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Rubrik erinnern, erzählen

Der Wasserkocher

Von Silke Kirch

Elfter Beitrag aus der Serie: Küchengeschichte(n) – wie Haushaltsgeräte die Care-Arbeit veränderten und verändern“

Wenn wir in meiner Kindheit in den Urlaub fuhren, hatten meine Eltern einen Tauchsieder dabei, in einer bunten Plastiktasche mit unverwüstlichem 70er-Jahre-Design und Reißverschluss. Beim Wasserkochen unterwegs muss heute keine:r mehr mit einem Tauchsieder hantieren. Was früher eine instabile Kombination aus Wasserglas und Wärmestab war, ist heute eine kompakte Sache aus Kocher, Thermoskanne und Trinkgefäß – alles in einem. Portable Reisewasserkocher für den halben Liter Tee oder Kaffee lassen sich überall per Knopfdruck schnell einsetzen, dank Akku auch ohne Stromnetz: optimal für die existenziellen Grundbedürfnisse moderner Nomaden. Eine sehr tröstliche Gewissheit, finde ich. 

Wie die Telefone haben auch die Wasserkocher einen Weg der Emanzipation von der festen Verkabelung ins mobile Dasein und hin zur ubiquitären Verfügbarkeit hinter sich. Heute beschränkt sich die Verankerung der Wasserkocher in der Küche meist auf die Unterplatte. Abgelöst haben die praktischen Geräte den summenden, pfeifenden Teekessel, der auf dem Herd oder Kohleofen einst Herzstück eines jeden Haushalts war. In meinem Elternhaus gab es einen solchen noch. Das Pfeifen des Teekessels kam durch einen kleinen Aufsatz zustande, eine „Kesselpfeife“, die auf die „Tülle“ aufzusetzen war. Dinge und Wörter, die ich manchmal vermisse. Wasserkocher können mit derlei Alltagspoesie nicht aufwarten.

Zu den Vorläufern der Wasserkocher gehört auch der Wasserboiler, der – fest installiert – schnell und unkompliziert kochend heißes Wasser lieferte, manchmal allerdings auch dann, wenn das gerade nicht gebraucht wurde.  Heute gibt es Wasserkocher in verschiedenen Größen und aus unterschiedlichen Materialien. Kunststoff ist wohl die gebräuchlichste Variante, aber auch Edelstahl oder Keramik-Kocher gibt es, bei denen sich die Kanne kaum von einem edlen Teepott unterscheidet. Und es gibt transparente Wasserkocher, die Einblick geben in das leise aufsteigende Blubbern des siedenden Wassers (eine Reminiszenz an den Boiler), und manche – wie der einer guten Freundin, die ich gerne besuche – leuchten dabei farbig, sodass das Wasserkochen zu einem Event wird. 

Mit dem Wasserkocher lässt sich Wasser effizient erhitzen. Das reicht für die schnelle Mahlzeit, etwa zur Aufbereitung asiatischer Instant-Gerichte, die im trockenen Zustand kaum etwas wiegen und in jede Tasche passen. Aber auch das Kochwasser kann so hergestellt werden, um dann etwa die Nudeln im Topf umso schneller zu garen, wozu Angela Merkel in ihren Energiespartipps aufforderte. Weshalb beim Wasserkochen womöglich immer auch ein wenig Merkel-Nostalgie versprüht wird – oder verdampft. 

In diesem Winter wird der Wasserkocher zu einem der wichtigsten (Haushalts)Gegenstände. Wo beim Heizen gespart wird, sorgt er für wohl dosierte Wärmespenden: Tee aus der Thermoskanne und eine warme Wärmflasche – beides dank Wasserkocher im Handumdrehen hergestellt – umgeben mich samt Wolldecke bei der Arbeit am Schreibtisch. Wasserkocher helfen Frauen beim Überwintern im Patriarchat. Denn die Raumtemperaturen in Büros sind meist an die durchschnittlichen Gegebenheiten männlicher Körper angepasst, wie Jutta Allmendinger mit Hinweis auf eine Studie twitterte [SK1] [SK2] , der zufolge Frauen – anders als Männer – in einer wärmeren Umgebung leistungsfähiger sind. (Dank für diesen Hinweis an Aurora Sauter!) 

Der Wasserkocher bildet wie die alte Feuerstelle den Ort, an dem die Familie, Wohngemeinschaft oder Bürogemeinschaft sich trifft und wiederfindet. Er ist eine Reminiszenz an den heimischen Herd. Sozusagen seine Light- oder To-Go-Version. Wärme und Wärmeherstellung zum Mitnehmen, platzsparend und ohne Aufwand. Es kann nichts anbrennen, es kann nichts überkochen, wir erhalten das erhitzte Wasser wohltemperiert in perfekt abgemessener Menge. Und wenn wir vergessen haben, dass wir gerade Wasser kochen, wird nichts Schlimmes passieren. Denn aus gehen Wasserkocher von alleine. Umkippen, Verkochen oder Anbrennen kann da nichts mehr. 

Vielleicht lösen Wasserkocher den menschlichen Grundkonflikt zwischen Zugehörigkeit und Autonomie mittlerweile auf einzigartige Weise. Perfekt adaptiert an das moderne Nomadendasein bleiben Wasserkocher zugleich zentral für die Gemeinschaft. Wir können zu ihnen hingehen oder sie mitnehmen. Sie lassen uns in Schwingung geraten und verändern den Aggregatzustand – von Wasser und vielleicht auch von uns selbst. 


 [SK1]https://twitter.com/ja_allmendinger/status/1333451223337480193?lang=en

PS: Inzwischen erschienen in der Reihe “Küchengeschichten”:
Der Herd
Der Kühlschrank
Das Bügeleisen
Die Waschmaschine
Der Mixer
Die Getreidemühle
Die Geschirrspülmaschine
Das Handrührgerät
Die Kaffeemaschine
Der Thermomix

Hat eine unserer Leserinnen Lust, einen Text über den Staubsauger, eventuell sogar über die neuen Saugroboter zu schreiben? Wir würden uns über weitere Beiträge freuen! Kontakt: …##…

 

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