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Die hyperbolischen, handgehäkelten, herrlichen Riffe der Wertheims in Baden-Baden

Von Jutta Pivecka

Die Schwestern Christine und Margaret Wertheim (*1958 in Australien) verstehen ihre Häkel-Korallen-Riffe als „Wartungsarbeit“. Sie beziehen sich dabei auf die feministische Künstlerin Mierle Laderman Ukeles, die zwei verschiedene Arten von „Arbeit“ unterscheidet: „Entwicklung“ als rein individueller Schöpfungsakt und „Wartung“ als Bewahrung der individuellen Schöpfungen, um ihre Fortsetzung, Erneuerung und Erweiterung zu ermöglichen. 

Durch diesen Bezug auf die Traditionen feministischer Kunst stellen die Wertheims drei Aspekte ins Zentrum ihrer Arbeit: (1) das Sichtbarmachen bisher unsichtbar gebliebener Arbeiten und Kunstformen, (2) eine alternative Sicht auf das Verhältnis zwischen Kunst und Natur und (3) eine Intervention gegenüber den ökologisch zerstörerischen Praktiken der Gegenwartskultur. 

Das Baden-Baden-Riff wird dabei von den Wertheims als ein „Satellit-Riff“ zu ihren ersten gehäkelten Korallen-Riffen verstanden. Im Erdgeschoss in Baden-Baden sind diese Korallen-Riffe, die seit 2005 entstanden sind, ausgestellt. 2019 stellten die Wertheims ihr Crochet Coral Reef auch bei der Kunstbiennale in Venedig vor. Ein riesiges Forstgebiet aus Korallenwälder ist in Baden-Baden zu bestaunen, gehäkelt aus Videobändern, Lametta, verschiedenen Garnen, Absperrbändern, Reißverschlüssen, Kabelbindern.

Einzelne Schaukästen geben Einblick in Pod Worlds, kleine Miniatur-Korallenwelten. Ein toxisches Riff aus überwiegend schwarzem Plastikmüll erhebt sich neben einem weißen Bleech Reef, das den Prozess der Ausbleichung nachbildet, dem die Korallenriffe in den Ozeanen zum Opfer fallen. An den Wänden finden sich Briefzuschriften von Kolloborateurinnen, die an den Riffen mitgewirkt haben, durch ein aufwendig besticktes Tuch werden Mitwirkende, darunter die Mutter der Wertheims, geehrt. Eine Sammlung der Etiketten der unterschiedlichen Garne, die verwendet wurden, dokumentiert, aus wievielen Teilen der Welt die Materialien für die Häkelriffe zusammengetragen wurden. Auf einer überdimensionierten Schultafel wird die hyperbolische Geometrie, die das Häkeln wie die Gestalt der Korallen beschreiben kann, der euklidischen Geometrie, die die meisten von uns in der Schule gelernt haben, gegenübergestellt. 

Die Betrachterin ist schon im Erdgeschoss überwältigt. Überwältig von der Vielfalt an Informationen, Eindrücken, Einblicken, vor allem aber von der Schönheit der hyperbolischen Formen und Farben, vom gewaltigen Überfluss des Wucherns der Unterwasserscheinwelten, die hier entworfen werden. Alle Aspekte, die den Wertheims wichtig sind, verbinden sich beim Betrachten:

-> die Idee von einer Kunst, die nicht den – meist männlich konnotierten – einzelnen „Schöpfer“ und sein “Werk” in den Mittelpunkt stellt, sondern das kollektive Arbeiten an Gemeinschaftswerken, und die nicht den geschlossenen „Werkcharakter“ ausstellt, sondern sich zu ihrer Umgebung in Beziehung setzt, die unmittelbar zugänglich ist für jederfrau; Anschlussfähigkeit sucht und herstellt zum Alltagsleben der Besucherinnen, zu den – meist weiblich konnotierten und als “Kunsthandwerk” abgetanen – Häkelarbeiten.

-> die Häkelriffe sind gleichermaßen traditionelle Mimesis, also „Nachbildung der Natur“ durch die Kunst, als auch deren Reflexion. Denn die Arbeit der Wertheims setzt nicht auf Illusion, sondern schließt an popkulturelle Praktiken der Übertreibung an. Die Präsentation macht den Prozess ihrer Gestaltung und die Verwendung nicht-natürlicher Materialien sichtbar. Die Häkelriffe, die auf die Gefährdung der natürlichen Riffe aufmerksam machen sollen, sind selber künstliche, d.h. menschliche Schöpfungen und erstellt mit eben jenen Materialien, die zur Vernichtung der natürlichen Riffe beitragen. In einer Pod World erwächst aus einer Müllplastikflasche ein neues, künstliches kleine Miniaturriff. 

-> die politische Intervention, die das Projekt sein will und ist, appelliert nicht billig an Moral und bietet keine simplen Lösungen für das ökologische Verhängnis an, auf das sie aufmerksam machen will. Die menschlichen Praktiken, die die Weltmeere verschmutzen und die Korallenriffe vernichten, die von Menschen hergestellten Materialien, die diesen Prozess auslösen, sind eben jene, die die Schönheit (auch die bisweilen schreckliche Schönheit) der Häkelriffe ermöglichen, sie recyceln diese Materialien, um etwas zu schaffen, was die Zerstörung – mindestens – für den Zeitraum eines Ausstellungsbesuchs – zu transzendieren scheint. 

Denn das ist die Dissonanz, denen die Häkelkorallenriffe der Wertheims, zumindest mich ausgesetzt haben: Sie wollen auf eine Tragödie aufmerksam machen, aber zugleich lösen sie Glücksgefühle aus, nämlich die Freude über das Gelingen des Gemeinschaftswerkes und über die überwältigende Schönheit der farbenfrohen Häkelarbeiten.

Im ersten Stock trifft die Besucherin auf das sagenhafte Baden-Baden-Riff, an dem über 4000 Beiträgerinnen, deren Namen an einer Wand aufgeführt sind, mitgehäkelt haben. Man kann sich kaum sattsehen an den vielen Details, die Christine Wertheim hier aus den eingesandten Häkelkorallenarbeiten zu Riffen zusammengestellt hat. 

Baden-Baden-Riff

Ich empfehle den Besuch der wunderbaren Ausstellung in Baden-Baden, die noch bis zum 26.Juni anzuschauen ist. 

Vielleicht, das wäre mein Wunsch, lässt sich, was dort zu sehen ist, verbinden mit jenem Denken von Chiara Zamboni in „Sentire e scrivere la natura“, über das Dorothee Markert in ihrer Serie zu dem Buch schreibt und die eine oder andere, die hier liest, wird inspiriert dazu, diesen Zusammenhang weiterzudenken und dazu zu schreiben…

Margaret und Christine Wertheim: „Wert und Wandel der Korallen“ im Museum Frieder Burda in Baden-Baden bis zum 26. Juni 2022

Autorin: Jutta Pivecka
Redakteurin: Jutta Pivečka
Eingestellt am: 04.05.2022
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Anne Newball Duke sagt:

    Liebe Jutta, Donna Haraway hat schon ein wundervolles Kapitel zu dieser Ausstellung in “Unruhig bleiben” geschrieben. Ich kann ja eh nicht aufhören, dieses Buch einfach jeder zu empfehlen… auch weil ihr Besprechen dieser Ausstellung (ab S. 108 bis S. 113) eingebunden ist in so viele ähnliche Überlegungen zu Möglichkeiten der (Wieder-)Verweltlichung des menschlichen Lebens, angeregt durch Künste, Forschungen, bereits existierende Praktiken usw. usf.
    Und was sie schreibt zu “‘Intimität ohne Nähe” sticken’… oder das: “Das gehäkelte Riff ist eine Praxis der Sorge, ohne dass die Berührung durch eine Kamera oder Hand notwendig wird, es ist keine weitere Forschungsreise. Materielles Spiel schafft sorgende Öffentlichkeiten. Als Ergebnis erhalten wir einen weiteren starken Faden im Holobiom des Riffs: Wir sind nun alle Korallen.” Wer wird da nicht zum Denken angestachelt, angehäkelt ;)? Ich schaue auf jeden Fall, wie ich noch rechtzeitig nach Baden-Baden zur Ausstellung komme, danke für die tolle Besprechung, liebe Jutta!

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