen schreiben auch regelmäßig hier im Forum.

„Dekonstruieren und Aufräumen“

Im ersten Kapitel geht es um die Arbeit an akademischen theologischen Begriffen. Praetorius beschreibt anhand eines Kunstprojekts, wo sie ein Kreuz von Beton freischlug, die Arbeit daran, den Begriffsbeton abzuschlagen, um den darunterliegenden Sinn freizulegen. Sie denkt darüber nach, was Inkarnation, Auferstehung und Reich Gottes in einer postpatriarchalen, nicht mehr zweigeteilten Welt bedeuten könnten. Dieser Linie folgt auch die feministische Theologin und Publizistin Doris Strahm in ihrem Beitrag über das Neumöblieren von Glaubensräumen. Der Alttestamentler und Asylseelsorger Thomas Straubli betrachtet das Kreuz der Asylsuchenden in der Schweiz des frühen 21. Jahrhunderts, Professorin für Theologie der Frauen- und Geschlechterforschung Anne-Claire Mulder schreibt über die Autorität des Textes „A Woman’s Creed“, den wir vor einiger Zeit hier im Forum auf Deutsch veröffentlicht haben.

„Mit dem Anfang anfangen“

Ist der Begriffsbeton entfernt, wird der Weg frei: Ina Praetorius beschreibt im zweiten Kapitel Geburtlichkeit als neues anthropologisches Paradigma, in Anknüpfung an Hannah Arendt, die mit der Geburt auch den Neuanfang verknüpft, den die Geborenen handelnd verwirklichen können – und das Vertrauen und die Hoffnung, die sie in die Welt setzen können, und sie sich in den Worten der Weihnachtsbotschaft ausdrückt: „Uns ist ein Kind geboren“. Der abstrakten Abhängigkeit von Herrgott oder Vernunft stellt Praetorius die konkrete Abhängigkeit von der Welt und den Mit-Menschen, zunächst von der Mutter, gegenüber.

Praetorius’ Tochter, die Agrarwissenschaftlerin Pia Fehle, und ihr Partner, der politische Anthropologe und Dozent Dominic Blättler, denken anlässlich der Geburt ihrer Tochter Lily über Geburtlichkeit und zukunftstaugliche Landwirtschaft nach, der Sprach- und Literaturwissenschaftler Rainer Stöckli verbindet Bilder des „Auf die Welt Kommens“ mit Gedanken zur Sterblichkeit, Veronika Henschel, die Mitarbeiterin beim Jugendreferat von Mission 21, Basel, der machtkritische Bildungsarbeit wichtig ist, ergänzt Konzepte transformativer Gerechtigkeit und zeigt Möglichkeiten für den Umgang mit Verletzungen auf.

„In postpatriarchale Freiheit hinein“

Im dritten Kapitel widmet sich Ina Praetorius der Dreckarbeit und stellt zehn Thesen zur menschenwürdigen Reorganisation sogenannter Dreckarbeit auf. Die Autorin und Journalistin Julia Fritzsche erzählt, wie sie mit Ina Praetorius und der Weise, wie diese zusammen mit anderen nachdenkt, in Berührung kam – holprig und stolpernd zunächst. Doch trotz aller bestehenden Differenzen benennt sie die erzählerische, ideengeschichtliche Komponente, Diskurs und Sprache, Arbeit an der symbolischen Ordnung als Anliegen, das sie mit Ina Praetorius teilt.

Die feministische Ökonomin Adriana Maestro denkt Arbeit in der postpatriarchalen Freiheit neu, die Philosophin, Politologin und Publizistin Antje Schrupp überlegt, wieso es immer noch nicht gelungen ist, die Dreckarbeit durch technische Lösungen loszuwerden. Sie vermutet, dass der Wunsch nach Hierarchisierung sozialer Beziehungen und nach Dominanz der Grund dafür sind, dass es diese Tätigkeiten überhaupt noch gibt und zieht Parallelen zur Persistenz des Rassismus.

„Ausdruck finden“

Im vierten Kapitel fragt Ina Praetorius, was Bildung ist und was Kinder lernen sollen. „Welches grundlegende Wissen brauchen Menschen, um gut in der Welt zu sein?“ Ausgehend von ihren Erfahrungen in Kindergärten und Schulen in Kinshasa kommt sie zu dem Schluss: „Sie müssen wissen: Es gibt anderswo auch Kinder. Alle brauchen Wasser und Essen, ein Haus und ein Bett, alle spielen und lernen, haben Freundinnen und Freunde, alle haben Angst vor Krieg und Gewalt, alle wollen glücklich sein.“

Diese „Ausrichtung auf das gute Zusammenleben von Milliarden Menschen, die mit unzähligen anderen Lebewesen den fragilen, schönen und großzügigen Kosmos Erde bewohnen, jetzt und in Zukunft“ vertieft Sr. Josée Nagalula, die dogmatische Theologie unterrichtet. Sie beschreibt, wie Erziehung zur Machtausübung missbraucht werden kann – oder auch in den Dienst der Mitmenschen gestellt. Die frühere Landwirtin, pensionierte Pfarrerin und freischaffende Theologin Verena Naegeli schreibt über das gemeinsame Interesse am Austausch mit afrikanischen Theologinnen, Netzwerk-Treffen und die Herausgabe eines Sammelbandes, und die evangelisch-reformierte Pfarrerin Heidrun Suter-Richter steuert neben dem Bericht über das gemeinsame Kochen ein Rezept für Blumenkohl und Linsen bei. Die medizinisch-technische Praxisassistentin Muna Ali Nuur und die Sozialarbeiterin Luiza Lipka-Asatryan berichten im Interview über „Kochen International“, wo sie Ina Praetorius kennenlernten.

Die freie Philosophin Caroline Krüger betont, dass alle Menschen abhängig und hilfsbedürftig zur Welt kommen – und es auch ein Leben lang bleiben – und zugleich zum Anfangen begabt sind. Sie entfaltet Arendts Bild vom „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“, in das jede und jeder eigene Fäden hinzufügen und weiterweben kann. Ausgehend von Luisa Muraros Praxis den Von-sich-selbst-Ausgehens fragt sie, was braucht, um ein tragfähiges Netz zu weben und beschreibt Care als Richtung, Inhalt, Ausdrucksweise und Kriterium des Handelns.

„Wirtschaft ist Care – was sonst?“

Im fünften und letzten Kapitel erläutert Praetorius Care anhand der Definition, die Michaela Moser im „ABC des guten Lebens“ (Ursula Knecht u.a.: ABC des guten Lebens. Rüsselsheim 2012.) formuliert hatte, als das „Bewusstsein von Abhängigkeit, Bedürftigkeit und Bezogenheit als menschliche Grundkonstitution, und zum anderen für konkrete Aktivitäten von Fürsorge in einem weiten Sinne“ – von „Sorgen für die Welt“. Die emeritierte Professorin für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft Uta Meier-Gräwe spricht davon, den Wirtschaftswissenschaften die Leviten zu lesen, die Forscherin zur sozialen Inklusion mit Schwerpunkt Partizipation, Diversität und Demokratieentwicklung Michaela Moser beschreibt ein neues Verständnis von Politik als Care und stellt Soziokratie als Werkzeug vor, um „die Welt miteinander zu einer Behausung zu machen, die ihnen bei allen Grenzen durch Geburtlichkeit, Sterblichkeit, Bedürftigkeit und Verletzbarkeit eine Fülle von Möglichkeiten eröffnet“ (wie sie das von Ina Prätorius formulierte Stichwort Haushalt aus dem ABC des guten Lebens zitiert), die Mutter und freischaffende Autorin Sibylle Stillhart plädiert für ein Müttergeld als „Gefahrenzulage“.

Feline Tecklenburg, politische Ethikerin und feministische Ökonomin, erweitert den Anspruch um „Wirtschaft ist Care ist radikale Demokratie“ und plädiert für ein anderes Politikverständnis und eine andere Arbeitsorganisation. Sie entwirft die Vorstellung eines Lebens, in dessen Mittelpunkt die Sorge füreinander und für die Welt steht.

Biografisches Grundgewebe

Den fünf Kapiteln folgt, nach der Vorstellung der Autorinnen und Autoren, das „biografische Grundgewebe“: Ina Prätorius’ Lebensstationen, ihre Arbeitsweise, vergehende und wiederkehrende Themen und Weichenstellungen. Als Grundmotiv ihrer Arbeit wird die Gnade und bedingungslose Liebe Gottes benannt.

Der Sammelband ist eine gründliche Einführung in das Denken und Wirken von Ina Praetorius. Denen, die damit schon vertraut sind, zeigt er, wie sich ihre in den vergangenen Jahrzehnten veröffentlichten Bücher und Artikel und ihr Einsatz als Referentin und Aktivistin zu einem so vielschichtigen wie stimmigen Ganzen fügen. Vor allem aber laden die Texte von Ina Praetorius sowie die weiterführenden Artikel der beitragenden Autor*innen dazu ein, selbst weiterzudenken und tätig zu werden.

Hans Jörg Fehle, Andrea Langenbacher (Hg): Dass die Welt wohnlich für alle wird. Klartexte, Anfragen, Perspektiven. Ina Praetorius zum 65. Geburtstag, Ostfildern 2021, 38 Euro.

Autorin: Anne Lehnert
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 03.07.2021

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